Rede von Klaus-Dieter Lehmann zur Ehrung der Bayerischen Staatsbibliothek als Bibliothek des Jahres
24. Oktober 2008 - am Tag der Bibliotheken
Eine wissenschaftliche Universalbibliothek, deren Wurzeln in der Zeit der Renaissance gründen, die in diesem Jahr 450 Jahre wird, eine solche Bibliothek wird Bibliothek des Jahres 2008. Sie wird es nicht, weil sie ein eindrucksvolles Buchmuseum ist mit den besten und frühesten Zeugnissen der Bahn brechenden Erfindung Gutenbergs, das ist sie sicherlich.
Sie wird es, weil sie es vermocht hat, das große Schatzhaus der kulturellen Überlieferung mit rund 10 Millionen Bänden, 50 000 laufenden Zeitschriften, fast 100 000 Handschriften, 20 000 Inkunabeln und 50 Terabyte digitalen Objekten in ihren pluralistischen Strukturen so zu organisieren und wachsen zu lassen,
- dass der Zugang zu Information und Wissen optimal gestaltet wird,
- dass Tradition und Innovation so verbunden werden, dass der weite Mantel der Geschichte spürbar wird, aber die innovativen Informationsdienstleistungen den heutigen wissenschaftlichen und kulturellen Bedürfnissen entsprechen,
- dass die Bibliothek sich nicht auf eine quantitative Existenz reduziert, die wäre eindrucksvoll genug, sondern sich als einen Lernort begreift, als Ort der geistigen Stimulanz, der die Beziehungen zwischen der individualisierten Gesellschaft und dem kulturellen Kontext ermöglicht,
- dass der Benutzer im Mittelpunkt steht, nicht durch ein allgemeines Bekenntnis, sondern durch passgenaue Dienstleistungen für definierte Zielgruppen,
- dass die Personalentwicklung ganz offensichtlich auf eine hohe Professionalität, eine positive Unternehmenskultur und eine erfahrungsbasierte Eigenverantwortlichkeit achtet und bauen kann.
Die Bayerische Staatsbibliothek hat nichts von einem schwerfälligen Tanker – diese Metapher wird gern für solche großen Institutionen benutzt – sondern sie verfügt über eine erstaunliche Beweglichkeit, Innovationskraft und so gar Risikobereitschaft, um Wissenschaft zu öffentlichem Wissen zu machen.
Genau das hat zur einstimmigen Entscheidung der Jury geführt, die Bayerische Staatsbibliothek zur Bibliothek des Jahres 2008 zu küren:
- Ihre kreative Suche nach innovativen Ideen bis hin zu Kooperationsmodellen wie Google,
- Die Federführung bei nationalen und internationalen Erschließungsverfahren und Dokumentlieferverfahren,
- Der Auf- und Ausbau des eigenen Digitalisierungszentrums,
- Der Aufbau von Virtuellen Fachbibliotheken,
- Die Entwicklung von Methoden zur Langzeitarchivierung,
- Benutzerfreundliche Öffnungszeiten an allen sieben Tagen der Woche von 8.00 Uhr bis 24.00 Uhr,
- Usw.
Die Fähigkeit zur Anpassung und zum schnellen Wandel entscheiden über Erfolg und Nichterfolg bei den Bibliotheken. Wissen und Können sind nicht mehr länger statische Größen. Bibliotheken müssen Orte der Kommunikation sein, ohne dass Bibliotheksmauern Grenzen ziehen. Netzwerke und Partnerschaften ersetzen die Autarkie der Bibliothek. Diese Netze benötigen nicht nur technische Netzknoten, sondern auch menschliche bibliothekarische Knoten: Expertise, Beratung und Mentalitätswechsel im Sinne von Investition in die Zukunft und Leitlinien, abgeleitet aus dem Nutzerbedarf. Die Bayerische Staatsbibliothek hat erkannt, dass früher eine Institution stark war, wenn sie autonom war, dass sie aber heute stark ist, wenn sie gut vernetzt ist. Die Bayerische Staatsbibliothek hat aber auch erkannt, dass Partner zu sein bedeutet, eine eigene Stärke und ein eigenes Profil zu haben. Nicht der Bittsteller ist der gesuchte Partner, sondern derjenige, der selbst einen Zugewinn garantiert. Die geschickte, qualitätsbezogene Erwerbungspolitik über die vielen Jahrzehnte und Jahrhunderte zahlt sich jetzt aus.
