Erzwungene Migration
„Man kann wählen: Entweder schläft man auf dem Boden oder in einem Eisenbett“
Die Geschichte einer belarussischen Aktivistin, die aufgrund der politischen Krise im Land zur Emigration gezwungen wurde.
Von Anastassija Bondarenko
Im August 2020 kam es in Belarus aufgrund gefälschter Präsidentschaftswahlen zu einer politischen Krise. Der Präsident wurde von der Bevölkerung nicht anerkannt, und es gab den Versuch der Revolution.
Anja ist 20 Jahre alt und eine belarussische studentische Aktivistin.
„Ich interessierte mich schon vor den Protesten für Politik. Seit ich 17 Jahre alt war, nahm ich an Kundgebungen gegen die Integration mit Russland sowie an Protestaktionen teil, aber die Ereignisse im Jahre 2020 veränderten mein Leben sehr, jetzt nehme ich mich selbst ganz anders wahr.
Als die Ereignisse geschahen, war ich im dritten Studienjahr an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften in Belarus. Ich nahm an Kundgebungen, Protestaktionen, also an allen Veranstaltungen teil. Die Miliz wurde in allen Lehrgebäuden in Bereitschaft versetzt Die Lehrer haben unser Vertrauen missbraucht, sind auf uns zugegangen, haben Informationen über uns herausgefunden und diese dann weitergegeben. Der Pro-Rektor rief die OMON (Miliz-Einheit besonderer Bestimmung), als wir auf der Treppe saßen und protestierten. Die Protestmärsche wurden zerstreut. Das war schwer, es war schon sonst nicht sicher genug, und dann legte die Verwaltung noch Steine in den Weg. Ich organisierte Kundgebungen, Protestaktionen, Märsche und Flashmobs. Meine Eltern wurden zu einem Gespräch zur Leitung bestellt, als ob ich in der Schule wäre. Ich studierte einige Monate lang in einem solchen Stresszustand. Es gab ständige Verweise, Erziehungsgespräche mit psychologischem Druck, Erpressungen und Drohungen.
Eines Tages stellte mir der Dekan ein Ultimatum: Entweder ich gebe eine Liste der Aktivist*innen in der Universität heraus, die an Protesten teilnehmen, oder ich studiere nicht mehr hier. Ich antwortete, dass ich den Platz an der Universität nicht brauche, wenn ich meine Kommiliton*innen verpfeifen muss, um zu studieren. Danach bekam ich einen Verweis, und bei uns kann ein Verweis theoretisch zur Exmatrikulation führen. Damals wurde ich nicht exmatrikuliert, wahrscheinlich gab es keinen objektiven Grund dafür, aber so fand der Dekan ein Druckmittel gegen mich.
Die Kundgebungen fanden im August statt und dauerten bis in den Herbst hinein. Im November wurden Blend- und Rauchgranaten zur Auflösung der Demonstrationen eingesetzt. Ich bekomme immer noch Flashbacks bei lauten, plötzlichen Geräuschen. Die Proteste wurden gewaltsam gestört, einige Menschen wurden festgenommen, andere flohen aus dem Land, zahlreiche Strafverfahren wurden eingeleitet. Im Winter klangen die Proteste ab, es gab keine großen Demonstrationen. Und dann kam der Frühling. Am 25. März feiern die Belarussen den Tag der Freiheit. Es wurden Kundgebungen geplant, und ich beschloss natürlich, daran teilzunehmen. An diesem Tag gelang es den Demonstrierenden nicht, sich zu versammeln. Meine Freunde und ich fuhren durch die Stadt mit dem Ziel, sich an Protestaktionen zu beteiligen. Ich bemerkte Gefangenentransporter und beschloss, ein Foto zu machen. Ich stand in Kontakt mit dem Redakteur eines unabhängigen belarussischen Nachrichtenportals und berichtete von der Situation in der Stadt – wo sich die Gefangenentransporter befanden und wo die Vertreter der staatlichen Sicherheitskräfte waren, damit sich die Menschen in der Stadt orientieren konnten. Die Sicherheitsbeamten rannten auf mich zu, brachten mich in den Gefangenentransporter, nahmen mir das Handy weg, fanden bei der Untersuchung des Handys das Belastungsmaterial, nämlich Screenshots und Fotos von Protestmärschen. Sie fanden das, was sie suchten.
