Bicultural Urbanite Luke
Hometown Stranger – Fremder in der Heimat
Sich in seiner Heimatstadt wie ein Fremder zu fühlen, ist ein uraltes Expat-Klischee– keine Sorge, das ist mir bewusst. Aber warum eigentlich findet dieses Stereotyp unter Langzeit-Expats auch in der Wirklichkeit so viel Resonanz?
Von Luke Troynar
Nach acht Jahren Auslandsleben in Berlin scheint mir mein momentanes Gastspiel in Melbourne wie eine gute Gelegenheit, die Tiefen dieser sprichwörtlichen Figur auszuloten. Wer genau ist dieser Hometown Stranger, der Fremde in der Heimat?
Der Hometown Stranger ist mit Emotionen überfrachtet. Er sieht seinem Besuch in der Heimat mit einer Mischung aus Aufregung, Nostalgie, Anspannung, Schuldgefühlen und noch etwas anderem entgegen – einem zwiespältigen Gefühl, bei dem die Schmetterlinge im Bauch wie unter Drogen stehend flattern. Die alten Hasen unter den Hometown Strangers – die Sorte, die den Trip von Berlin nach Melbourne und zurück bereits mehrfach hinter sich hat – sehen der Pilgerfahrt mit einem Anflug von Grauen entgegen: die Flüge.
Die leidigen Flüge
Ach, die leidigen Flüge. Anfangs genoss ich noch, wie neu alles war. Dieses eigenartige Gefühl am Flughafen, wie ein Versprechen, das bald erfüllt wird; der tief in den Eingeweiden spürbare Kick, wenn man bei Sonnenuntergang über dem rot glühenden Horizont Richtung Himmel durchstartet; die künstliche Magie, meilenhoch über der Erde zu schweben, eingehüllt in eine Röhre voller selbstversunkener, sich in gedämpftem Ton unterhaltender Fremder; die verlockenden Drinks, die zu den Filmen an Bord serviert werden, und das schmackhafte Beruhigungsmittel, heruntergespült zum beruhigenden Dröhnen der Boeing 787.Nach dem dritten oder vierten Trip gab sich das mit dem Reiz des Neuen jedoch langsam. An seine Stelle trat die reine Erschöpfung von rund fünfundzwanzig Stunden Flug mit mehreren Zwischenlandungen, eingezwängt zwischen zwei Fremden, während am anderen Ende der unvermeidliche monströse Jetlag wartet. Nach einem besonders verpfuschten Transit, der einen Reiseplan von dreiundzwanzig Stunden in vierzig Stunden mit knapp getakteten Flügen verwandelte – danke, Air Serbia –, ist der Reiz des Neuen nur noch eine vage Erinnerung.
Die erste Umarmung
Wenn ich mein Reiseziel dann jedoch endlich erreicht habe, bin ich erst einmal in Hochstimmung. Der Jetlag wird von der Erleichterung darüber, dass die Langstrecke endlich vorbei ist, und von den Gesichtern meiner am Gate wartenden Familie vorübergehend außer Kraft gesetzt. Ich sehe sie zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder; die ganze frenetische Anspannung des Erwachsenseins als Ausländer in Deutschland löst sich mit der ersten Umarmung auf. Für einen kurzen Moment ist das Druckventil des Lebens gelöst.Wenn ich vom Flughafen nachhause komme, springe ich als erstes auf mein Fahrrad. Das ist mittlerweile Tradition; dennoch bin ich jedes Mal erstaunt, wie schnell ich von der zentralen Stadtlage meines Elternhauses in der Natur bin. Nach nur ein paar Minuten In-die-Pedale-Treten fahre ich schon in unberührter Ruhe am Merri Creek entlang, von nichts als den idyllischen Geräuschen der australischen Tierwelt umgeben. Wenn ich in Berlin dieselbe Distanz zurücklege, bin ich mittendrin im notorischen Dreck und Chaos des Hermannplatzes.
Da ich meist gegen März nach Melbourne fliege, ist das Wetter in der Regel herrlich. Die australische air fühlt sich spürbar frisch an – sauberer als die dieselverschmutzte Luft, die die Innenstadt von Berlin umnebelt. Die Temperatur liegt bei angenehmen um die fünfundzwanzig Grad, bei blauem Himmel und einer frischen, angenehmen Brise. Für mich, der ich gerade erst dem Ende des Berliner Winters entflohen bin, fühlt sich das an wie ein Traum.
