Schulalltag in Estland
Als russisches Kind in einer estnischsprachigen Schule. Meine Geschichte

Auf den Bildern eine junge Frau, die allein traurig und mit anderen glücklich ist.  Das erste Bild zeigt eine junge Frau, die traurig ist, wenn sie alleine ist. Auf dem zweiten Bild ist sie in Gesellschaft und glücklich.
Integration erfordert mehr gegenseitiges Zuhören. | © Marite Kuus

In Estland soll der Unterricht für alle auf Estnisch erfolgen, jedoch sollte die gemeinsame Schule auch die Bedürfnisse und Rechte russischsprachiger Kinder berücksichtigen.

Von Alice Gorobets

Hallo, mein Name ist Alice und ich bin Russin. Ich nehme an, die Leute möchten, dass ich mich ihnen so vorstelle, damit sie stark überrascht sind und sich ein wenig getäuscht fühlen. In Wirklichkeit versuche ich, meinen Hintergrund so lange wie möglich zu verbergen. Teils, weil ich mich schäme, teils weil ich sehe, dass es ohne Schubladen für mich einfacher ist, und teils, weil ich nicht mehr weiß, wer ich bin. Tatsächlich habe ich die meiste Zeit meines Lebens mit dieser Identitätskrise gelebt.

Wie kam es dazu?

Meine nationale Identitätskrise begann, als ich in den Kindergarten ging. Bis ich vier Jahre alt war, besuchte ich einen russischsprachigen Kindergarten, aber nach langem Überlegen beschloss meine Mutter, entgegen der Meinung aller ihrer Freund*innen, mich in eine estnischsprachige Schule zu schicken. Dazu war der Besuch eines estnischsprachigen Kindergartens erforderlich. In gewisser Weise war der Besuch eines estnischen Kindergartens und einer estnischen Schule damals wahrscheinlich die beste Wahl für mich. Ohne sie wäre ich heute an einem ganz anderen, vielleicht sogar noch schlimmeren Ort.

In der Vorschule hatte ich eine Freundin. Wir wurden schlichtweg Freundinnen, weil wir aus russischen Familien stammten. Wir wurden beide bestraft und im Klassenbuch vermerkt, wenn wir in der Schule Russisch untereinander sprachen. Gemeinsam hingen wir mit dem Unterrichtsstoff hinterher, da es erschöpfend war, in mehreren Sprachen gleichzeitig zu denken und zu arbeiten. Eine Sonderbehandlung bekamen wir nicht.

In der Grundschule begannen die Leute zu erkennen, dass ich nicht so beängstigend und fremd war, aber anstatt mich so zu akzeptieren, wie ich war, versuchten sie, mich in ihre eigene Schublade zu stecken. Wenn in der Pause ein Witz über Russen*innen oder wie man sie auch nennt „Zwiebeln“ gemacht wurde und ich dazu sagte, dass mich das verletzte, wurde das Problem gelöst, indem sie einfach sagten: „Aber du bist doch Estin.“ Ich stimmte dieser Aussage zu und ging später auf die Witze ein. Heute ist mir das vor meinen Eltern sehr peinlich. Als sensibler und junger Mensch habe ich Freund*innen meiner Familie und Nationalität vorgezogen. Immerhin waren noch andere russische Kinder in der Klasse, und obwohl wir wenig miteinander sprachen, waren wir füreinander eine dringend notwendige Stütze.

Der Staat will die Nationalität wissen

Am Gymnasium wechselte ich die Schule und war plötzlich die einzige von 30 Schülern*innen in der Klasse, deren Muttersprache nicht Estnisch war. Es war schwierig, weil ich mich anders und fremd fühlte. Offensichtlich hatte es keinen Sinn, den Russischunterricht zu besuchen, aber es gab kein Programm, das den Russischunterricht hätte ersetzen können. Somit saß ich während des Russischunterrichts meistens allein auf dem Flur.

Andere beneideten mich darum und ich sagte mir oft, sie wollten so sein wie ich. Obwohl sie es nicht böse meinten, verletzten mich diese Kommentare. Sie sahen oder realisierten nicht, wie unangenehm es für mich war, ständig anders zu sein. Obwohl ich versuchte, darüber zu sprechen, hatte ich dennoch das Gefühl, dass es nicht wahrgenommen wurde.

An der Universität hatte ich die Möglichkeit, mit mehr Menschen zu sprechen und auch mit mehr Russen*innen in Kontakt zu kommen. Sie haben mich jedoch auch nicht akzeptiert. Ich erinnere mich noch gut daran, wie mir ein junger Russe sagte, ich könne mich nicht Russin nennen, weil ich auf eine estnischsprachige Schule gegangen bin. Diese Aussage erschien mir absurd, aber jetzt verstehe ich ihn. Er steht der russischen Sprache und Kultur viel näher als ich.

