Die Krise in Europa, die Auseinandersetzung mit Flüchtlingen: Nicht nur die deutsche Gesellschaft politisiert sich – auch die Literatur. Doch die Debatten finden vor allem im Feuilleton statt.
Eine „Rückkehr“ zur Politik proklamierten drei deutsche Autoren in einem Gespräch in der Literaturbeilage zur Frankfurter Buchmesse 2015 in der Wochenzeitung Die Zeit: Jenny Erpenbeck, Ulrich Peltzer und Ilija Trojanow prangerten die vorherrschenden „kleinen Lösungen des Pragmatismus“ an und plädierten für eine Rehabilitierung der utopischen „großen Erzählungen“. Die Literatur, waren sie sich einig, habe die Verpflichtung, auf die „inneren Widersprüche im herrschenden System“ hinzuweisen und sie über Aufrufe, Unterschriftenkampagnen und Essays hinaus auch erzählerisch zu gestalten.
Ulrich Peltzer ging noch einen Schritt weiter und machte die Komplexität selbst zum Beweggrund des Erzählens: „Wenn man sagt, es ist alles so komplex, es sind im Grunde gar keine unmittelbaren Kausalitäten mehr herzustellen, dann sage ich: Nein, das stimmt nicht. Es ist elementar notwendig, sowohl für das Erzählen als auch für die Politik, zumindest Vorschläge einer Kausalität zu machen.“
Eine Politisierung der Gesellschaft
Konkret heiße dies, die Verantwortlichen für den Zustand der Welt zu benennen und die inneren Gesetzmäßigkeiten hinter den tagespolitischen Ereignissen erzählerisch zu entlarven. Hielte sich ein nennenswerter Teil der Autoren an diese Zielsetzung, wäre eine „engagierte Literatur“ (Jean-Paul Sartre) wieder an der Tagesordnung. Tatsächlich haben die Ereignisse der Jahre 2014 und 2015 – Ukraine-Krise, IS-Terror, Euro- und Flüchtlingsproblematik, um nur diese zu nennen – eine Politisierung der deutschen Gesellschaft bewirkt. Das zeigt sich in der Pegida-Bewegung und der neu gegründeten Protest-Partei Alternative für Deutschland (AfD), andererseits aber auch in einer wachsenden Bereitschaft der bürgerlichen Mitte, aktiver als bisher für Demokratie, Rechtstaat und eine offene Gesellschaft einzutreten. Die Autoren in der
Zeit sind weniger Vorreiter als Symptom dieser Entwicklung.
Mangelnder wirtschaftlicher Sachverstand
Die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Problemen war indes zu keinem Zeitpunkt aus der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur verschwunden. Zwar folgten auf die Vergangenheitsbewältigung der meisten Autoren des Schriftstellertreffens „Gruppe 47“ anscheinend unpolitischere Phasen in den 1950er- und auch seit den späten 1970er-Jahren. Das Private rückte stärker in den Fokus. Dabei nahmen sich Schriftsteller wie Siegfried Lenz, Martin Walser, Peter Handke und Günther Grass immer auch als politische Autoren wahr und meldeten sich in manchen Phasen geradezu exzessiv zu aktuellen politischen Fragen zu Wort. Das Politische dominiert in ihren Werken jedoch nicht, und falls doch, so zählen sie – wie etwa Grass‘ Wenderoman
Ein weites Feld – nicht zu ihren stärksten.
Was an der Mehrzahl der erzählenden Werke vieler Autoren aus der Phase der Bundesrepublik vor dem Mauerfall 1989, aber auch in bemerkenswerter Spiegelbildlichkeit bei den meisten Autoren der DDR auffällt, ist ein eklatanter Mangel an wirtschaftspolitischem Sachverstand. Pauschale Kapitalismuskritik war weitgehend Konsens, die ökonomischen Zusammenhänge, das Zusammenwirken von finanzpolitischen Rahmenbedingungen und dem Verhalten der Menschen interessierten nur am Rande. Als zentrale Themen eines Romans galten sie eher als langweilig und trocken.
Die Weltwirtschaftskrise als kreatives Moment
Ein Buch wie
Fegefeuer der Eitelkeiten des US-amerikanischen Schriftstellers Tom Wolfe, das Kolportage mit Gesellschaftsanalyse und einer kenntnisreichen Schilderung der Börsenmechanismen paart, sucht man in Deutschland vergebens. Ernst-Wilhelm Händler, der als Unternehmer tiefere Einblicke in die Auswirkungen der Wirtschaft auf unser Leben hat und dessen Werk zudem eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus darstellt, bleibt in der deutschen Literatur eine Ausnahme. Hans Christoph Buch, der viele Schauplätze der sogenannten „Dritten Welt“ für die deutsche Literatur entdeckt hat, oder Ilija Trojanow, dessen Romane die Nähe zu seinen politischen Schriften und Essays nicht verleugnen, zählen zu jener Handvoll Autoren, die dem deutschen Lesepublikum mit zäher Ausdauer eine Welt jenseits des Mainstreams nahezubringen suchen. Ihr Markterfolg bleibt jedoch überschaubar.
Es bedurfte womöglich des Schocks der Weltfinanzkrise 2008, um bei einer wachsenden Zahl von Autoren Interesse an volks- und betriebswirtschaftlichen Vorgängen zu wecken und deren Bedeutung für Partnerschaft, Familien, Kleinstädte und Betriebe aufzuzeigen. Doch eine Flutwelle entsprechender Romane blieb aus. Ulrich Peltzer immerhin lässt in seinem 2015 erschienenen Roman
Das bessere Leben zwei Hauptfiguren auftreten, die ihr Geld in der globalen Wirtschaft verdienen. Der hochkomplexe Roman verweigert sich jedoch einer nachvollziehbaren Erzählweise – und kann daher sein analytisches Potenzial nur eingeschränkt entfalten. Das nahezu einhellige Lob der Kritik galt vornehmlich dem literarischen Konstrukt.
Konventionelle Erzähltechniken versus Feuilleton
Betrachtet man die vorderen Plätze der Bestsellerlisten, stellt man keine Repolitisierung des Erzählens fest. Hier dominieren Geschichten, in denen Charaktere, Familien- oder Paarschicksale im Mittelpunkt stehen. Einer Autorin wie Juli Zeh gelingt es jedoch, auch mit realistisch-naturalistisch erzählten Romanen bei einem größeren Lesepublikum Interesse zu wecken. Ihren 2016 erschienenen Roman
Unterleuten siedelt Juli Zeh in einem brandenburgischen Dorf an. Dabei entfaltet sie – durchaus mit soziologischem Rüstzeug auf der Höhe der Zeit versehen – das klassische Gesellschaftspanorama des realistischen Romans. Vielleicht ist der Erfolg des Buchs auf die konventionellen Erzähltechniken zurückzuführen, während Ulrich Peltzer oder Ilija Trojanow vor allem als Lieblinge der Literaturkritik gelten dürfen.
Möglicherweise erweist sich so das „Zurück in die Politik!“ als Lieblingsprojekt der Feuilletons und bleibt ein bisweilen breiter, dann wieder schmaler fließender Nebenfluss der zahlreichen nebeneinander existierenden Strömungen in der deutschen Gegenwartsliteratur. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.