Natürlich waren es auch geschichtliche Umstände, wie die Säkularisation 1802/1803 oder das frühe Pflichtablieferungsgesetz aus dem Jahr 1663 oder der Erwerb bedeutender Privatbibliotheken durch die Wittelsbacher. Aber es ist schon auffallend, dass die Bibliothek über ein dichtes Literaturkontinuum verfügt. Das erreicht man beim Bestandsaufbau nur, wenn es verantwortliche Bibliothekare gibt, die nach dem Grundsatz handeln: die Bibliothek ist zu nichts verpflichtet, außer zu sich selbst. Keine partikulären Interessen, keine modischen Extratouren, Unabhängigkeit.
Die Bayerische Staatsbibliothek hat diesen Grundsatz auch nach den Zerstörungen des II. Weltkrieges, bei dem immerhin ein Viertel des Bestandes vernichtet wurde, beachtet und sich sehr früh ein präzises Erwerbungsprofil gegeben, das ihr einen systematischen Aufbau ermöglichte. Das hat letztlich auch das starke finanzielle Engagement der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Sondersammelgebiete der Bayerischen Staatsbibliothek begünstigt. Mit rund 150 000 Neuerwerbungen jährlich hält die Bibliothek unter den deutschen Bibliotheken einen Spitzenplatz.
Goethe hat einmal formuliert:“ Jede Bibliothek vergreist, wenn man sie nicht fortführt.“ Diese Position lässt sich auch auf die heutige Entwicklung übertragen. Denn Papier ist nicht das Kriterium für Bibliotheken, es ist das gesammelte Wissen der Menschheit als fixiertes Wort, ob früher in Tontafeln geritzt, auf Papyrus, auf Pergament, oder heute auf Papier oder digital gespeichert. Informationen werden zunehmend in digitaler Form angeboten und vertrieben. Darüber hinaus wird auch die nachträgliche Digitalisierung großer Bibliothekssammlungen als strategisch wichtige Maßnahme angesehen.
Bei den digitalen Publikationen geht es aber um mehr als nur um Sichtung, Auswahl und Verwaltung durch Bibliotheken. Es geht auch um die langfristige Sicherung des geistigen Eigentums. Versäumen es die Bibliotheken, diese Position aktiv zu gestalten, werden sie ihre Funktion als Informationsvermittler und objektives Gedächtnis der kulturellen Überlieferung Schritt für Schritt verlieren.
Die Bayerische Staatsbibliothek hat dieses Anwendungsgebiet offensiv aufgegriffen und gestaltet. Mit dem Münchener Digitalisierungszentrum hat sie ein nationales Kompetenzzentrum eingerichtet, das nicht nur modernste Scanroboter-Technologie anwendet, sondern auch innovative Methoden für die Langzeitarchivierung digitaler Datenbestände entwickelt. Immerhin ist die Datenverarbeitung in dieser Bibliothek seit 1972 ein selbstverständliches Instrument.
Aufsehen erregend ist sicher die Partnerschaft mit Google. Rund eine Million urheberrechtsfreier Werke des Bibliotheksbestandes werden digitalisiert und weltweit im Internet zur Verfügung gestellt. Um es bayrisch auszudrücken: Die trau´n sich was. Da schwingt bei mir beides mit, Anerkennung für die mutige Entscheidung, aber auch zur Vorsicht mahnende Aufmerksamkeit.
Die Bayerische Staatsbibliothek hat offensichtlich einen Vertrag mit Google ausgehandelt, der ihr - neben der Verwertung der Daten durch Google - eine eigene unabhängige Zuständigkeit für die digitalisierten Werke sichert. Das ist wichtig, denn Google verdient sein Geld mit Werbung. Und so ist es nur konsequent, wenn die Logik der Google- Suchmaschine genau diesen Interessen dient. Das kann und muss aber nicht das Interesse der Bibliotheksnutzer sein. Hier verfügt deshalb die Bayerische Staatsbibliothek weiterhin über den so wichtigen eigenen Gestaltungsrahmen zur Verwertung ihres digitalisierten Bestandes, der nicht den Google-Algorithmen folgt.
