Mart Juur
„Sex Pistols“ auf Deutsch
Mart Juur - Humorist, TV-Moderator und DJ
In meiner Schulzeit im Otepää der 1970er musste man ab der 5. Klasse neben Russisch eine Fremdsprache lernen. Meine Eltern wollten, dass ich Deutsch lerne, damit sie mir bei den Hausaufgaben helfen könnten. Konnten sie aber nicht, wie sich später herausstellte, denn Deutsch ist sehr kompliziert. Mark Twain hat ungefähr gesagt: Wenn der Deutsche verbissen mit dem Prädikat in einen Satz eintaucht, dann taucht er mit dessen Sinn erst am anderen Ufer des Atlantiks auf. So beherrsche ich deutsche Grammatik nicht so richtig und hatte auch keine Sprachpraxis: Mit wem hätte ich denn in Otepää überhaupt Deutsch sprechen sollen? Meine Lehrerinnen Frau Alma Joosepson und Frau Maila Värk waren aber toll! Ich hätte mehr von ihnen lernen können.
Die Motivation zum Lernen war aber da: Wenn die Motivation für die Esten im Norden darin bestand, Finnisch zu lernen, um über das finnische Fernsehen nach Westen schauen zu können, war die ostdeutsche Presse ein ähnliches Fenster für die Südesten. Diese wurde an Kiosken in Otepää in reichlicher Auswahl angeboten, und ich war als Schuljunge ein ständiger Käufer. Die Neue Berliner Illustrierte schrieb über das Leben im Ausland und über Musik. Dort habe ich die ersten Nachrichten über Punk und die „Sex Pistols“ gelesen. In der Jugendzeitschrift Neues Leben standen ebenso Artikel über ausländische Bands, außerdem gab es darin Poster. Auch in der Kinderzeitschrift FRÖSI gab es lustige Bilder. Und natürlich die Burda , die von Hand zu Hand weitergegeben und regelrecht zerlesen wurde; Frauen in ganz Estland schnitten dort Bilder aus, um sie an die Wände zu kleben. Für Dich war eine Frauenzeitschrift, die auch mein Interesse erweckte, weil darin auch über Musikgruppen berichtet wurde. Später entdeckte ich die Zeitschrift Melodie und Rhythmus mit interessantem Material über die Musikszene in den USA oder England, das war schon tolles Zeug.
An der Uni rückte Deutsch eher in den Hintergrund, obwohl meine Lehrkraft Frau Siiri Raitar sehr gut und streng war, aber die englischsprachige Lektüre war mehr und mehr auf dem Vormarsch. So ist es eben, dass ich Deutsch bis heute nicht richtig kann, und wenn, dann wenn ich Alkohol getrunken habe – aber dann kann ich wohl alle Sprachen der Welt. Einfache Presse kann ich schon lesen, aber aus der Literatur kann ich nur zwei Zeilen aus Goethes „Erlkönig“ aufsagen: Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Vater mit seinem Kind …
Aber das Wichtigste, was Deutsch mir gebracht hat, war die Entdeckung der deutschen Musikszene: „Die Puhdys“, „Karat“, „Stern Combo Meißen“, Frank Schöbel. Für einen Jungen aus Otepää war es das Fenster in die Welt.