24. Oktober 2013
Bricks and Bytes - Vortrag auf der Buchmesse Helsinki
– Es gilt das gesprochene Wort –
In der griechischen Mythologie gibt es eine amüsante Geschichte, die ich an den Beginn meiner Ausführungen stellen will. Eos, die Göttin der Morgenröte hatte eine Vorliebe für gut aussehende Jünglinge. Als sie den schönen Trithonos kennenlernte, verliebte sie sich so sehr in ihn, dass sie Zeus bat, ihm das ewige Leben zu schenken. Zeus entsprach ihrer Bitte. Sie hatte jedoch vergessen, ihn auch um die ewige Jugend zu bitten. So kam es, wie es kommen musste. Der Unsterbliche wurde alt und grau und unansehnlich. Sie wollte nicht länger das Lager mit ihm teilen. Sie verbannte ihn deshalb in ein weit entferntes Zimmer, aus dem nur das dünne Stimmchen zu hören war. Schließlich verwandelte sie ihn in eine Grille, damit wenigstens das Zirpen ihrer Unterhaltung diente. Könnte das das Schicksal der Bibliotheken mit ihrer mehrere Jahrtausende alten Existenz werden – zwar ewig existent, aber letztlich nur noch geduldet oder zur Unterhaltung gut? Es lohnt sich darüber nachzudenken, denn zu viel steht auf dem Spiel. Bibliotheken gelten seit Jahrtausenden als kulturelles und geistiges Fundament der menschlichen Zivilisation. Das schriftlich fixierte Wort, ob in Tontafeln geritzt, auf Papyrus oder Papier geschrieben oder gedruckt, hatte immer einen besonderen Ort. Mit der stetig wachsenden Buchproduktion entwickelte sich parallel eine wachsende Entwicklung des Lesens und eine Vermehrung der Bibliotheken. Im 19. Jahrhundert überwölbten gewaltige Kuppeln die Nationalbibliotheken als Orte nationaler Identität und kultureller Überlieferung, ein umfassender Resonanzboden des Geistes. Längst sind aber die Zeiten vorbei, in denen Bibliotheken das publizierte Wissen nahezu vollständig zur Verfügung halten konnten. Bücher und Informationen werden zunehmend in digitaler Form angeboten und vertrieben, selbst die Printmedien sind heute das Resultat elektronischer Textverarbeitung. Bibliothekssammlungen selbst werden in großem Umfang nachträglich digitalisiert. Kein Zweifel, digitale Publikationen haben attraktive Eigenschaften: beliebige Verfügbarkeit, wahlweise Bereitstellung, flexibler Zugriff, Kombinierbarkeit von Text, Bild und Ton, leichte Aktualisierbarkeit und Interaktivität. Aber es sind auch Probleme damit verbunden: physischer Verfall der Speichermedien, Änderung von Codierung und Betriebssystemen; digitale Publikationen sind nicht unbedingt unveränderlich und öffentlich, sie sind so weit oder so eingeschränkt zugänglich, wie es der Produzent bestimmt. Dies kann zur Gefährdung von dauerhafter Verfügbarkeit, aber auch zu mangelnder Zitierbarkeit digitaler Publikationen führen. In der langen Geschichte von Bibliotheken hat es immer wieder technische Transformationen gegeben. Keine aber war so radikal wie die jetzige. Bei den digitalen Publikationen geht es um mehr als nur um Sichtung, Auswahl und Verwaltung durch Bibliotheken, es geht um langfristige Sicherung des geistigen Eigentums. Entscheidend wird sein, ob es gelingt, für die Öffentlichkeit und insbesondere auch für die Wissenschaft die Vorzüge des digitalen Mediums so mit den Standards der bisherigen materiellen Speicher zu verbinden, dass die Teilhabe am kulturellen Gedächtnis gesichert ist. Schon die kurze Aufzählung der Chancen und Risiken macht deutlich, dass es keinen Grund gibt, das Medium auszuschlagen oder sich zu verweigern, dafür hat es zu viele interessante Möglichkeiten. Digitale Abstinenz seitens der Nutzer lässt sich letztlich auch gar nicht durchsetzen. Entscheidend ist, ob wir nur einfach zusehen, wie sich das digitale Medium als