Verlassene Gebäude
Potenziale einer verstreuten Stadt
Die Altstadt von Tallinn mit ihrer überwiegend mittelalterlichen Struktur ist umschlossen von Wohn- und Industrieanlagen unterschiedlicher Epochen. Machtwechsel und radikale Veränderung der Eigentumsverhältnisse, Rückgang oder Umzug der Industrie haben einen städtischen Raum geschaffen, der oftmals außerordentlich kontrastreich ist. Zur Sowjetzeit entwickelten Städte sich nach außen, und daher ist dem Stadtkern von Tallinn bisher eine gewisse Verstreutheit eigen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde ein großer Teil des Grundbesitzes der Stadt privatisiert, und die vollkommen gegensätzliche Einstellung zweier Staatsmächte zur Raumordnung ist im Stadtraum leicht ablesbar. Nach Wiederherstellung der Unabhängigkeit trat die Entwicklung der Stadtmitte erneut in den Vordergrund. Tallinn ist eine Seestadt, doch nach einer freundlichen Beziehung zur Küste mit einem guten Design sucht man schon seit Jahrzehnten. All diese Charakteristika Tallinns spiegeln sich auch in den zeitweiligen Herangehensweisen.
Eine zeitweilige Raumnutzung, von alltäglichen Praktiken und saisonal bedingten Möglichkeiten bis hin zu Visionen eines alternativen Raumordnungssystems sind ein wichtiges und vielgestaltiges urbanes Phänomen. „Zeitweilig“ ist ein Begriff, der sich gewöhnlich an Orten und Gebäuden festmacht, von denen man sagen könnte, dass sie verlassen sind, ihre Funktion verloren haben. Obgleich theoretisch die meisten Erscheinungen und Raumordnungspraktiken in einer Stadt als zeitweilig angesehen werden können (so sehen beispielsweise Leitplanungen 20 bis 50 Jahre in die Zukunft), besteht die Besonderheit des „zeitweiligen Urbanismus“ darin, dass nicht nach einer vollkommenen Lösung gesucht wird, sondern nach einer Anpassung des Raumes – man nähert sich dem Raum taktisch an, nicht strategisch.
Die Propagierung zeitweiliger Lösungen im städtischen Raum ist in Tallinn so wie anderswo in der Welt verbunden mit der stets wachsenden aktiven Einwohnerschaft. Obwohl man sich alternativer Raumordnungspraktiken bei der Belebung verlassener Gebäude oder Gegenden oft bewusst ist, lässt sich doch sagen, dass Stadt, Planer und Vereine der Zivilgesellschaft selten (aber immer öfter) an einem Tisch zusammenkommen. Somit handelt es sich bei allen mehr oder weniger erfolgreichen zeitweiligen Projekten in Tallinn eher um Einzelbeispiele als um eine bewusste Annäherung an den städtischen Raum. Eine moderne Zusammenarbeit, die Stadtverwaltung, Planer und Vereine der Zivilgesellschaft verbinden würde, ist erst im Entstehen begriffen. Ungeachtet des theoretischen Enthusiasmus scheint es jedoch so zu sein, dass die allgemeine Entwicklungsrichtung in der Städteplanung alternative Visionen noch nicht aktiv berücksichtigt. Das Fehlen eines programmatischen Konzepts bedeutet jedoch nicht, dass zeitweilige Nutzungen im städtischen Raum nicht vertreten sind.
Ein wachsendes Bewusstsein für zeitweilige Lösungen als Belebung des städtischen Raums entstand 2011, als Tallinn Europäische Kulturhauptstadt war. Ein wichtiger Teil des Programms war ein Projekt namens Festival der Stadtinstallationen LIFT11, dessen Werke auf interessante und widersprüchliche Orte und Themen im städtischen Raum aufmerksam machten. In den folgenden Jahren kamen immer mehr zeitweilige Projekte dazu.
Im Folgenden werde ich sechs interessante Beispiele aus Tallinn beschreiben, von denen jedes unterschiedliche Aspekte der Zeitweiligkeit veranschaulicht. Es ist ebenfalls wichtig, auf die mit der Zeitweiligkeit verbundenen Gefahren zu verweisen – neben den durch kulturelle Motivation den städtischen Raum belebenden Projekten bleibt der soziale Aspekt der Zeitweiligkeit oft unbemerkt. Ob der Wert zeitweiliger Projekte direkt mit der Zeitweiligkeit selbst verbunden ist oder ob Stadtaktivisten und -planer eher nach einem radikal anderen Konzept zur Entwicklung des städtischen Raumes suchen, ist eine Frage die schwer zu beantworten ist.
