Aino-Maria Kangas
Kinderbücher und die diverse Realität kindlicher Leser*innen
Wem wird in Medien und Kunst Bild und Stimme verliehen? Diese Frage ist Thema in der gesellschaftlichen Kulturdiskussion und rückt auch beim Betrachten aktueller Kinder- und Jugendliteratur in den Fokus. Sowohl die Mehrheit als auch die Minderheiten brauchen Kinderliteratur, die die Diversität der Gesellschaft widerspiegelt. Welche Art von Büchern brauchen wir, damit sich alle Kinder in den Geschichten wiederfinden? Wie schreibt man und wie veröffentlicht man ein inklusives Kinderbuch?
Von Aino-Maria Kangas
Das Goethe-Institut Finnland und das Finnische Kinderbuchinstitut veranstalteten Ende April ein Webinar zum Thema „Hin zu einer diversen Kinderliteratur: Ein Treffpunkt für Akteur*innen“, das diesen Fragen nachging. Über 100 Teilnehmer*innen aus Finnland und Europa trafen sich, um sich über dieses Thema zu informieren und miteinander zu diskutieren.
Die Redebeiträge des Webinars gingen unter anderem der Frage nach, wie das Angebot diverser Kinderliteratur stärker der wachsenden Nachfrage entsprechen könnte. In den Diskussionen kam auch die Frage auf, inwiefern es überhaupt noch gerechtfertigt ist, von Diversität zu sprechen, oder ob nicht vielmehr künftig lieber von der Wirklichkeit geredet werden sollte. Die Expertin Anna Moring vom finnischen Verein „Vielfalt Familie“ (finn. Monimuotoiset perheet ry) erklärt, dass das von ihr verwendete Begriffspaar diverse Realität die unterschiedlichen Wirklichkeiten, in denen Familien leben, besser widerspiegelt.
Familienmodelle in Kinder- und Jugendbüchern
Neben unterschiedlichen Familienmodellen umfasst Diversität auch verschiedene kulturelle Hintergründe, Geschlechter, sexuelle und körperliche Ausdrucksformen sowie Behinderungen. In diesem Zusammenhang ist es interessant, die Vielfalt der Familienmodelle in Kinderbüchern zu untersuchen. Das Finnische Kinderbuchinstitut hat für seine jährliche Statistik Kirjakori (dt. der Buchkorb) Informationen über die in Kinder- und Jugendbüchern auftretenden Familienmodelle gesammelt. Dieser Statistik zufolge ist zumindest in Bilderbüchern für Kinder noch Platz für vielfältigere Familienkonstellationen.Moring erinnert daran, wie vielfältig Familien heutzutage sind: Die Bandbreite alternativer Familienmodelle reicht von Patchworkfamilien bis zu binationalen Familien und jede dritte Familie zeigt zumindest in einer Phase des Lebens des Kindes diverse Familienformen auf. Trotzdem kommen in nur 12 Prozent der im letzten Jahr erschienenen Bilderbücher andere Familienformen als die Kernfamilie vor (s. Statistik Kirjakori 2020). Das heißt nichts anderes, als dass unzählige kleine Kinder in den Geschichten ihre gegenwärtige oder zukünftige Lebenssituation nicht wiederfinden.
In den Kinder- und Jugendromanen hingegen sind vielfältige Familienlebenswirklichkeiten weiter verbreitet. Die Kernfamilie ist das häufigste Familienmodell und der Anteil alternativer Familienformen in Kinderbüchern entspricht dem tatsächlichen Anteil von 29 Prozent. In Jugendbüchern werden neben der Kernfamilie auch oft Kleinstfamilien mit alleinerziehenden Müttern dargestellt. Der Anteil von Büchern mit vielfältigen Familienmodellen steigt so auf 60 Prozent. Diese Zahl verbirgt allerdings den Fakt, dass es in den Büchern nur einzelne wenige Repräsentanten vielfältiger Familien geben mag.
Betrachtet man alle im letzten Jahr in Finnland erschienenen Kinder- und Jugendbücher (in denen irgendeine Form von Familienleben eine Rolle spielt), springt besonders ins Auge, dass das in der Realität immer häufigere Zwei-Zuhause-Modell nur geringe Darstellung findet und lediglich in drei Werken repräsentiert ist. Vergleichshalber sei erwähnt, dass demgegenüber 145 Bücher Kernfamilien darstellen, in 30 Büchern geht es um alleinerziehende Mütter und lediglich in sieben um alleinerziehende Väter. Eine Zwei-Zuhause-Konstellation mag eine Herausforderung an die erzählte Geschichte darstellen, kann aber andererseits auch als Möglichkeit gesehen werden. In einer traditionellen Kernfamilienumgebung kann es schwierig sein, noch Geschichten zu erfinden, die noch nicht erzählt worden sind.
Aus Sicht der Kinder und Heranwachsenden wäre es mehr als fair, dass von jeder Familienform (oder jeder Ausdrucksform von Vielfalt) eine gleich große Anzahl erzählter Geschichten existieren würde. Das braucht auch kommerziell keinesfalls unrentabel zu sein. Wie auf dem Webinar zu hören war, ist eine gute Geschichte auch bei vielfältigen Kinderbüchern das Entscheidende und wenn die stimmt, findet das Buch auch Leser*innen.