technisches Phänomen entwickelt oder ob wir es in den Dienst der Kultur nehmen. Die Gefahren sind nicht die Folgen des Mediums sondern das Ergebnis unseres mangelnden Umgangs. Gottfried Honnefelder, Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, sagte kürzlich in einem Vortrag zum Umbruch der Kultur des Wissens durch das digitale Zeitalter: „Was ansteht, ist die Nichtreduzierbarkeit von Wissen auf Information, von Kommunikation auf Transfer, von Verstehen auf Speichern und von Schreiben auf das Aneinanderhängen von Informationsmodulen.“ Wir stehen heute am Ende eines differenzierten Prozesses von Artefakten. Das führt zu einem Reichtum von Formen, Qualitäten und künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten. Die wachsende Zahl von Publikationen sollte uns jedoch nicht dazu führen, einfach den Einflüssen von Technik und Ökonomie zu folgen, sondern die jeweiligen spezifischen Qualitäten eines Mediums zu erkennen, zu fördern und zu etablieren. Ein gedrucktes Buch mit seiner Gestaltung, Typographie, haptischen Ausstrahlung und seiner persönlichen Verfügbarkeit hat Werte, die das Zerrbild einer digitalen schwarz-weiß Wiedergabe nie erreichen kann. Es muss aber deutlich gemacht werden, wann solche Werte unverzichtbar oder zumindest vorrangig Berücksichtigung finden sollten, wann sie eine persönliche Bereicherung darstellen. Diese Qualitätsmerkmale herauszuarbeiten sollten sich Bibliotheken und Buchhandel zur Aufgabe machen. Es gibt derzeit eine Kampagne von Verlagen und Buchhandel in Deutschland unter dem Titel „VORSICHT BUCH“, das genau diese Vorgehensweise aufgreift. Es geht darum, den Spaß an Büchern und am Lesen zu vermitteln. Auf humorvolle Art wird die Wichtigkeit des Lesens ins Bewusstsein gerückt und die Bedeutung von Büchern unterstrichen. Als Kulturgüter entführen sie in andere Welten, können Gesellschaften umwälzen und Menschen tief berühren. Der Titel „Vorsicht Buch!“ warnt mit einem Augenzwinkern vor dieser Kraft, die Büchern innewohnt. Im Zentrum aller Maßnahmen stehen dreizehn Printmotive, die mit dieser Macht spielen und sämtliche literarische Genres abdecken – unter dem Motto: „Ein Buch kann Dein Leben verändern“. So bekennt beispielsweise ein netter, korrekt wirkender Herr: „Ich habe Gras angepflanzt. Auf 314 Seiten.“ und spricht dabei über die Lektüre eines Gartenratgebers. Eine Dame verführt Casanova auf 422 Seiten, ein kleiner Junge beschwört Dämonen auf 136 Seiten oder eine junge Frau gibt zu, die Mafia belauscht zu haben – in einem Hörbuch. Eine kreative Gemeinschaftsleistung der gesamten deutschen Buchbranche: Über 1400 Buchhandlungen und über 160 Verlage machen mit. Sie plakatieren ihre digitalen und öffentlichen Räume mit den Motiven und organisieren darüber hinaus Lesereisen, Vorlesereihen in Kitas, Schulen und Kindergärten, Auftritte auf Buchmessen und vieles mehr. Auch das Goethe-Institut macht mit: In unseren sozialen Netzwerken machen wir auf die Kampagne aufmerksam, gerade diesen Monat läuft eine Aktion, bei der wir unsere 80.000 Fans aus aller Welt aufrufen, die Fotos ihrer Lieblingsleseorte hochzuladen. Wie stark die Kampagne wirklich wirken wird, bleibt abzuwarten. Eine hohe Medienresonanz hat sie allemal erwirkt. Die Herausarbeitung der jeweils spezifischen Qualitäten eines Mediums darf nicht auf das gut gemachte und lektorierte Buch beschränkt bleiben sondern muss genau so auch auf die Stärke der digitalen Medien Anwendung finden, sonst geht es uns wie Trithonos. Was ist hier die Aufgabe von Bibliotheken? Digitale Medien werden in der Regel dort bereit gestellt, wo sie entstehen, sind aber jeder Zeit von jedem Ort abrufbar, im Extremfall