AUF DER SUCHE NACH EINER NEUEN IDENTITÄT
Die Stadthalle – ein schwer neu zu definierendes Wahrzeichen
Die Stadthalle von Tallinn ist ein wichtiges Wahrzeichen. Die zu den Olympischen Spielen von 1980 erbaute Konzerthalle bezeichnete geradezu ein neues Zeitalter in der Entwicklung der Stadt. Das Gebäude mit seinem effektvollen und enormen Design gab den Stadtbewohnern erstmals die Möglichkeit im Stadtzentrum mit dem Meer in Berührung zu kommen. Die Halle diente als Konzertsaal (zusätzlich fanden sich im Gebäude noch eine Eislaufhalle und ein legendärer Nachtclub) bis zum Jahre 2006, als das Gebäude geschlossen wurde. Die Suche nach einer neuen Funktion für das zu einem konkretem Zweck angelegte, massive Gebäude erwies sich jedoch als äußerst schwierig. Ab und zu tauchen Entwickler auf, die an dem in Stadteigentum befindlichen Gebäude interessiert sind, doch aus den unterschiedlichsten Gründen verlaufen die Pläne im Sand. In seiner gegenwärtigen Form verfällt das Gebäude zusehends. Ein täglicher Zugang zur Stadthalle ist nicht möglich, doch von Zeit zu Zeit öffnen sich die Türen für eine Ausstellung, eine Performance oder für Dreharbeiten zu einem Film. Auf der Rückseite des Gebäudes befindet sich nach wie vor ein Nachtclub und von dort fahren die Schnellboote nach Finnland und zurück. Einige Ecken und Treppen haben sich zu einer beliebten Bleibe für Obdachlose entwickelt. Das leicht zugängliche Dach des Gebäudes ist einer der wichtigsten Treffpunkte für die Jugendlichen der Stadt, eine Leinwand für Graffiti, eine Sehenswürdigkeit für den nach Ausblicken suchenden Touristen. Die Stadthalle lässt sich als Beispiel für eine von allein entstandene zeitweilige Nutzung ansehen – die Stadt, der die Halle gehört, sucht nach einer dauerhafteren Lösung, doch solange die nicht vorhanden ist, lebt das eindrucksvolle Gebäude (oder zumindest dessen Außenseite) ein Eigenleben. Eine Art Unorganisiertheit und das leicht zugängliche Dach haben das Gebäude zu einem der wertvolleren öffentlichen Räume in der Stadt werden lassen.
Seefestung und Gefängnis Patarei – vielseitiger öffentlicher Raum
Die historische Seefestung Patarei wurde 1840 als Festungsbau fertiggestellt und hat heute den Status eines Kulturdenkmals. Das Gebäude wurde ab 1920 als Gefängnis genutzt und behielt diese Funktion bis 2002 bei. Das Gefängniskrankenhaus und einige weitere Einrichtungen befanden sich sogar noch bis 2005 in dem Gebäude. Ähnlich wie die Stadthalle ist das ehemalige Patarei-Gefängnis ein in der Innenstadt, am Ufer des Meeres gelegenes, seiner ursprüngliche Funktion entbundenes enormes Wahrzeichen. Seit der Schließung des Gefängnisses mit seinen äußerst schlechten Bedingungen wurde nach einer neuen Rolle für die Seefestung gesucht. So erwog man noch vor kurzem einen Umzug der Estnischen Kunstakademie in das Patarei-Gefängnis. Doch blieb das Finden einer neuen beständigen Identität für den dem Staat gehörenden Festungsbau bisher ein unerreichtes Ziel, obwohl die Patarei-Seefestung bereits mehrere Male zum Verkauf stand. Heute befindet sich auf dem Gelände der Patarei ein Kulturpark, ein Museum und ein saisonaler Strand, was sehr anschaulich das Verhältnis Tallinns zum Meer beschreibt – zwischen Festungsmauern und Meer liegt der vom Meer durch Stacheldraht getrennte Sandstrand. Die Räume des Gefängnisses bieten aber Gelegenheit zu echtem Schocktourismus und fungieren als eine eigene Art Museum, in dem die Exponate sich nicht in Glasvitrinen befinden oder von der Vergangenheit saubergepinselt wurden, sondern an ihrem ursprünglichen Ort ein Bild von den schweren Bedingungen im Gefängnis zeichnen. Ebenso wird das Gelände der Seefestung für Einzelereignisse genutzt: Ausstellungen, Theatervorstellungen, Festivals und Konzerte. Es klingt ironisch, doch das von den Wohnvierteln abgesonderte ehemalige Gefängnis erzeugt ein gewisses Gefühl von Freiheit.
