Der Wald in Mythen und Sagen
Wo Götter und Geister wohnen
Am Anfang war der Baum: Ob Rotkäppchen vom richtigen Weg abkommt oder wilde Männer ihr Unwesen treiben, deutsche Mythen und Sagen sind oft eng mit dem Wald verbunden. Selbst der Kosmos der Germanen wird von einem Baum symbolisiert.
Von Christa Sigg
Dass jemand freiwillig nach Germanien einwandern könne, war für den römischen Geschichtsschreiber Tacitus völlig unvorstellbar, sei das Land doch von „schrecklichen Wäldern und abscheulichen Sümpfen“ bedeckt gewesen. Obwohl er mit einiger Wahrscheinlichkeit nie einen Fuß in diesen „wilden Lebensraum“ gesetzt hat, prägt seine um 98 nach Christus entstandene ethnografische Schrift Germania bis heute die Auffassung von den rückständigen Stämmen nördlich der Alpen, die ihren Göttern nicht in Tempeln, sondern in heiligen Hainen huldigen.
Tacitus mag sich unterschiedlichster Quellen bedient haben, die Bedeutung des Waldes für die Germanen scheint allerdings eine durchgängige Beobachtung gewesen zu sein. Dazu musste der Historiker noch nicht einmal die kultische Verehrung der Bäume im Einzelnen kennen, zum Beispiel, dass Eschen dem höchsten Gott Wotan oder Odin geweiht waren und die Eiche dem donnernden Thor beziehungsweise Donar. Schenkt man der Sage um den heiligen Bonifatius aus dem 8. Jahrhundert Glauben, dann ließ der Christenmissionar nicht ohne Grund eine „Donareiche“ im hessischen Geismar fällen. Dass der Protest der alten Gottheiten ausblieb, hatte die anwesenden Friesen schwer beeindruckt.
Der Baum als Sinnbild des Lebens
Überhaupt steht am Ursprung der nordischen Mythologie ein Baum: Yggdrasil, die Weltesche, symbolisiert den gesamten Kosmos. Die Äste vereinen neun Welten, während die Wurzeln nach Asgard führen, wo die Asen oder Götter wohnen – je nach Sichtweise können sie aber genauso in den Höhen residieren. Yggdrasil verbindet Himmel, Erde und Unterwelt, der immergrüne Weltenbaum ist das Sinnbild des Lebens und des ewigen Kreislaufs von Werden und Vergehen. In Abwandlungen gibt es solche Bäume auch in den Mythen anderer Kulturen. Bei den Persern ist es der Simorgh-Baum und im Hebräischen Ez Chaim, bei den Griechen der Baum der Hesperiden, also der Nymphen, und bei den Indern ist vom Asvattha, dem Feigenbaum, die Rede.
In der Edda, der Sammlung altnordischer Sagen und Heldenlieder, taucht Yggdrasil als Versammlungsort der Götter auf, die sich hier beraten und Recht sprechen. Ganz entfernt könnten die mittelalterlichen Gerichtseichen oder -linden darauf zurück gehen. Ein knorriger alter Baum stellt ja grundsätzlich etwas Imposantes dar, seiner Wirkung kann sich kaum jemand entziehen, erst recht nicht, wenn sich gleich ein ganzer Wald auftut – unübersichtlich, dunkel und geheimnisvoll. Denn wer weiß schon, was sich hinter dem nächsten Baum verbirgt oder woher das plötzliche Rascheln im Unterholz kommt.
Der perfekte Schauplatz für Mythen und Sagen
Wer sich jemals im Wald verlaufen hat, womöglich noch in der Dämmerung, braucht keinerlei Krimi-Erfahrung, um sich zu gruseln. Der Schauplatz könnte also kaum besser sein für Mythen und Sagen. Und was wären die Märchen der Gebrüder Grimm ohne den Wald? Rotkäppchen begegnet dort dem Wolf, die verirrten Hänsel und Gretel stoßen im Dickicht der Fichten auf ein Lebkuchenhaus, und unter einer alten Linde findet sich der verzauberte Brunnen des Froschkönigs. In etwa der Hälfte der Grimmschen Kinder- und Hausmärchen spielt der Wald eine zentrale Rolle. Hier hausen Bestien und Bösewichte, Hexen oder das Rumpelstilzchen, ein zauberkundiges kleines Männchen, das sich nur zu gerne das Kind einer zur Königin aufgestiegenen Müllerstochter holen würde.
Ob zwergenhaft klein oder riesengroß, die „wilden Männer“ gehören zum klassischen Personal der Sagen. Zivilisationsscheue Waldmenschen oder Waldschrate werden eher als grobschlächtig geschildert, sind mit ungeheurer Kraft ausgestattet und am Leib mit Fell bedeckt. Eine Keule oder Rute schwingend treten sie vor allem im Alpenraum auf. Und in der Adventszeit kann daraus auch ein Krampus werden, der nicht nur in Bayern und Österreich, sondern genauso in Tschechien oder Kroatien den heiligen Nikolaus begleitet.
Eine Ausnahmeerscheinung ist dagegen der hünenhafte Rübezahl, der rastlos durchs schlesische Riesengebirge wandert und mit seiner Unstetigkeit für das wechselhafte Wetter der Region verantwortlich gemacht wird. Allein von diesem Berggeist gibt es unzählige Geschichten, die kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind. Das macht aber auch den Reiz dieser urwüchsigen Gesellen aus, die eben nicht festzuzurren sind. Und wenn doch, dann sterben sie wie der wilde Mann aus dem Harz, in dessen Höhle eine Erzader gefunden wurde. So hat man sich in der Gegend die Anfänge des Bergbaus erklärt.
Zottelige Waldfiguren und Birkenstämme im Brauchtum
Überbleibsel von diesen ungebändigten Waldfiguren leben in der süddeutschen Fasnacht und besonders in den Raunächten zwischen Weihnachten und Dreikönig wieder auf, das heißt, zwischen dem 25. Dezember und dem 6. Januar. Als zottelige Schreckensgestalten ziehen sie mit viel Getöse umher, um durch den Lärm die bösen Geister zu vertreiben. Gleiches wird quasi mit Gleichem bekämpft – und bietet ganz nebenbei gute Gelegenheit, über die Stränge zu schlagen. Ähnliches gilt für die Bräuche rund um den Maibaum: vom Aufstellen des bunt geschmückten Birken- oder Fichtenstamms bis zur alkoholintensiven Bewachung oder dem Baumstehlen durch die Burschen der jeweiligen Nachbargemeinde. Das im 13. Jahrhundert erstmals in Aachen dokumentierte Ritual, das heute von Ostfriesland bis in die Schweiz und von der Oberlausitz bis ins Saarland bekannt ist, wird gerne auf germanische Kulthandlungen zurückgeführt. Wenn es um Bäume geht, sind solche Verweise naheliegend. Stimmen müssen sie trotzdem nicht immer. Denn wo viel Wald ist, wird auch viel in den Wald hineingedeutet.