ist die digitale Publikation einmal auf einem Server im globalen Netz gespeichert. Auf welchem Server sie wie lange gespeichert bleibt, ist eine Einzelentscheidung. Wissenschaftliche Einrichtungen machen sich heute mehr Gedanken um die Lösung lokaler Anforderungen ihrer Internet-Auftritte, weniger um langfristige und international eingepasste Strukturen. Andererseits erwarten die Nutzer von Bibliotheksquellen inzwischen, dass ihnen die kulturelle Überlieferung nicht nur in immer größerem Umfang digital angeboten wird, sondern dass dieses Angebot auch vergleichende, mehrfunktionale und interdisziplinäre Aspekte vermittelt. Dabei soll der Zugriff auf ursprünglich digitale Medien und nachträglich konvertierte digitale Medien gleichartig organisiert sein. Immer mehr setzt sich bei digitalen Publikationen der Trend zur Vergabe von Lizenzen anstelle von Erwerb durch. Das kann in einigen Fällen akzeptabel sein, für eine langfristige Archivierung und Verfügbarkeit bei Bibliotheken ist es jedoch problematisch. Der Lizenzgeber muss deshalb ausdrücklich im Lizenzvertrag dazu verpflichtet werden. Ansonsten überlässt man die kulturelle Überlieferung dem Zufall oder dem Markt. Sinnvoll ist die Bildung von Konsortien, um ein gemeinsames Handeln abzustimmen. In der digitalen Welt erzeugt praktisch jeder Zugriff eine Kopie. Zugreifen ist gleich kopieren. Hier sind deshalb neue Definitionen zur urheberrechtlichen Nutzung des Copyright erforderlich. Der Begriff der Kopie ist dafür wenig geeignet. Die Partner haben zwar eine Vorstellung ihrer eigenen Vorgehensweise und Ziele, aber nur eine geringe der anderen Beteiligten. Auch hier ist eine aktive Rolle der Bibliotheken gefragt. Die Leitlinien zum Aufbau digitalisierter Bibliothekssammlungen als Aktivposten für die Wissenschaft und als Träger unserer Kultur sollten sein: - Die Auswahl und Herstellung digitaler Ressourcen soll sich an Nutzererwartungen orientieren; sie kann auch sinnvoll sein für fragile und schonenswerte Originale. - Sie ist förderlich für Quellen, die inhaltlich zusammengehören, aber auf unterschiedliche Sammlungen verstreut sind. - Die Produktion sollte Kurzzeitlösungen vermeiden sondern höhere technische Anforderungen berücksichtigen (digital master). - Es sollten nur gut unterstützte Technologien zur Anwendung kommen. Unabhängig von den Kriterien wissenschaftlicher Einrichtungen und ihren Anforderungen gibt es in der digitalen Welt eine starke marktbeherrschende Entwicklung großer Internetfirmen, die global agieren. Dazu gehören insbesondere Google und Amazon. Google hat Millionen von Büchern digitalisiert, mit dem Ehrgeiz eine Weltbibliothek zu errichten. Es ist für uns alle dadurch komfortabler geworden. Trotzdem muss man sich eines klar machen: Die Google-Suchmaschine hat die Tendenz, durch die Art und den Grad der Verlinkung kaufkräftige Werbung zu unterstützen und nicht wissenschaftliche oder literarische Relevanz zu betonen. Außerdem werden immer konzentrierter Segmente des Internetangebotes hervorgehoben. Spezielle Themen, neue Ideen, kleine Verlage – gerade der kulturelle Humus – fallen buchstäblich durch das Netz. Avantgarde wird zum Unwort. Amazon wiederum nutzt seine marktbeherrschende Stellung massiv gegen die gerade in europäischen Ländern bestehende Marktstruktur kleiner oder mittlerer Buchhandlungen. Damit verschwindet ein wichtiges Vermittlernetz von Buchkultur und es kommt zu einer kulturellen Verarmung durch Monopolisierung. Die Folgen sind absehbar. Nur die Ökonomie zählt. Pures Management zum Vermarkten und Expandieren ist sicher der falsche Weg. Kultur muss als eigenständige Kraft wirken. Bibliotheken und