Das Kino Helios – eine zeitweilige Bühne
Befindet sich der größte Teil der verlassenen Räume, die auf eine Umdefinierung warten, sich außerhalb der Altstadt, in späteren Raumschichten, so verbirgt sich eine schwierige, veränderliche, wachsende und sich entwickelnde Umwelt auch in den Straßen der Stadt mit ihrer mittelalterlichen Struktur. Ein interessantes Beispiel ist das ehemalige Kino Helios in der Altstadt von Tallinn, in der Sauna-Straße, welches seit 1990 leersteht und erst jetzt, wo zeitweilige Nutzungen immer mehr an Sichtbarkeit und Erwägbarkeit gewinnen, sich neue Identitäten zulegt. Ausgehend von seiner Lage und der Vergangenheit als Kino, sind die Räume des Helios gerade als Ort für Vorstellungen spannend. Die lange Zeit des ungenutzt Stehens hat natürlich Auswirkungen auf das Gebäude gehabt – die Konstruktionen des Gebäudes sind abgenutzt, es zeigt Feuchtigkeitsschäden, eine Zeit lang hatten überhaupt die Tauben das Gebäude übernommen. Sind Patarei und Stadthalle beide in öffentlichem Besitz, so ging das Kino Helios wieder in Privatbesitz über. Das Finden einer bleibenden neuen Identität (geplant war unter anderem eine Umgestaltung des Gebäudes zu einem Nachtclub) stockte jedoch immer wieder. Momentan hat das Gebäude als zeitweilige Nutzung eine neue, wenn auch schon bekannte Funktion als Theaterbühne erhalten. Dieses Jahr wurde dort beispielsweise „Das Bildnis des Dorian Gray“ in einer Inszenierung des Puppentheaters aufgeführt.
Die Linien von Kopli – eine verlassene Wohngegend auf der Suche nach dem Ideal
Die Linien von Kopli sind eine widersprüchliche Wohngegend, die im Gegensatz zu den typischen Entwicklungen in den 1990er Jahren nicht privatisiert wurde, und deren Gebäude nach wie vor der Stadt gehören. Es handelte sich zunächst um eine bewusste Entscheidung seitens der Stadt, da man in dem Gebiet eine potenzielle Lukrativität sah. Die Gegend besteht aus Wohnhäusern, die Anfang des 20. Jahrhunderts für Werftarbeiter errichtet wurden. Die Linien werden auch von der Eisenbahn durchquert. Die Linien waren von Anfang an ein schwieriger Ort, doch in den letzten Jahrzehnten haben sie sich zu einem undurchsichtigen Milieu nicht-amtlicher Einwohner und ungesetzlicher Tätigkeiten entwickelt. Die Strategie der Stadt bestand in einer Umsiedlung der Einwohner und der ständigen Suche nach einem neuen Entwickler. Das Finden eines Verehrers erwies sich aus mehreren Gründen als schwierig – problematisch ist vor allem, dass das Gebiet vollständig neue Infrastrukturnetze benötigt. Die Vorstellung, aus dem seenahen Gebiet könnte eines Tages eine begehrte Wohngegend werden, wurde zu einem Hindernis für bewusst geplante zeitweilige Nutzungen. Der lange Zeitraum, in dem für das Gebiet eine Vision fehlte und nur die Vorstellung eines bestimmten Ideals bestand, erzeugte eine sozusagen „endlos zeitweilige“ Situation, in der die Einwohner vor Ort keinen Grund mehr sahen, in ihre Wohnbedingungen zu investieren. Obwohl offiziell niemand mehr auf den Linien von Kopli wohnen sollte, sind diese nach wie vor attraktiv für Obdachlose und oftmals äußerst gefährlich (so sind dort Brände relativ üblich). Entwickler sind an bewohnten Gebieten nicht interessiert, und so scheint die Zeitweiligkeit Veränderungen nicht zu ermöglichen sondern zu verhindern. Die Praxis zeigt, dass zeitweilige Nutzungen oftmals beständiger sind als man annimmt. Derartige Fälle von andauernder Zeitweiligkeit zeigen, dass Theorie und Praxis oftmals auseinandergehen. Zeitweiligkeit ist oft keine bewusste alternative Planungsmethode, sondern eine halbbeständige problematische Situation. Das Herangehen an die Linien von Kopli lässt sich als ein „taktisches Nicht-Herangehen“ betrachten – die Entwicklung des Gebietes wird der internationalen Marktsituation überlassen.
Innerstädtische Freiflächen
Verlassene Gebäude sind in Tallinn eher die Ausnahme als die Regel, wobei mehrere negative Faktoren zusammenkommen – Verlust der Funktion, Komplexität der Besitzverhältnisse, mangelhafte Infrastruktur, die Auswirkungen der Wirtschaftskrise usw. Eine Situation, die Tallinn gleichsam deutlicher charakterisiert, ist das Vorhandensein zahlreicher innerstädtischer Freiflächen, Gebiete, deren Entwicklung sich zu einer über Jahre andauernden Saga entwickelt hat. Besonders kontrastreich zeigt sich diese Erscheinung gerade in der Innenstadt, an der als Umfeld erst im Entstehen befindlichen Küstenlinie und im Hafengebiet. Die Nutzungen, die auf den Freiflächen der Stadt entstehen, erzählen von einem weniger radikal motivierten Urbanismus.
