Regionale Musikbewegungen
Der Sound deutscher Städte
Rock aus Hamburg, Elektropop aus Düsseldorf, Techno aus Berlin: Seit den 1960er-Jahren sind in Deutschland regionale Independent-Szenen entstanden. Ihr Einfluss reicht bis in die Gegenwart.
Nicht nur in Liverpool oder San Francisco, auch in deutschen Städten haben seit den 1960er-Jahren regionale Musikbewegungen Popmusikgeschichte geschrieben. Diese Independent-Szenen prägten den Sound ihrer Städte und folgten ähnlichen Mustern: Musiker, oft Außenseiter aus dem Umland, trafen in der Stadt auf Gleichgesinnte, spielten in denselben Clubs, teilten sich aus Kostengründen Proberäume, Studios und Manager und schlossen sich zusammen, um Plattenfirmen zu gründen. So beschreibt es der Journalist Ole Löding, Co-Autor von Sound of the Cities, einer 2015 erschienen Studie zu regionalen Musikszenen weltweit.
Zwar werden diese Szenen oft als „Schulen“ bezeichnet. Doch es handelt sich weniger um Institutionen, die eine bestimmte Lehre an Generationen von Schülerinnen und Schüler weitergeben, sondern eher um temporäre Zusammenschlüsse. Sie entstehen unter bestimmten Bedingungen und lösen sich wieder auf, sobald dieser Rahmen nicht mehr gegeben ist.
Musik mit intelligenten Texten: die Hamburger Schule
Die sogenannte Hamburger Schule entstand Ende der 1980er-Jahre in Abgrenzung zum Deutschrock und der Neuen Deutschen Welle, beides einflussreiche deutsche Pop-Traditionen, die Rock- und Punk für die deutsche Sprache adaptierten. Diesen warfen Bands wie Blumfeld, Die Sterne oder Tocotronic textliche Belanglosigkeit vor und suchten nach neuen subjektiven Ausdrucksformen.
Ein wesentliches Merkmal der Hamburger Schule sind intelligente, poetische wie politische Songtexte, die auf konkrete Alltagserfahrungen Bezug nehmen. Obgleich diese Szene bereits Mitte der 1990er-Jahre ihren Höhepunkt erreicht hat, ist ihr Einfluss nach wie vor groß. Junge deutschsprachige Rockbands wie etwa Trümmer, deren Debüt 2014 erschien, beziehen sich heute noch auf sie. „Die Hamburger Schule hat eine Mischung aus anspruchsvollen Texten und innovativer, handgemachter Musik in Deutschland erfunden, an der sich junge Independent-Musiker immer noch orientieren“, erklärt Ole Löding.
Das Ende der Düsseldorfer Avantgarde: Kommerz
Im nordrhein-westfälischen Düsseldorf waren es vor allem zwei Clubs, in denen sich bedeutende Szenen herausbildeten. Noch bevor der kleine Club Ratinger Hof zur Geburtsstätte des Punk und New Wave wurde, traf sich die elektronische Avantgarde der 1970er-Jahre im Tanzlokal Creamcheese, in dem Künstler wie Joseph Beuys und Bands wie Kraftwerk ein und aus gingen.
Mit dem vierten Studio-Album Autobahn erreichte Kraftwerk 1974 nicht nur hohe Chartpositionen – der monoton-repetitive Elektropop-Sound, der nach deutscher Schnellstraße, digitaler Moderne und Maschinenkälte klang, inspirierte auch Elektro-, Techno- und Hip-Hop-Pioniere weltweit. Kein Geringerer als David Bowie zählte zu den Bewunderern von Kraftwerk und der Krautrock-Gruppe NEU!, die den englischen Punk beeinflusste [Anm.d.Red.: Als Krautrock wird die experimentelle, innovationsgeprägte westdeutsche Rockmusik der späten 1960er, frühen 1970er Jahre bezeichnet].
Aus dem Umfeld des Ratinger Hofs gingen später die Elektropunk-Formationen DAF oder die Rockband Fehlfarben hervor. Als letztere bei der Majorfirma EMI unterschrieb, erschien das manch anderer Gruppe als Verrat. Es setzte das ein, was die Düsseldorfer Independent-Szene wie viele andere zerstörte: die Kommerzialisierung durch die Musikindustrie. Mit steigender Popularität lösten sich einzelne Bands aus dem Szene-Kontext, andere sahen das mit Neid, der Zusammenhalt schwand.
Von der Berliner Schule zur Techno-Clubcultur
Die lange Geschichte Berliner Musikbewegungen beginnt in den 1960er-Jahren, als das zweigeteilte und von der Mauer umgebene Berlin zum Sammelbecken junger Männer aus Westdeutschland wurde, die in die Stadt zogen, um dem Wehrdienst zu entgehen. Mark Chung, langjähriger Bassist der Band Einstürzende Neubauten erinnert sich in Sound of the Cities: „Die Stadt und die Musikszene waren geschützt durch die Mauer. Das war ein künstliches Biotop, in dem Dinge passieren konnten, die woanders nicht passierten.“
Der Zodiak Club wurde Ende der 1960er-Jahre zum Underground-Biotop für Westberliner Experimentalmusiker, die Drogen nahmen und exzessiv improvisierten. Bands wie Ash Ra Tempel, Agitation Free oder Tangerine Dream prägten den Stil der Berliner Schule: sequenzbasierte elektronische Musik mit Synthesizern und ausgedehnten Soli. Kreuzberg entwickelte sich zum Zentrum der Gegenkultur, die Rockgruppe Ton Steine Scherben wurde zum Sprachrohr der linken Hausbesetzerbewegung, die Neonbabies zur einflussreichsten Band zwischen Punk und Neuer Deutscher Welle. Anfang der 1990er-Jahre avancierte der Club Tresor zum Treffpunkt der subkulturellen Technoszene. Sie knüpfte an die Pionierarbeit der Berliner Schule an und feierte Techno-Partys rund um die Uhr. Bis heute zieht die Szene Millionen Touristen aus der ganzen Welt an.
SEIT DEM JAHR 2000 KAUM NOCH REGIONALE SZENEN
Hamburg, Düsseldorf und Berlin sind nur drei von vielen Beispielen. Regionale Musikbewegungen haben sich zum Beispiel auch in Stuttgart herausgebildet. Von dieser Stadt erhielt der deutschsprachige Hiphop in den 1990er-Jahren wichtige Impulse – durch Gruppen wie Die Fantastischen Vier oder die Stuttgarter Kolchose, zu der sich Rapper wie die Massiven Töne und Freundeskreis um Max Herre zusammenschlossen. Durch sie erfuhr der Deutschrap vor der Jahrtausendwende große mediale Aufmerksamkeit, noch ehe sich der Battle- und Gangsta-Rap durchsetzte.
Mit wenigen Ausnahmen sind seit den 2000er-Jahren kaum noch regionale Musikbewegungen feststellbar, beobachtet Ole Löding. „Durch die Digitalisierung und soziale Medien sind Bands längst nicht mehr an bestimmte Orte gebunden. Nicht einmal in Mannheim, wo mit der Popakademie eigens eine Institution dafür geschaffen wurde, hat sich eine echte Szene etablieren können.“ Eine Mannheimer Schule, die den R'n'B-Sänger Xavier Naidoo mit den Popakademie-Abgängern Get Well Soon oder Abby verbindet, sucht man bislang vergebens.