Buchhandel müssen ihren Bildungsauftrag ernst nehmen. Dabei sollten sie ihre Zukunft nicht in einer technischen Pauschalierung und Einheitlichkeit suchen, sondern in der Differenzierung von Originalen und digitalisierten Angeboten. Aktualität, Umfang und Art der Information sowie bevorzugtes Medium wechseln von Nutzergruppe zu Nutzergruppe. Die Digitalisierung kann uns einen neuen Freiheitsgrad bescheren, der nicht die Verengung auf ein Medium bedeuten muss. Stärke und Einzigartigkeit von Printmedium und digitalem Medium sind darstellbar. Zweifellos bieten digitale Objekte im Netz neuartige Qualitäten. Aber da sind auch die genannten Kritikpunkte. Die Frage stellt sich nicht, ob oder ob nicht, sondern wie Bibliotheken oder auch Buchhandel künftig Qualität sichern helfen, pluralistische Strukturen auf der Angebotsebene erhalten und ermöglichen und den Zugang zu Information und Wissen gewährleisten. Die Zukunft wird und muss mehreren Medien gehören. Bei dem digitalen Medium sollten wir uns dabei intensiv und rechtzeitig damit befassen, welche Strukturen und Prinzipien der analogen Buchkultur auch in der digitalen Buch-Kultur unverzichtbar sind und hoch gehalten werden müssen. Der Einfluss der digitalen Welt ist zu groß geworden, als dass wir einfach nur zusehen und abwarten könnten. Zum Schluss ein Zitat von Bernhard Fabian, einem bekannten deutschen Literaturwissenschaftler: „Das Buch vermittelt die Interessen des Autors, die Überlegungen des Verlegers und die kombinierten Möglichkeiten von visueller und textlicher Kommunikation. Es dokumentiert den Wechsel des Geschmacks als auch das Klima, in dem Gedanken und Meinungen entstehen. Es erschließt die Macht der Ideen und die Fähigkeit eines Textes, den Leser in eine andere Welt oder in eine andere Zeit zu versetzen. Es zeigt, wie das Wissen aufgenommen und Vergnügen und Unterhaltung vermittelt werden.“
In der griechischen Mythologie gibt es eine amüsante Geschichte, die ich an den Beginn meiner Ausführungen stellen will. Eos, die Göttin der Morgenröte hatte eine Vorliebe für gut aussehende Jünglinge. Als sie den schönen Trithonos kennenlernte, verliebte sie sich so sehr in ihn, dass sie Zeus bat, ihm das ewige Leben zu schenken. Zeus entsprach ihrer Bitte. Sie hatte jedoch vergessen, ihn auch um die ewige Jugend zu bitten. So kam es, wie es kommen musste. Der Unsterbliche wurde alt und grau und unansehnlich. Sie wollte nicht länger das Lager mit ihm teilen. Sie verbannte ihn deshalb in ein weit entferntes Zimmer, aus dem nur das dünne Stimmchen zu hören war. Schließlich verwandelte sie ihn in eine Grille, damit wenigstens das Zirpen ihrer Unterhaltung diente. Könnte das das Schicksal der Bibliotheken mit ihrer mehrere Jahrtausende alten Existenz werden – zwar ewig existent, aber letztlich nur noch geduldet oder zur Unterhaltung gut? Es lohnt sich darüber nachzudenken, denn zu viel steht auf dem Spiel. Bibliotheken gelten seit Jahrtausenden als kulturelles und geistiges Fundament der menschlichen Zivilisation. Das schriftlich fixierte Wort, ob in Tontafeln geritzt, auf Papyrus oder Papier geschrieben oder gedruckt, hatte immer einen besonderen Ort. Mit der stetig wachsenden Buchproduktion entwickelte sich parallel eine wachsende Entwicklung des Lesens und eine Vermehrung der Bibliotheken. Im 19. Jahrhundert überwölbten gewaltige Kuppeln die Nationalbibliotheken als Orte nationaler Identität und kultureller Überlieferung, ein umfassender Resonanzboden des Geistes. Längst sind aber die Zeiten vorbei, in denen Bibliotheken das publizierte Wissen nahezu vollständig zur Verfügung halten konnten. Bücher und Informationen werden zunehmend in digitaler