Gebraucht werden Autor*innen mit verschiedenen Hintergründen
Die reinen Veröffentlichungszahlen zeigen jedoch nicht das ganze Bild. Im Rahmen des Webinars wurde auch darüber diskutiert, auf welche Weise Vielfalt in den Büchern dargestellt wird. Die Universitätslektorin Jaana Pesonen unterstrich, dass äußerliche Unterschiede in den Kinderbüchern allein nicht ausreichen, sondern Vielfalt auf vielerlei verschiedene Art und Weise gedacht werden müsse. Pesonen machte auch deutlich, dass nach wie vor der Großteil der in Finnland veröffentlichten Kinderliteratur sowohl hinsichtlich der Protagonist*innen als auch der Autor*innen von weißen Finn*innen dominiert ist. Daraus ergibt sich häufig eine Konstellation, in der Diversität als Abweichung und nicht als Normalität wahrgenommen wird. So zeichnet letztendlich auch Literatur, die es gut meint, ein verfälschtes Bild der Realität.Deutschland ist Finnland im Hinblick auf die Wertschätzung vielfältiger Kinderliteratur voraus. Carlsen-Programmleiter Frank Kühne führte in seinem Redebeitrag aus, dass für den größten Kinder- und Jugendbuchverlag Diversität eher die Regel als die Ausnahme sei, weil es der Realität des Zielpublikums entspräche und die Veröffentlichung eines Buches so schon aus geschäftlichen Gründen leicht zu begründen sei. Die Wichtigkeit vielfältiger Bücher sei bei ihnen schon lange anerkannt und in früheren Jahren habe man diese Bücher neben der übrigen Produktion aus gesellschaftlichen Gründen herausgegeben. Heutzutage sprechen neben gesellschaftlichen auch kommerzielle Gründe für die Veröffentlichung vielfältiger Geschichten. Auch in Deutschland bestehe allerdings noch Verbesserungsbedarf auf dem Markt der Kinderliteratur und in zunehmendem Maße werden Autor*innen mit unterschiedlichen Hintergründen gesucht, um vielfältige Geschichten zu erzählen.
Auch in Finnland wird die immer vielfältigere Wirklichkeit zunehmend erkannt. Es besteht eine Nachfrage nach Autor*innen mit verschiedenen Hintergründen. Beim Webinar berichteten die Kinderbuchautorin Johanna Lestelä und der Illustrator Carlos da Cruz von ihren Erfahrungen als Akteur*innen in der finnischen Kinderliteraturgemeinschaft und gaben Tipps, wie man sich beispielsweise potentiellen Herausgebern am besten nähert. Die für ihre Tuikku-Bilderbücher bekannte Lestelä betonte, dass eine gute Idee das wichtigste Kriterium für ein Buch sei und die Suche nach einem Verlag Aktivität und Beharrlichkeit erfordere. Wenn andere, insbesondere Vertreter*innen des potentiellen Zielpublikums das Manuskript probelesen, hilft das, die Wirklichkeit kindlicher Leser*innen besser widerzuspiegeln. Da Cruz sprach darüber, wie wichtig es sei, die eigene Geschichte zu kennen, und ermutigte Buchschaffende, den persönlichen kulturellen Hintergrund bei der Konstruktion seiner Künstler*innenidentität zu nutzen. Bei der Schaffung beispielsweise der Apassit-Serie hat er neben seinen portugiesischen Wurzeln und seinem Franzosentum auch all das, was er von der finnischen Kultur gelernt hat, verarbeitet - so werden Bücher wahrhaft originell. Außerdem betonte er, dass es wichtig sei, den geeigneten Verlag für den eigenen Stil zu finden.
Geschichten für eine vielfältige Welt
In Finnland erscheint auch viel diverse Literatur, die von den meisten Leser*innen meist nicht als solche erkannt wird. Die Illustratorin Emmi Jormalainen hob den Umstand hervor, dass im Klappentext das Merkmal der Vielfalt mitunter bewusst nicht erwähnt werde, um die Aufmerksamkeit nicht vom Kern des Werkes wegzulenken. Die Schriftstellerinnen J.S. Meresmaa und Magdalena Hai erwähnten in der Diskussion, dass es beispielsweise im Genre Fantasy eine reiche Auswahl an Darstellungen von Diversität gibt, diese aber unter den genretypischen Elementen verschwindet, sofern sie nicht extra hervorgehoben werden. Allerdings ließen sich aus den verschiedenen Welten dieses Genres keine direkten Rückschlüsse auf die Wirklichkeit ziehen, so wie dies bei realistischer Literatur der Fall ist. Aber andererseits könne gerade in diesen Welten Vielfalt ebenso sehr Wirklichkeit sein wie in der realen Welt.Was ist dann unter einer guten, die vielfältige Wirklichkeit widerspiegelnden Kinder- und Jugendliteratur zu verstehen? Moring wies darauf hin, dass man es sich nicht zur Aufgabe machen sollte, alle möglichen Sichtweisen auf eine Sache auf einmal zu schildern, sondern der Geschichte folgen sollte. Johanna Lestelä ermutigte dazu, sich genau zu überlegen, was man mit einem Buch erzählen wolle und für wen, ohne auf Stereotype zu verfallen. Laut Pesonen könne hier der Begriff des sicheren Raums angewendet werden - ein sicheres Buch enthalte keine Feindseligkeiten und lade alle Leser*innen ein, sich auf die Geschichte und die darin geschilderte Welt einzulassen.
Welche Wirklichkeit würden Sie beschreiben?