Holz verarbeitende Industrie in Estland
Holzfaserstoff als erneuerbarer Heizstoff begünstigt Kahlschlag
In Europa wurde in den 1990er-Jahren die Verbrennung von Holzfasern mit Wind- und Sonnenenergie gleichgesetzt, jetzt wird immer deutlicher, wie gute Absichten den Kahlschlag begünstigen.
Von Piret Reiljan
Abholzung und Veredelung von Wald sind ein Thema, das die Gesellschaft spaltet. Das Fernsehprogramm Pealtnägija (Augenzeuge) untersuchte gemeinsam mit der Zeitung Äripäev (Geschäftstag) und Journalist*innen aus sechs weiteren Staaten in einem internationalen Projekt die globalen Zusammenhänge. Immer klarer zeichnet sich ab, wie Westeuropa sich mithilfe sogenannter grüner Subventionen in den Finger geschnitten hat und die Verheizung von Holzfasern in England zum Beispiel den Kahlschlag hier bei uns begünstigt.
Der vierzigjährige Zimmermann und Restaurator Kalev Järvik lebt seit zehn Jahren im Haanja-Gebiet und ist daran gewöhnt, in den dortigen Wäldern zu wandern. Die umfangreichen Kahlschläge der letzten Jahre in einem der geschütztesten Gebiete Südestlands sorgen für Entrüstung und Fragen bei örtlichen Bewohnern und Naturschützern, sind aber tatsächlich Glied einer viel längeren Kette, deren anderes Ende Tausende von Kilometern entfernt liegt, beispielsweise im Kraftwerk von Drax in England.
Die britische investigative Journalistin Hazel Sheffield gehört einem internationalen Team an, in dem Journalist*innen aus sieben Staaten vertreten sind, darunter auch von Pealtnägija und Äripäev.
„Großbritannien ist ein Pionier in der industriellen Verbrennung von Holzfasern, und was wir für Elektrizität verbrennen, ist beinahe komplett importiert. Wir sind die größten Importeure der Welt. Für mich war es also sehr wichtig, über die Staatsgrenzen hinauszuschauen und zu fragen, wo das Holz herkommt“, berichtet die zu dem internationalen Journalistenteam gehörende britische Investigativ-Journalistin Hazel Sheffield.
Den Behauptungen der Pellethändler zufolge ist ihre Tätigkeit umweltfreundlich
Trotz der Kritik von Naturschützern und Wissenschaftlern aus vielen Ländern versichern Personen, die im Pelletgeschäft engagiert sind, dass ihre Tätigkeit umweltfreundlich und nachhaltig ist.
„Für Waldbesitzer und die Forstwirtschaft ist die Pelletindustrie eine Abfallverwertungsanlage. Während vor zwanzig Jahren das Sägemehl aus den Sägereien auf die Mülldeponien gebracht wurde, verbrannt wurde und Umweltstrafen gezahlt wurden, es also sozusagen einfach irgendwo hinterlassen wurde, kommen heutzutage all diese Abfälle in die Pelletindustrie. So gesehen kann ich ganz sicher behaupten, dass niemand intensiver Holz schlagen wird, nur weil wir eine Pelletindustrie haben“, sagt Andres Olesk, Direktor des zu Graanul Invest gehörenden Forstbetriebs Valga Puu.Den Auftakt zum Pelletboom bildete das Kyoto-Protokoll von 1997, worin die Staaten eine Reduzierung des CO2-Ausstoßes vereinbarten. In der Folge schickte man sich eifrig an, Steinkohle durch Biomasse zu ersetzen. Derzeit versuchen die europäischen Staaten die Ziele des Grünen Deals zu erreichen, indem sie immer mehr Holzfasern verbrennen, weil die EU Holzfasern als erneuerbaren Biomassenheizstoff definiert hat. Dabei setzen sie auf verschiedene Subventionen.
Der estnische Unternehmer Raul Kirjanen stieg in erster Linie dank dieser Subventionen zum europäischen Pelletkönig auf. Der studierte Jurist Kirjanen fing Ende der 1990er-Jahre mit Hackschnitzeln an und gründete 2003 die Graanul Invest, die mittlerweile der größte Pelletproduzent in Europa und der zweitgrößte der Welt ist. Der Jahresumsatz des Unternehmens beläuft sich auf über 400 Millionen Euro, und der Gewinn liegt bei annähernd 50 Millionen Euro. Hauptsächlich dank seines Konzerns sind Estland und Lettland die größten Pelletexporteure Europas geworden.
Letztes Jahr exportierten die beiden Staaten über drei Millionen Tonnen Pellets. Die größten Abnehmermärkte von Graanul Invest sind Großbritannien und die Niederlande, und der größte Einzelkunde ist das Drax Kraftwerk in der Nähe von Leeds, das der größte Holzfaserverbraucher der Welt ist.
„Wir wissen, dass dieser Handel von Milliarden von europäischen Subventionen gefördert wird, weil Holzfasern als erneuerbare Energien gelten. Und allein in Großbritannien würde unser größter Verbrenner von Importholz, Drax, ohne staatliche Förderung nicht am Leben bleiben“, berichtet Sheffield.
Am Anfang stand die Idee, Kleinholz, Sägespäne und andere Produktionsrückstände zu verheizen, die zu besonderen Stäbchen, eben Pellets, zusammengepresst werden. Weil aber die Subventionen so hoch sind und die Kunden immer mehr grüne Energie und Heizung nachfragen, ist Umweltschützern zufolge die Neigung entstanden, zu viele Rundhölzer zu verbrennen. Es ist gerade die Verbrennung von Rundhölzern, die im Zentrum der Bioenergiedebatte steht.