Form angeboten und vertrieben, selbst die Printmedien sind heute das Resultat elektronischer Textverarbeitung. Bibliothekssammlungen selbst werden in großem Umfang nachträglich digitalisiert. Kein Zweifel, digitale Publikationen haben attraktive Eigenschaften: beliebige Verfügbarkeit, wahlweise Bereitstellung, flexibler Zugriff, Kombinierbarkeit von Text, Bild und Ton, leichte Aktualisierbarkeit und Interaktivität. Aber es sind auch Probleme damit verbunden: physischer Verfall der Speichermedien, Änderung von Codierung und Betriebssystemen; digitale Publikationen sind nicht unbedingt unveränderlich und öffentlich, sie sind so weit oder so eingeschränkt zugänglich, wie es der Produzent bestimmt. Dies kann zur Gefährdung von dauerhafter Verfügbarkeit, aber auch zu mangelnder Zitierbarkeit digitaler Publikationen führen. In der langen Geschichte von Bibliotheken hat es immer wieder technische Transformationen gegeben. Keine aber war so radikal wie die jetzige. Bei den digitalen Publikationen geht es um mehr als nur um Sichtung, Auswahl und Verwaltung durch Bibliotheken, es geht um langfristige Sicherung des geistigen Eigentums. Entscheidend wird sein, ob es gelingt, für die Öffentlichkeit und insbesondere auch für die Wissenschaft die Vorzüge des digitalen Mediums so mit den Standards der bisherigen materiellen Speicher zu verbinden, dass die Teilhabe am kulturellen Gedächtnis gesichert ist. Schon die kurze Aufzählung der Chancen und Risiken macht deutlich, dass es keinen Grund gibt, das Medium auszuschlagen oder sich zu verweigern, dafür hat es zu viele interessante Möglichkeiten. Digitale Abstinenz seitens der Nutzer lässt sich letztlich auch gar nicht durchsetzen. Entscheidend ist, ob wir nur einfach zusehen, wie sich das digitale Medium als technisches Phänomen entwickelt oder ob wir es in den Dienst der Kultur nehmen. Die Gefahren sind nicht die Folgen des Mediums sondern das Ergebnis unseres mangelnden Umgangs. Gottfried Honnefelder, Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, sagte kürzlich in einem Vortrag zum Umbruch der Kultur des Wissens durch das digitale Zeitalter: „Was ansteht, ist die Nichtreduzierbarkeit von Wissen auf Information, von Kommunikation auf Transfer, von Verstehen auf Speichern und von Schreiben auf das Aneinanderhängen von Informationsmodulen.“ Wir stehen heute am Ende eines differenzierten Prozesses von Artefakten. Das führt zu einem Reichtum von Formen, Qualitäten und künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten. Die wachsende Zahl von Publikationen sollte uns jedoch nicht dazu führen, einfach den Einflüssen von Technik und Ökonomie zu folgen, sondern die jeweiligen spezifischen Qualitäten eines Mediums zu erkennen, zu fördern und zu etablieren. Ein gedrucktes Buch mit seiner Gestaltung, Typographie, haptischen Ausstrahlung und seiner persönlichen Verfügbarkeit hat Werte, die das Zerrbild einer digitalen schwarz-weiß Wiedergabe nie erreichen kann. Es muss aber deutlich gemacht werden, wann solche Werte unverzichtbar oder zumindest vorrangig Berücksichtigung finden sollten, wann sie eine persönliche Bereicherung darstellen. Diese Qualitätsmerkmale herauszuarbeiten sollten sich Bibliotheken und Buchhandel zur Aufgabe machen. Es gibt derzeit eine Kampagne von Verlagen und Buchhandel in Deutschland unter dem Titel „VORSICHT BUCH“, das genau diese Vorgehensweise aufgreift. Es geht darum, den Spaß an Büchern und am Lesen zu vermitteln. Auf humorvolle Art wird die Wichtigkeit des Lesens ins Bewusstsein gerückt und die Bedeutung von Büchern unterstrichen. Als Kulturgüter entführen sie in andere Welten, können Gesellschaften umwälzen und Menschen tief berühren. Der Titel „Vorsicht Buch!