Aber wer bin ich denn? Für Esten*innen bin ich „diese temperamentvolle Russin“, aber für Russen*innen bin ich Estin, weil mein Bildungsweg ein anderer ist. So schwebe ich in einem nationalen Krisen-Limbo, wo ich gleichzeitig beides und nichts davon bin. Ich möchte mich nicht entscheiden, weil beides Vor- und Nachteile hat, wobei ich trotzdem oft diese Wahl treffen muss. Zum Beispiel will der Staat wissen, welcher Nationalität ich angehöre. Das wird überraschend viel gefragt. Sei es auf dem Wohnheimantragsformular, bei den Angaben von eesti.ee oder sogar auf der Heiratsurkunde.

Ich erwarte Veränderungen in der Politik

Warum gehen wir den alten Weg, wenn viele mit der aktuellen Regelung nicht zufrieden sind? Vielleicht wird davon ausgegangen, dass Politiker*innen wie immer die Verantwortung tragen und der*die Durchschnittsbürger*in nichts tun kann. Aber auf welcher Grundlage entscheiden Politiker*innen? Immer noch unter Berücksichtigung der Wünsche und Bedürfnisse ihrer Wähler*innen. Indem wir unsere Geschichten, Erfahrungen und Meinungen teilen, können wir eine Gesellschaft aufbauen, in der es mehr Leuten gutgeht und sich immer weniger allein fühlen. Einer der Gründe, warum ich überhaupt Artikel schreibe, ist das Gefühl der Einsamkeit, das ich niemandem wünsche.

Natürlich gibt es an der Universität eine buntere Gesellschaft: die, die aus einer Großstadt oder aus einem kleinen Dorf kommen oder gar aus dem Ausland. Mehr Erfahrungen bedeuten auch mehr Meinungen und das bringt auch den estnischen Integrationsdiskurs voran. Ich studiere Politikwissenschaft, wo leider sehr wenig über Integration geredet wird. Sollte Integration dennoch zur Sprache kommen, haben Angehörige nationaler Minderheiten nach wie vor die stärkste Stimme. Andere schweigen oft. Warum? Liegt es daran, dass Esten*innen nicht an Integration interessiert sind oder sie keinen Nutzen darin sehen? Oder sind diese Gespräche zu unangenehm und peinlich? Wenn ich mich für meinen Hintergrund schäme, kann ich leider nicht erwarten, dass andere für mich einstehen oder mich unterstützen. Ich habe mich für Politikwissenschaft entschieden, um eine Antwort auf die Frage zu finden, wie man Politik und Gesellschaft verändern kann, damit es Menschen wie mir in Estland besser geht.

Ich brauche die russische Sprachpraxis

Mit Tränen in den Augen muss ich peinlich gerührt zugeben, dass meine Muttersprache mit jedem Jahr schlechter wird. Mit jedem Jahr fällt es mir schwerer, mit meinen Eltern zu sprechen und ich setze beim Schreiben immer mehr auf die Technik und Autokorrektur. Dies ist die traurige Realität vieler nationaler Minderheiten in Estland. Während die Esten*innen befürchten, dass die Existenz der Russen*innen ihre Sprache und Kultur auslöschen wird, geschieht dies in Estland mit der russischen Sprache und Kultur seit langem. Ich glaube, dass meine Lebenserfahrung ein gutes Beispiel dafür ist, dass die praktische Anwendung nicht nur zum Erlernen einer Sprache, sondern auch zum Erhalten von Sprachkenntnissen notwendig ist.

Dabei gibt es viele Bedenken: Wo soll man zum Beispiel anfangen? Wo studieren oder lernen? Wie viel sollte für Menschen entschieden werden? Ich bin eine starke Befürworterin des estnischen Bildungssystems, aber die Änderung der Unterrichtssprache allein reicht nicht aus. Es muss darüber nachgedacht werden, wie sichergestellt werden kann, dass Jugendliche anderer Nationalitäten die Möglichkeit haben, ihre Muttersprache zu sprechen, und wie es ihnen ermöglicht wird, ihre nationale Identität beim Erlernen einer anderen Sprache zu bewahren. Ich habe zwar Sprachkenntnisse erworben, aber mein Selbstbild hat stark gelitten, weil das System, in dem ich lernte, nicht auf mich zugeschnitten war. Ich bin jedoch optimistisch und glaube, dass wir, wenn wir über Integration reden und einander mehr zuhören, endlich eine Lösung finden, die besser funktioniert als das derzeitige System.

Der Artikel erschien 2021 im estnisch-russisch-deutsches Webmagazin Samovar. Im Fokus stehen junge Stimmen, Perspektiven und Meinungen mit Themen von und für Jugendliche.

Webmagazin Samovar

Top