Zweifellos gewinnt die Bayerische Staatsbibliothek durch diese Partnerschaft eine neue Kompetenz in der Massendigitalisierung und der Begriff des Bibliotheksbenutzers gewinnt eine neue, nämlich weltweite Dimension.
Bei dieser Entwicklung lässt sich sehr gut die Doppelstrategie der Bayerischen Staatsbibliothek ablesen, die sie für den Bibliotheksbenutzer konsequent umsetzt. Auf der einen Seite tut sie alles, um die Bibliothek als lebendigen Ort des Geistes attraktiv zu machen, ein Gefühl von geistiger Gemeinschaft zu vermitteln, einen individuell gestalteten Zugang zum Wissen zu organisieren und traditionelle Fertigkeiten als auch moderne Kulturtechniken anzubieten. Der von Friedrich von Gärtner im Auftrag Ludwig I. 1832-1843 errichtete Bibliotheksbau ist auch heute wieder als Schatzhaus der Bücher eines der modernsten Bibliotheksgebäude, aber eben mit einer historischen Dimension, die erfahrbar gemacht wurde und die nicht nur über Funktionalität sondern auch über Ästhetik verfügt. Wie hier auf wundersame Weise das historische Gehäuse geöffnet wurde, Räumlichkeiten neu definiert und in einen neuen Zusammenhang gebracht wurden, wie hier gleichsam gleitend das 21. Jahrhundert Einzug hielt, das ist beispielhaft. Über eine Million Leser kommen jährlich in die Lesesäle, ein eindrucksvoller Beleg für Akzeptanz und Leistungsfähigkeit, über 1,6 Millionen Entleihungen werden gezählt.
Und gleichzeitig hat die Bayerische Staatsbibliothek alles getan, die Materialität der Buchwelt in die immaterielle Welt der Bibliotheksnetze digital zu überführen und damit die Grenzen des Gebäudes aufzuheben und weltweit die großen Sammlungen verfügbar zu machen und Wissenschaft und Forschung – wo immer auch – zu unterstützen. Beides hat Zukunft: der Ort und das Netz. Es müssen nur die jeweils spezifischen Eigenschaften für jeweils spezifische Zielgruppen erkannt und in ihrem Wert herausgearbeitet werden.
Die Frage stellt sich nicht, ob oder ob nicht, sondern wie Bibliotheken künftig Qualität sichern helfen, pluralistische Strukturen auf der Angebotsseite erhalten und Zugang zu Information und Wissen gewährleisten. Die Zukunft wird mehreren Medien gehören. Entscheidend wird sein, ob es gelingt, die Vorzüge des digitalen Mediums mit den Standards zu verbinden, durch die uns die bisherigen materiellen Speicher am kulturellen Gedächtnis haben teilhaben lassen.
Wenn man sich das breite Spektrum von Anwendungsgebieten, Serviceleistungen, Innovationen und Entwicklungen der Bayerischen Staatsbibliothek ansieht, wird man sehr schnell erkennen, dass es dazu nicht nur entsprechender materieller Ressourcen und überzeugender strategischer Ansätze bedarf, sondern einer Belegschaft von Bibliothekarinnen und Bibliothekaren, die über ein hohes Maß an Professionalität, Leistungsbereitschaft, Offenheit für Neues und Bereitschaft zur Veränderung verfügt, eine Belegschaft, die sich gleichermaßen als Wächter und Vermittler sieht, kurzum – die sich mit den Aufgaben und Zielen aus Überzeugung identifiziert. Diese Unternehmenskultur hat bei der Bayerischen Staatsbibliothek Tradition, durchaus mit unterschiedlichen Schwerpunkten, entsprechend der jeweiligen Zeit, aber über Generationen kontinuierlich ausgebildet.
Die Bayerische Staatsbibliothek verfügt dadurch über ein beeindruckendes Reservoir von Talenten und Spezialisten über das gesamte Spektrum bibliothekarischen Arbeitens. Das macht sie so sichtbar und das macht sie weiterhin entwicklungsfähig und zukunftssicher. Sie hat sich nichts geschenkt und hat auch nichts geschenkt bekommen. Sie hat ihre Position unter einem strikten Kosten-Nutzen- Bewusstsein aufgebaut. Das hilft auch in schwierigen Zeiten. Und sie hat sich konsequent auf Dienstleistungen ausgerichtet. Das macht sie so unentbehrlich.