“ warnt mit einem Augenzwinkern vor dieser Kraft, die Büchern innewohnt. Im Zentrum aller Maßnahmen stehen dreizehn Printmotive, die mit dieser Macht spielen und sämtliche literarische Genres abdecken – unter dem Motto: „Ein Buch kann Dein Leben verändern“. So bekennt beispielsweise ein netter, korrekt wirkender Herr: „Ich habe Gras angepflanzt. Auf 314 Seiten.“ und spricht dabei über die Lektüre eines Gartenratgebers. Eine Dame verführt Casanova auf 422 Seiten, ein kleiner Junge beschwört Dämonen auf 136 Seiten oder eine junge Frau gibt zu, die Mafia belauscht zu haben – in einem Hörbuch. Eine kreative Gemeinschaftsleistung der gesamten deutschen Buchbranche: Über 1400 Buchhandlungen und über 160 Verlage machen mit. Sie plakatieren ihre digitalen und öffentlichen Räume mit den Motiven und organisieren darüber hinaus Lesereisen, Vorlesereihen in Kitas, Schulen und Kindergärten, Auftritte auf Buchmessen und vieles mehr. Auch das Goethe-Institut macht mit: In unseren sozialen Netzwerken machen wir auf die Kampagne aufmerksam, gerade diesen Monat läuft eine Aktion, bei der wir unsere 80.000 Fans aus aller Welt aufrufen, die Fotos ihrer Lieblingsleseorte hochzuladen. Wie stark die Kampagne wirklich wirken wird, bleibt abzuwarten. Eine hohe Medienresonanz hat sie allemal erwirkt. Die Herausarbeitung der jeweils spezifischen Qualitäten eines Mediums darf nicht auf das gut gemachte und lektorierte Buch beschränkt bleiben sondern muss genau so auch auf die Stärke der digitalen Medien Anwendung finden, sonst geht es uns wie Trithonos. Was ist hier die Aufgabe von Bibliotheken? Digitale Medien werden in der Regel dort bereit gestellt, wo sie entstehen, sind aber jeder Zeit von jedem Ort abrufbar, im Extremfall ist die digitale Publikation einmal auf einem Server im globalen Netz gespeichert. Auf welchem Server sie wie lange gespeichert bleibt, ist eine Einzelentscheidung. Wissenschaftliche Einrichtungen machen sich heute mehr Gedanken um die Lösung lokaler Anforderungen ihrer Internet-Auftritte, weniger um langfristige und international eingepasste Strukturen. Andererseits erwarten die Nutzer von Bibliotheksquellen inzwischen, dass ihnen die kulturelle Überlieferung nicht nur in immer größerem Umfang digital angeboten wird, sondern dass dieses Angebot auch vergleichende, mehrfunktionale und interdisziplinäre Aspekte vermittelt. Dabei soll der Zugriff auf ursprünglich digitale Medien und nachträglich konvertierte digitale Medien gleichartig organisiert sein. Immer mehr setzt sich bei digitalen Publikationen der Trend zur Vergabe von Lizenzen anstelle von Erwerb durch. Das kann in einigen Fällen akzeptabel sein, für eine langfristige Archivierung und Verfügbarkeit bei Bibliotheken ist es jedoch problematisch. Der Lizenzgeber muss deshalb ausdrücklich im Lizenzvertrag dazu verpflichtet werden. Ansonsten überlässt man die kulturelle Überlieferung dem Zufall oder dem Markt. Sinnvoll ist die Bildung von Konsortien, um ein gemeinsames Handeln abzustimmen. In der digitalen Welt erzeugt praktisch jeder Zugriff eine Kopie. Zugreifen ist gleich kopieren. Hier sind deshalb neue Definitionen zur urheberrechtlichen Nutzung des Copyright erforderlich. Der Begriff der Kopie ist dafür wenig geeignet. Die Partner haben zwar eine Vorstellung ihrer eigenen Vorgehensweise und Ziele, aber nur eine geringe der anderen Beteiligten. Auch hier ist eine aktive Rolle der Bibliotheken gefragt. Die Leitlinien zum Aufbau digitalisierter Bibliothekssammlungen als Aktivposten für die Wissenschaft und als Träger unserer Kultur sollten sein: - Die Auswahl und Herstellung digitaler