März 2019
Momo: Zeit ist Leben
Es überrascht wohl kaum, dass ich als Kind eine eifrige Leseratte war. Und noch immer liebe ich den Zauber von Kinderbüchern – die Art, wie sie Geschichten und ihre Leser_innen so ernst nehmen aber trotzdem mit so viel Leichtigkeit daherkommen. Gelegentlich finde ich als Erwachsene Schätze unter den Kinderbüchern, die ich am liebsten meinem zehn-jährigen Selbst schenken würde. Mit dabei wären auf jeden Fall Terry Pratchetts Tiffany Weh Bücher und Michael Endes fantastische Geschichte von Momo.
Die Geschichten von Tiffany Weh (für 9 bis 11 Jährige empfohlen) beginnen mit dem Roman Kleine freie Männer (übersetzt von Andreas Brandhorst), in dem Tiffany ins Feenland reisen muss, um ihren Bruder zu retten – und um die Feen, die ihn entführt haben, davon abzuhalten, die Menschen als ihre eigenen Spielzeuge zu behandeln. Diese Bücher sind etwas nachdenklicher als viele der Romane in Pratchetts Scheibenwelt-Serie und Tiffany lernt während ihrer Abenteuer viel über Gemeinschaft, Verantwortung und die gewaltige Kraft von Geschichten.
Ähnlich wie Tiffany erscheint Michael Endes Figur Momo zunächst als untypische Heldin – ein scheinbar unauffälliges Kind, das allerdings – wie Tiffany – die Sachen sieht, so wie sie wirklich sind. Michael Ende kennt man in der englischsprachigen Welt eher für Die unendliche Geschichte, aber auch Momo, ein Klassiker der deutschen Kinderliteratur, hat es verdient, im Vereinigten Königreich bekannter zu sein. Momo, reich nur an Zeit, wohnt am Rande einer Großstadt in den Ruinen eines Amphitheaters und ist gleichermaßen beliebt bei den Kindern und den Erwachsenen der Gegend. Allmählich aber beginnt sich Momos Stadt zu verändern, unterwandert von den geheimnisvollen „grauen Herren“, die sich auf die Zeit verstehen, „so wie Blutegel sich aufs Blut verstehen“. Als Mitarbeiter der finsteren Zeit-Spar-Kasse bringen die Herren die Einwohner_innen der Stadt dazu, ihre Zeit eifrig zu sparen, indem auf Tagträumereien, Gespräche mit Freund_innen, Besuche bei Geliebten verzichtet wird. Je mehr die Menschen an Zeit sparen, desto weniger haben sie und das Leben wird immer eintöniger und trostloser. Nur Momo kann die grauen Herren besiegen, indem sie sich über die Zeit hinaus wagt und so der Welt das Leben wieder ermöglicht.
Den Pratchettschen absurden Humor hat Michael Ende zwar nicht (von wem könnte man das schon behaupten?), aber beide Autoren verwenden Fantasy, um unsere eigene Realität zu erforschen. Endes Darstellung einer Gesellschaft, so fixiert auf Produktivität, dass die Menschen vergessen, wie man träumt, ist qualvoll erkennbar, wenn man das Buch als Erwachsene liest – und die Erinnerung daran, dass die Zeit selbst Leben ist „und Leben im Herzen wohnt“ ist eine Botschaft, die bleibt, lange nachdem man die letzte Seite gelesen hat.
Der Autor Philip Pullman sagte einmal, dass manche Themen zu groß für die Literatur für Erwachsene seien und nur in einem Kinderbuch richtig behandelt werden können. In dieser kühnen Behauptung steckt viel Wahrheit. Kinderbücher wie die Narnia-Serie, die Tiffany Weh Bücher und Pullmans eigene His Dark Materials Trilogie faszinieren dank ihrer Erforschung der großen Fragen des Lebens: woher wir kommen, wer wir sind, und was es bedeutet, ein gutes Leben zu führen. Momo gehört zu genau diesen Büchern. Ob jung oder junggeblieben – niemand sollte verpassen, sich die Zeit für dieses großartige Buch zu nehmen.
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