​Thomas Heise
„Ein Erfahren und Überschreiten von Grenzen“

Sonnensystem
Sonnensystem. Regisseur: Thomas Heise. 2011. | Foto: Thomas Heise

Das erste, das mir in den Blick geriet, waren die scheinbar ungeordnet aneinander gereihten, wie übereinander gestapelten Behausungen. Wild an der Peripherie der Stadt errichtet, entlang einer Autobahn, die vom Flughafen ins Zentrum der Metropole führte.

Die sechsminütige Plansequenz, welche später den Schluss des auf Einladung des Goethe-Institut Buenos Aires produzierten Films "Sonnensystem" ausmachte, hat hier ihren Ursprung. Hinter der planlos wie kunstvoll errichteten Favela erhob sich ein Gebirge aus weißen Blöcken und Türmen, festungsgleich, die Stadt Buenos Aires. Hinter Gleisen, welche Stadt und Lebensraum anderer Ordnung voneinander trennten aber auch verbanden. Die Gleise, eine Grenze, wie der Fluss Rio Blanquito, hinter dem, in der Wildnis am Rande des Urwalds, eine kleine, familiäre Gemeinschaft lebt: Ramona und Viviano, Mariella, ihre angenommene kleine Tochter, der ihnen zugelaufene vierzehnjährige Jonathan und der von ihnen aufgenommene, stumme Fortunato. Sie alle gehören zum indigenen Volk der Kollas, welche im Norden Argentiniens, an der Grenze zu Bolivien leben. Und doch sind sie von diesem Volk, das ihres ist, verschieden, wie die Favela von der offiziellen Metropole.

Der Film "Sonnensystem" wurde für mich ein Erfahren und Überschreiten von Grenzen. Um über den 4500m hohen Pass nach Santa Cruz zu gelangen, bald verschwindender Sommerwohnplatz der Kollas, Fluchtpunkt und Sehnsuchtsort. Lehmbauten, nach und nach für immer verlassen, bis sie mählich im Regen zerfließen. Wortlos.  Wir, ich, wie die ersten Besucher der "neuen Welt". Ohne gemeinsame Sprache mit ihr, bis auf die  der Gesten und der des Körpers. Eine Erfahrung, für die ich bis jetzt keine andere Erzählung als die der Montage von Bildern ohne Worte, ohne Erklärung habe. Wissend, um das mir, doch nicht ihnen, meinen Helden, dabei sichtbar werdende Verschwinden der im europäischen Sinn vielleicht unbedeutenden, doch menschlichen Kultur eines kleinen Volkes, samt dem Vergehen dieses Volkes auch.