Ressourcen soll sich an Nutzererwartungen orientieren; sie kann auch sinnvoll sein für fragile und schonenswerte Originale. - Sie ist förderlich für Quellen, die inhaltlich zusammengehören, aber auf unterschiedliche Sammlungen verstreut sind. - Die Produktion sollte Kurzzeitlösungen vermeiden sondern höhere technische Anforderungen berücksichtigen (digital master). - Es sollten nur gut unterstützte Technologien zur Anwendung kommen. Unabhängig von den Kriterien wissenschaftlicher Einrichtungen und ihren Anforderungen gibt es in der digitalen Welt eine starke marktbeherrschende Entwicklung großer Internetfirmen, die global agieren. Dazu gehören insbesondere Google und Amazon. Google hat Millionen von Büchern digitalisiert, mit dem Ehrgeiz eine Weltbibliothek zu errichten. Es ist für uns alle dadurch komfortabler geworden. Trotzdem muss man sich eines klar machen: Die Google-Suchmaschine hat die Tendenz, durch die Art und den Grad der Verlinkung kaufkräftige Werbung zu unterstützen und nicht wissenschaftliche oder literarische Relevanz zu betonen. Außerdem werden immer konzentrierter Segmente des Internetangebotes hervorgehoben. Spezielle Themen, neue Ideen, kleine Verlage – gerade der kulturelle Humus – fallen buchstäblich durch das Netz. Avantgarde wird zum Unwort. Amazon wiederum nutzt seine marktbeherrschende Stellung massiv gegen die gerade in europäischen Ländern bestehende Marktstruktur kleiner oder mittlerer Buchhandlungen. Damit verschwindet ein wichtiges Vermittlernetz von Buchkultur und es kommt zu einer kulturellen Verarmung durch Monopolisierung. Die Folgen sind absehbar. Nur die Ökonomie zählt. Pures Management zum Vermarkten und Expandieren ist sicher der falsche Weg. Kultur muss als eigenständige Kraft wirken. Bibliotheken und Buchhandel müssen ihren Bildungsauftrag ernst nehmen. Dabei sollten sie ihre Zukunft nicht in einer technischen Pauschalierung und Einheitlichkeit suchen, sondern in der Differenzierung von Originalen und digitalisierten Angeboten. Aktualität, Umfang und Art der Information sowie bevorzugtes Medium wechseln von Nutzergruppe zu Nutzergruppe. Die Digitalisierung kann uns einen neuen Freiheitsgrad bescheren, der nicht die Verengung auf ein Medium bedeuten muss. Stärke und Einzigartigkeit von Printmedium und digitalem Medium sind darstellbar. Zweifellos bieten digitale Objekte im Netz neuartige Qualitäten. Aber da sind auch die genannten Kritikpunkte. Die Frage stellt sich nicht, ob oder ob nicht, sondern wie Bibliotheken oder auch Buchhandel künftig Qualität sichern helfen, pluralistische Strukturen auf der Angebotsebene erhalten und ermöglichen und den Zugang zu Information und Wissen gewährleisten. Die Zukunft wird und muss mehreren Medien gehören. Bei dem digitalen Medium sollten wir uns dabei intensiv und rechtzeitig damit befassen, welche Strukturen und Prinzipien der analogen Buchkultur auch in der digitalen Buch-Kultur unverzichtbar sind und hoch gehalten werden müssen. Der Einfluss der digitalen Welt ist zu groß geworden, als dass wir einfach nur zusehen und abwarten könnten. Zum Schluss ein Zitat von Bernhard Fabian, einem bekannten deutschen Literaturwissenschaftler: „Das Buch vermittelt die Interessen des Autors, die Überlegungen des Verlegers und die kombinierten Möglichkeiten von visueller und textlicher Kommunikation. Es dokumentiert den Wechsel des Geschmacks als auch das Klima, in dem Gedanken und Meinungen entstehen. Es erschließt die Macht der Ideen und die Fähigkeit eines Textes, den Leser in eine andere Welt oder in eine andere Zeit zu versetzen. Es zeigt, wie das Wissen aufgenommen und Vergnügen und Unterhaltung vermittelt werden.“