Die Bayerische Staatsbibliothek ist eingebettet in die föderale Struktur Deutschlands. Aber im Gegensatz zu manch anderer Kulturinstitution pflegt sie nicht den partikulären sondern den kooperativen Föderalismus. Selbstverständlich stärkt sie die regionalen Strukturen durch die Übernahme landesweiter Aufgaben für das bayerische Bibliothekswesen – Verbundzentrale, Bibliotheksschule, Zeitschriftenkonsortium, Landesfachstelle für das öffentliche Bibliothekswesen – aber genau so selbstverständlich übernimmt sie nationale Aufgaben im Servicebereich und bei innovativen bibliothekarischen Projekten.
Da ich als Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz viele Jahre zuständig war für die Staatsbibliothek zu Berlin, freut mich natürlich besonders die vertraglich fixierte Kooperation zwischen den beiden Staatsbibliotheken auf vielen praktischen Feldern, bis hin zu einer gemeinsamen Zeitschrift. Diese Kooperation befähigt Deutschland mit seiner ausgeprägten Buchkultur in der internationalen Liga an herausragender Position zu spielen. Das ist keine Selbstbespiegelung sondern Weltoffenheit in ihrer wirksamen Form. Und so ist für mich auch die wirkliche Nationalbibliothek die reale Verbindung von Bayerischer Staatsbibliothek München, Staatsbibliothek zu Berlin und Deutscher Nationalbibliothek Frankfurt/Leipzig. Solche dauerhafte Beziehungen sagen etwas über unsere Geschichte und das Entstehen unserer Bibliotheksstruktur, sie profilieren die Unverwechselbarkeit kultureller Einrichtungen und stärken die Ressourcen insgesamt.
Ich habe immer eine enge Beziehung zur Bayerischen Staatsbibliothek gepflegt, sei es als Generaldirektor der Deutschen Bibliothek Frankfurt a.M. und der Deutschen Bücherei Leipzig oder als Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. So brachte mich jetzt auch mein Wechsel von Berlin nach München als Präsident des Goethe-Instituts nicht in eine terra incognita, Bibliotheken bilden überall in der Welt ein Stück Heimat. Und auch die Bayerische Staatsbibliothek ist in meiner neuen Institution, dem Goethe-Institut mit seinem weltweiten Netz von 140 Instituten in 80 Ländern wieder ein gesuchter Partner - mit ihrem Sachverstand, mit ihrem Pragmatismus und ihren Ressourcen.
Das Goethe-Institut hatte sich vor einigen Jahren im Zuge der Umstrukturierung und Modernisierung von dem Begriff und der Erscheinungsform „Bibliothek“ getrennt. Seitdem gab es nur noch Infozentren. Sie können sich vorstellen, dass für mich eine Einrichtung der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik ohne Bibliothek nicht vorstellbar ist, nicht weil ich selbst Bibliothekar bin, sondern weil ich diesen Fokus der geistigen Gemeinschaft als erfahrbaren Ort für unverzichtbar halte und weil ich der Überzeugung bin, dass Bibliotheken in ihrer nach Jahrtausenden zählenden Geschichte immer wandlungsfähige Einrichtungen waren, die einen hohen gesellschaftlichen Anspruch erfüllen: Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit. Schließlich sind es Bücher in all ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen, die als Ideenträger wirken, Bildung ermöglichen und die Freiheit des Wählenkönnens bieten. Dieser Freiheit muss man symbolisch und real Raum geben. Es ist auch eine emotionale Inszenierung des Geistes, die sich mit der Bibliothek verbindet.
Dieser Trend ist nunmehr gestoppt und die Goethe-Institute in der Welt werden wieder Bibliotheken haben, der entsprechende Rundbrief des Präsidenten ist verschickt.
Das Beispiel der großen Bayerischen Staatsbibliothek mit ihrer Tradition und mit ihrer Vision kann auch für kleinere Einrichtungen beispielgebend sein. Deshalb ist die Auszeichnung Bibliothek des Jahres 2008 auch immer eine für die Bibliotheken insgesamt.