Mati Sirkel
Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt
Mati Sirkel - Übersetzer
Deutsch entdeckte ich dank meiner guten Deutschlehrerin in der Hauptschule, die immer meine Aussprache lobte und in mir einen gewissen Ehrgeiz wachrief. Das war vielleicht der Grund, warum ich mich an der Universität für ein Studium der Germanistik entschied.
Ich habe die Philologie lediglich anhand von Büchern studiert. Mit einem deutschen Muttersprachler habe ich erst einige Jahre nach dem Abschluss der Uni reden können, und zwar als mich ein Bekannter aus Thüringen in die damalige DDR einlud. Dorthin fuhr ich mit einer langsamen Bimmelbahn voller Jugendlicher, die feierten und sich in einem örtlichen schwierigen Dialekt unterhielten. Ich habe kein Wort verstanden! Ich war schockiert und habe mich gefragt: Was zum Teufel hab ich die fünf Jahre lang in der Universität gemacht? Als ich dann mit meinem Gastgeber Hochdeutsch sprechen konnte, war das natürlich etwas anderes und nach einiger Zeit hatte ich mir auch die Umgangssprache angeeignet. Diese ist im Moment etwas eingerostet, aber zum Übersetzen reicht‘s noch.
Deutsch ist durch Grammatik und Syntax relativ kompliziert, und ich bin im Nachhinein meinen Lehrern dankbar, dass sie beim Pauken dieser Regeln nicht locker ließen. Beim Üben entdeckt man irgendwann die innere Logik der Sprache. Am Deutschen fesselt mich die Genauigkeit, das Spiel mit Finessen.
Große Namen und Literaturklassiker gehören zu jeder bedeutenden Sprache. Das goldene Zeitalter der deutschen Literatur war die Zeit von Goethe – Ende des 18. bis Anfang des 19. Jahrhunderts. Eine Sprache, die so eine Epoche vorweisen kann, muss sich nie schämen. Bei der deutschsprachigen Literatur sprechen wir von der Literatur Deutschlands, der Schweiz und Österreichs – und gerade die Eigenheiten des letztgenannten Kulturraums faszinieren mich, und die Österreicher haben mich in der Literatur am meisten beeinflusst. Zu meinen Zukunftsplänen gehört auch eine Anthologie der Literatur des goldenen Zeitalters und dafür müssen einige wichtige Schriften dieser Zeit noch ins Estnische übersetzt werden.
Die deutsche Sprache hat das estnische Volk und unser Land, aber ebenso unsere Sprache wesentlich beeinflusst, unsere Geschichte ist mit der deutschen eng verbunden, und deshalb steht uns Deutsch näher als irgendeine andere große Sprache. Die Sprache ist die Welt, in der wir leben – mit ihr kommunizieren wir, tauschen Ideen aus. Sie ist das wichtigste Medium, das unser Leben bestimmt. Deutsch hat neben meiner Muttersprache meinen Weg beeinflusst und mich begleitet. Ludwig Wittgenstein hat gesagt: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ Wenn es mehrere Sprachen sind, dann erweitert sich zweifellos auch meine Welt.