Eine schreinartige Sammlung
Später am selben Abend, alleine in meinem alten Zimmer, beginnt die Fremdheit hereinzukriechen. Der Raum ist eine eigenartige Mischung aus Alt und Neu. Manche Dinge sehen aus, als sei die Zeit stehen geblieben, während neuere Hinzufügungen erkennen lassen, dass das Zimmer ganz klassisch von den Eltern der ausgezogenen Kinder in Beschlag genommen wurde. Alte Poster von längst vergangenen Musikfestivals und vergessenen Teenager-Idolen widerstreiten mit Kinderfotos von mir und meiner Schwester, die meine Eltern in einer schreinartigen Sammlung neu aufgestellt haben. Es ist die Vergangenheit – in ihrer aktuellen Form.Als ich am nächsten Tag in North Fitzroy unterwegs bin, wird das Gefühl der Fremdheit noch eine Nummer stärker. Alles fühlt sich unfassbar langsam und ruhig an – waren die Straßen von Melbourne schon immer so leer? Der australische Akzent klingt in seiner plötzlichen Allgegenwärtigkeit noch breiter und derber als ohnehin schon, und die beiläufige Freundlichkeit und Leichtigkeit, mit der Fremde interagieren, versetzt mich in Erstaunen. Waren die Leute hier schon immer so nett?
Ich zwinge mich dazu, mich in diese Haltung hinein zu entspannen; ein Stück weicher zu werden. In Geschäften ist die muntere, vergnügte Hilfsbereitschaft des Personals beinahe überwältigend. Als ich in der Bäckerei um die Ecke einen Laib Sauerteigbrot hole, geben mir die Mitarbeiter einen Stapel Brot und Gebäck kostenlos mit, einfach nur, weil Feierabend ist. Ihr fröhliches Lächeln ist ansteckend und mein Nein lassen sie nicht gelten. Ich bin sprachlos – eine derartige spontane Freundlichkeit von Servicekräften ist in Berlin undenkbar.
In der Zeitschleife
Der Zeitpunkt, an dem die Fremdheit ihren Höhepunkt zu erreichen beginnt, kommt jedoch irgendwann am Wochenende, als ich bei einer Party auf alte Freunde treffe. Die Partystimmung ist bestens; das altbekannte Geplänkel geht mit bemerkenswerter Leichtigkeit von der Hand; selbst die ältesten Insider-Witze sind im kollektiven Gedächtnis einwandfrei erhalten geblieben, und die unverbrüchliche Wärme, mit der diese Menschen mich jedes Mal begrüßen, egal, wie lange ich weg war, ist wirklich und wahrhaftig herzerfrischend.In der Tat ist das Befremdliche an dieser Nacht, dass sich irgendwann in den frühen Morgenstunden, inmitten der Melbourner Pop-Klassiker, dem Tanzen, den langen, leicht angeheiterten Unterhaltungen und dem endlosen Schwelgen in Erinnerungen, alles sehr normal anzufühlen beginnt. Es ist, als sei ich in eine Zeitschleife geraten und zu meinem alten Leben im Jahr 2010 zurückgekehrt; nichts hat sich verändert.
Aber genau hier liegt der Hund begraben. Denn außerhalb dieses flüchtigen Partymoments hat sich alles verändert. Die Menschen, an die ich mich von vor beinahe zehn Jahren erinnere, sind nur in mancher Hinsicht dieselben Leute. Sie leben woanders, haben andere Freunde und Partner, andere Interessen und einen ganz anderen Lebensrhythmus – einen, der sich über die vielen Jahre meiner Abwesenheit hinweg langsam, aber stetig verändert hat.
Dies ist das Kreuz, das der Fremde in der Heimat zu tragen hat. Die nostalgische Vergangenheit, nach der er sich sehnt und die er so verzweifelt wiederentdecken möchte, ist eben nichts weiter als das: ein Relikt der Vergangenheit. Die neue Schönheit, die er in seiner Heimatstadt entdeckt, ist zu einem großen Teil nur eine Urlaubs-Fata-Morgana. In nur wenigen Wochen wird er sich daran machen, wieder wegzufliegen, zurück in die Zukunft und die Realität des Arbeitslebens. Aber erst einmal wird er sich dieser gefühlsduseligen Erkenntnis hingeben und nachhause stolpern, um etwas dringend benötigten Schlaf nachzuholen. Der Hometown Stranger ist daheim; aber eben nur zu Besuch.