Kettenreaktion
Quer durch Europa denken
Intellektuelle und Menschen aus der Zivilgesellschaft stellen sich gegenseitig Fragen. Über Ländergrenzen hinweg entsteht so ein Austausch über die Herausforderungen, mit denen Europa konfrontiert ist. Die Kettenreaktion ist Teil des Projekts „Freiraum“.
Ist es sinnvoll, Freiheit zu beschränken?
Freiheit bedeutet für mich ein Erkennen der Verantwortung sowie die Fähigkeit zu begreifen, dass Freiheit nicht Anarchie ist.
Als die Protagonisten der Aufklärung in der Zeit der Französischen Revolution die Losung „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ verkündeten, steckten sie damit jeden damaligen Intellektuellen Europas (und der gerade entstandenen USA) an – die gebildeten Bürger der „Gelehrtenrepublik“. Im heutigen Europa sind diese drei Wörter nach wie vor aktuell, und insbesondere die Behandlung der Freiheit als ethische Kategorie sowie das Verständnis von Freiheit haben angesichts islamistischer Terroristen, manipulierender Fake News und des sogenannten postfaktischen Zeitalters außerordentliche Bedeutung gewonnen. Freiheit bedeutet für mich ein Erkennen der Verantwortung sowie die Fähigkeit zu begreifen, dass Freiheit nicht Anarchie ist. Die Erkenntnis der Freiheit setzt logisches Denken voraus und erfordert den Respekt, seinen Gegnern zuzuhören, mit ihnen würdig zu streiten und häufig auch Kompromisse zu schließen. Ebenso ist Freiheit immer gekoppelt an Demokratie und Liberalismus, was jedoch auch seine Grenzen hat. In diesem Sinne ist Freiheit ein Paradox. Denn Freiheit bedeutet eben nicht, die andersdenkende Partei zu ermorden – als wäre der Vorgang von 1819 eine Lösung, als ein deutscher Student den berühmten Dramatiker August von Kotzebue, der sich über die nationalromantische Bewegung der Studenten lustig gemacht hatte, tötete. Dass Freiheit alles erlaube, ist somit Unsinn, und die Frage, ob es ein universelles Freiheitsprinzip gibt oder ob jeder Staat bei der Definition von Freiheit von Brüsseler Direktiven oder seinen eigenen Traditionen ausgeht, wirkt sich sicherlich auf das reale Leben von uns allen aus.
Zur Person:
Harry Liivrand, der 1961 in der estnischen Hauptstadt Tallinn geboren wurde, erwarb 1984 an der Universität Tartu einen Abschluss in Kunstgeschichte und Geschichte. 1992 ging er nach Berlin, um seine Ausbildung am Institut für Auslandsbeziehungen des Auswärtigen Amts, Abteilung Kultur und Kommunikation, fortzusetzen. Nach seinem Studium war er im Estnischen Kunstmuseum als leitender Kurator, bei der estnischen Wochenzeitschrift „Eesti Ekspress“ als Kulturredakteur und Kunstkritiker, von 1998 bis 2001 bei „Radio Free Europe/Voice of America“ in Amsterdam als Korrespondent, von 2008 bis 2011 in der Tallinner Kunsthalle als Direktor und von 2011 bis 2016 an der estnischen Botschaft in Berlin als Kulturattaché tätig. Seit 2016 arbeitet er für die Akademische Bibliothek der Universität Tallinn als Chefexperte für Wissenschaft und Kommunikation sowie als Lehrbeauftragter an der Estnischen Akademie für Musik und Theater. Harry Liivrand hat Forschung betrieben und über 1.000 Artikel zu den Themen Malerei, Aktionskunst, Schmuck, Design und Kulturgeschichte in Estland und anderen Ländern, insbesondere Finnland, Deutschland, Portugal, Schweden, den Niederlanden und Lettland, veröffentlicht. 2007 erhielt er vom Goethe-Institut München und 2010 vom Goethe-Institut Hamburg ein wissenschaftliches Stipendium. In Estland und Finnland wurden ihm verschiedene Auszeichnungen verliehen, darunter ein estnischer Verdienstorden durch den estnischen Präsidenten.