Sie brachten mich in die Abteilung der Miliz, bearbeiteten mich lange, hielten mich im Untersuchungsgefängnis fest und wiesen mich nachts in ein Isolationszentrum für Straftäter ein.
Der Ort heißt Okrestino und ist eine sehr berüchtigte Haftanstalt in Belarus. Das ist derselbe Ort, an dem Menschen geprügelt und gefoltert wurden, an dem die Inhaftierten ins Krankenhaus eingeliefert wurden, und dorthin wurde ich auch gebracht. Das Schlimmste bei solchen Transporten ist, dass man nicht weiß, wohin man gebracht wird und was als Nächstes passiert. Ich verbrachte zwei Tage vor der Gerichtsverhandlung in Okrestino.
Der Gerichtsprozess fand über Skype statt. Ich sah weder den Richter noch meine Eltern, die zur Verhandlung kamen. Die Sicherheitsbeamten brachten mich von einer Zelle in eine andere, sagten, dass jetzt eine Verhandlung stattzufinden hat, und schalteten den Computer ein. Die Verhandlung dauerte 10-15 Minuten. Schon beim Gerichtsprozess erfuhr ich, dass ich einen Anwalt hatte (meine Eltern beauftragten einen, als ich zwei Tage im Gefängnis war, was für mich ein Schock war). Aber ein Anwalt kann in unserem Land nichts beeinflussen, die Urteile sind bereits im Voraus bekannt. Der einzige Vorteil ist die moralische Unterstützung. Wenn man merkt, dass es reiner Blödsinn ist, und wenn wenigstens ein kluger Mensch das auch mitbekommt, wird es leichter. Er erzählte mir von meinen Eltern und sagte, dass es ihnen gut gehe (ich hatte seit der Festnahme keinen Kontakt zu ihnen).
Die Verhandlung wurde beendet. Es gab falsche Zeugen mit falschen Vor- und Nachnamen, die Sturmhauben trugen. Das waren nur verkleidete Milizionäre, die verwirrt aussagten, wo ich festgenommen wurde und was ich in jenem Moment tat. Ich verstand, dass sie keine echten Zeugen waren. Im Protokoll stand, dass ich in einer Gruppe von Menschen mit Flaggen ging, mich an Mahnwachen beteiligte und „Lang lebe Belarus“ rief, obwohl ich allein war und ein Foto von einem Gefangenentransporter machte. Natürlich stand im Protokoll blanker Unsinn. Ich erkannte meine Schuld nicht an und war mit diesem Affenzirkus nicht einverstanden. Ich wurde zu 15 Tagen Gefängnis verurteilt und dann in eine andere Haftanstalt verlegt.
Im Gefängnis kann man wählen: Entweder schläft man auf dem Boden oder auf einem Eisenbett. Es gab keine Matratzen oder Decken. Es wurde ein ständiger moralischer Druck ausgeübt, die Gefängniswärter behandelten uns schlecht, es machte ihnen Spaß, uns zu erschrecken. Jedes Mal, wenn sie in die Zelle hereinkamen, mussten wir mit dem Gesicht zur Wand, die Hände auf dem Rücken haltend, stehen. Sie schlugen mit ihren Schlagstöcken auf Tische, drohten und holten zum Schlag aus, das waren die sogenannten „Erziehungsarbeiten“.
Das Schrecklichste war, dass ich bei den Schreien von Männern, die aus Fluren drangen, einschlafen musste. Die Männer wurden dort sehr schwer geschlagen. Wir wussten immer, wenn neue Menschen kamen, denn wir konnten hören, wie sie geschlagen wurden. Für mich war es fast kein Problem, auf dem Boden zu schlafen, nichts zu essen und nicht duschen zu dürfen, aber mit den Geräuschen der Misshandlungen konnte ich mich nicht abfinden.