Zeitweilige Parkplätze auf Freiflächen – das ehemalige Grundstück der Estnischen Kunstakademie
Große Teile der Freiflächen der Stadt werden als zeitweilige Parkplätze genutzt, besonders dominant durchdringt den städtischen Raum die Marke EuroPark. Firmen, die Freiflächen zeitweilig als Parkplätze nutzen, investieren wenig in den Raum, erlauben es aber Privatbesitzern über eine gewissen Zeitraum Profit zu machen. Die zeitweilige Nutzung von Freiflächen als Parkplätze gilt allgemein als akzeptabel, und dies zeigt deutlich die Notwendigkeit, sich zeitweilige Nutzungen deutlicher zu Bewusstsein zu bringen. Ein besonders augenfälliges Beispiel ist der ehemalige Platz der Estnischen Kunstakademie in der Laikmaa, inmitten des städtischen Geschäftszentrums. Nach Abriss der Kunstakademie und dem Scheitern neuer Bebauungspläne befindet sich schon seit Jahren auf dem Platz ein Parkplatz, neben dem von Zeit zu Zeit auch Kunstinstallationen zu sehen sind. Ich schätze, eine derartige Herangehensweise könnte man als ein Verstecken hinter dem Zeitweiligen ansehen – die Zeitweiligkeit entschuldigt geradezu die geringe Investition in die Umwelt, die Qualität des städtischen Raumes. Die Zeitweiligkeit lässt Projekte irgendwie ungefährlicher werden und scheinbar auch unwichtiger. Die typische Nutzung von Freiflächen als Parkplätze führt zu der Frage nach dem Verhältnis zwischen Zeitweiligkeit, Lukrativität und Qualität des Raumes.
Kalarand – zeitweilige Nutzung als Praxis des Raumschaffens
Neben der Nutzung von Freiflächen als Parkplätze treten auch alternative Stadtraumprojekte auf, die klassische Planungsmethoden in Frage stellen und zu einer integrativen Planung anregen. Eines der anschaulichsten Beispiele in Tallinn dafür ist Kalarand. Das während der sowjetischen Periode gesperrte Strandgebiet lag lange Zeit verwahrlost und war schwer zu erreichen. Im Rahmen der Programms der Kulturhauptstadt 2011 wurde dort ein zeitweiliger Sandstrand angelegt. Kalarand ist eines der wenigen, wenn nicht das einzige Projekt der Kulturhauptstadt, welches über Jahre bestehen blieb und sich im Bewusstsein der Stadtbewohner festsetzte. Der Stadtstrand ist ein Beispiel für die mögliche positive Wirkung zeitweiliger Nutzungen auf die Entwicklung des städtischen Raums und für die Zusammenarbeit zwischen Bürgervereinen und Entwicklern. Zeitweilige Nutzungen ermöglichen es in der ersten Phase eines Projekts Verhaltensmuster zu entwickeln, Orten eine Bedeutung zu geben, sie fungieren als Kritik des dominierenden Planungsmodells und ermöglichen es dem Stadtbewohner bei der Stadtentwicklung deutlicher mitzureden. Im Sommer 2015 wird Kalarand für die Öffentlichkeit geschlossen. Das Ende einer zeitweiligen Nutzung und die Entstehung beständiger Praktiken sind ein interessantes Diskussionsthema.
Die beständige Wirkung der Zeitweiligkeit?
Zu behaupten, dass in der Stadt zu viel Raum sei, scheint eine Vereinfachung zu sein, doch Tallinn wurde über lange Zeit durch eine eigenartige Streuung und das Fehlen innerstädtischer Dichte charakterisiert. In die Verstreutheit sind einige komplizierte, aber spannende Wahrzeichen, funktionslos gewordene signifikante Gebäude, problematische Wohngegenden gesetzt. Die Entwicklung der Innenstadt und die verschiedenartige Entwicklung des Stadtrandes sind sicherlich wichtige Themen in der heutigen und zukünftigen Entwicklung Tallinns. Zeitweilige Nutzungen finden sich überall in unterschiedlichster Form, doch für einen Urbanisten ist gerade die Frage interessant, welche Nutzung freier Flächen eine beständige, die Entwicklung der Stadt leitende und fördernde Wirkung haben könnte, und wie man diese in der Zusammenarbeit verschiedener Beteiligter betonen könnte.