Laut Siim Kuresoo, dem stellvertretenden Vorsitzenden des Estnischen Naturfonds, wird bei einer derartigen Verbrennung von Holzfasern die CO2-Menge in der Atmosphäre erhöht.
Unter Naturschutz stehender Wald wird abgeholzt
Kirjanens Pelletgeschäft ist in den letzten Jahren gigantisch gewachsen, sodass er in der Rangliste der Reichsten von Äripäev die Spitzenposition einnimmt. Zum Konzern gehören 20 Firmen, darunter zwölf Pelletfabriken – zusätzlich zu den Standorten in Estland und Lettland auch in Litauen und den Vereinigten Staaten. Die Firma hat sogar ein eigenes Schiff – die unter zypriotischer Flagge fahrende Imavere –, das nach Kirjanens erster Fabrik getauft wurde und mit dem seine Ware hauptsächlich von Riga aus nach England verschifft wird.Kirjanen hat in letzter Zeit viele Interviews gegeben, aber vor die Kamera von Pealtnägija wollte er unter Hinweis auf das Coronarisiko nicht treten. Doch der Behauptung, durch die Pelletindustrie werde Druck ausgeübt, der zum Kahlschlag führe, widerspricht er sowohl in schriftlichen Kommentaren als auch in einem kürzlichen Interview, das er Toomas Sildam gab.
Laut Andres Olesk, dem Direktor der Forstwirtschaftsfirma Graanul Invest, sind Abholzung und Naturschutz an sich keine Gegensätze. „Für uns ist in den Naturschutzgebieten sehr wichtig, dass wir junge Wälder haben, solche mittleren Alters und alte Wälder, jeder von ihnen hat seine eigenen Sorten, die unter Naturschutz stehen. In besagten Kahlschlägen leben 80 Prozent der estnischen Schmetterlingssorten, was gleichzeitig alle Sorten umfasst, die unter Naturschutz stehen. So ist also jedes Gebiet jemandes Lebensraum. Ein Elch frisst ja auch nicht vom Wipfel ausgewachsener Bäume, er frisst die Wipfel junger Bäume.“
Das Ziel der Natura-Gebiete ist jedoch gerade die Bewahrung alten Waldes. Die Abholzung im Naturschutzgebiet von Haanja sind gleichsam ein Miniaturmodell der gesamten Forstdebatte. Auf der einen Seite Naturschützer und -forscher und die örtliche Bevölkerung, nach deren Worten die von Gewinnsucht getriebene Abholzung in Estland die Grenzen der Vernunft überschritten hat. Auf der anderen Seite aber die Waldbesitzer und die Industrie.
Laut Marku Lamp, Leitendem Beamten im Umweltministerium, hängt der Umfang der Abholzung davon ab, wie viel an wirtschaftlich nutzbarem Wald zur Verfügung steht und inwiefern die Wälder abholzungsreif sind, ferner von der Nachfrage auf dem Holzfasermarkt, den klimatischen Verhältnissen, den steuerlichen Bedingungen und der Entscheidung des Waldbesitzers. „Dass vor einem Dutzend Jahren in einem um ein Vielfaches kleinerem Ausmaße abgeholzt wurde als jetzt, hing unmittelbar mit der globalen Wirtschaftskrise und der damals praktisch nicht existenten Nachfrage auf dem Holzfasermarkt zusammen“, konstatierte er.
Laut Indrek Tammekänd, der täglich das Wohlergehen der Wälder erforscht, sind in Estland im Laufe der vergangenen sieben Jahre auf Grund des Drucks der Holzfaserindustrie und der Landbesitzer die Abholzungsbestimmungen abgemildert worden. Die Veränderungen gestatten eine schnellere und umfangreichere Abholzung.
Im Gesamtpanorama lässt sich die Debatte auf die Frage reduzieren, ob sich die Abholzung des Waldes an einem Ende Europas und dessen Verbrennung am anderen Ende Europas im Endeffekt positiv auf Mensch und Klima auswirkt. So fasst Graanul Invest selbst beispielsweise einen Nachhaltigkeitsreport ab, in dem unter anderem steht, dass der Konzern letztes Jahr 1,5 Millionen Bäume gepflanzt hat und ihre Tätigkeit eine deutlich negative Kohlenstoffbilanz aufweist. Die Naturschützer überzeugt dies jedoch nicht.
Es ist klar, dass das europäische Pelletgeschäft enorm gewachsen ist und Estland einen großen Anteil daran hat. Wir behaupten nicht, dass Estland Regeln umgeht, eher stellt sich die Frage, ob die Regeln ausreichend sind. Viele Staaten, die derzeit die Holzfaserverbrennung subventionieren, haben sich eine Neubewertung der Subventionen vorgenommen, und auf europäischem Niveau wird erwogen, die Verbrennung von Rundhölzern zu begrenzen. Auf der Gegenseite wird jedoch eifrige Lobbyarbeit betrieben, damit die massive Verbrennung von Holzfasern ungestört fortgesetzt werden kann. Das Thema ist nuancenreich und sorgt für Meinungsverschiedenheiten.
Investigativprojekt „Money to Burn“
Das Investigativprojekt „Money to Burn“ entstand in Zusammenarbeit von 12 Journalist*innen aus 7 europäischen Staaten.
Die Recherche der hauptsächlich freiberuflich tätigen Journalist*innen wurde vom europäischen Fonds für investigativen Journalismus (The Investigative Journalism for Europe; IJ4EU) gefördert.
Führender Mediapartner des Projekts ist die öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt VPRO in den Niederlanden. In Estland sind Äripäev und Pealtnägija die Partner.
Hauptautorenteam: Piret Reiljan (Estland), Hazel Sheffield (Großbritannien), Ties Gijzel und Sophie Blok (Niederlande), Paul Toetzke (Deutschland), Silvia Nortes (Spanien), Catherine Joie (Belgien).