Eines schönen Tages wurde ich aus dem Gefängnis entlassen. Ich wurde sofort von der Universität exmatrikuliert. Man sagte, dass das Unterrichtsversäumnis während meiner Haft als unentschuldigt galt. Wir verstanden, dass diejenigen, die im Gefängnis waren, exmatrikuliert wurden.
Die Schrauben wurden fest angezogen, die Menschen waren erschrocken, die ganze Gesellschaft war verstummt. Aber ich gab mein Bestes. Wir schrieben Briefe an politische Gefangene, verbreiteten Flugblätter und Aufkleber in verschiedenen Stadtbezirken, veranstalteten anonyme Unterstützungsaktionen, das war mehr oder weniger sicher. Die Menschen wurden verhaftet, nur weil sie weiß-rot-weiße Socken trugen, weil sie einen Kasten in den Farben der Oppositionsflagge in ihrem Fenster hatten. Jeden Tag gab es Nachrichten über Festnahmen, es wurden immer mehr Strafverfahren statt Verwaltungsverfahren eingeleitet, es gab Probleme bei meinen Bekannten. Ich lebte mit dem Gefühl, dass ich die Nächste sein würde.
Für mich wurde der Tag, an dem ich einen Streifenwagen vor meinem Haus sah, zu einem Wendepunkt. Ich erlitt damals eine schwere Panikattacke und schlief nicht mehr zu Hause. Es ist psychologisch schwierig, ständig in Angst zu leben. Meine Eltern wussten, was sie tun müssten, wenn die Miliz käme, um mich festzunehmen und sie zu Hause wären oder nicht. Ich habe mit ihnen über all diese Möglichkeiten gesprochen.
Damals kam die Miliz zu denjenigen, die schon vorher im Gefängnis waren, und begann, sie wieder zu verhaften und neue Strafverfahren zu eröffnen. Es wurden diejenigen ermittelt, die sechs Monate zuvor an Kundgebungen teilgenommen hatten. Die Personen wurden anhand von Gesichtern in Kameraaufnahmen identifiziert. Es gab spezielle Leute – Spitzel. Das waren Milizionäre, die als Zivilisten verkleidet waren. Es wurde mir klar, dass ich wahrscheinlich bereits in Datenbanken registriert war. Es war sehr schwer, mit dem Gefühl zu leben, dass jeder Tag in Freiheit der letzte sein könnte.
Meine Eltern überredeten mich zu einem Umzug, weil sie sehr beunruhigt waren. Es überlief mich heiß und kalt, wenn jemand an der Tür klingelte und ich von einer unbekannten Nummer angerufen wurde. Meine Bekannten flohen aus dem Land, und ich zögerte die Abreise hinaus. Ich glaubte, dass ich bis zum Letzten kämpfen musste. Dann wog ich das Für und Wider ab und verstand, dass ich so verrückt werden könnte.
Damals erfuhr ich, dass es ein Programm für geflüchtete und verfolgte Studierende aus Belarus gibt, die das Studium im Ausland fortsetzen möchten. Alles führte zu einer einzigen Entscheidung, nämlich zum Umzug.
Eines Tages packte ich meine Sachen ein, zog in die Ukraine und lebte dort einige Monate. Damals war es unmöglich, Belarus ohne Grund zu verlassen, denn es wurde ein Ausreiseverbot eingeführt und nur unbedingt notwendige Reisen erlaubt. Ich unterzeichnete einen gefälschten Vertrag mit einem falschen Reiseveranstalter. Gemäß diesem Vertrag war ich Statistin in Filmen und arbeitete mit dieser Firma zusammen. Ich bezahlte dafür, das Land zu verlassen.
Jetzt studiere ich in Polen im Rahmen des Programms für geflüchtete und verfolgte Studierende, das ist ein tolles Programm. Es bietet ein Stipendium, eine Unterkunft und die Möglichkeit, das Studium kostenlos fortzusetzen. Ich lernte meinen jetzigen Ehemann in der Emigration kennen. Er ist auch ein Aktivist, ein verfolgter Belarusse. Ich lebe schon ein Jahr lang im politischen Exil. Ich habe meine Familie, meine Freunde und mein Zuhause seit einem Jahr nicht gesehen.“
Webmagazin Samovar