März 2021
Judith Schalansky: Verzeichnis einiger Verluste
Rebecca Solnits Bücher sind meine perfekte Lektüre, wenn ich im Zug sitze. (Zug fahren. Was war das noch mal?) Solnits lange, verschachtelte Sätze laden die Leserin ein, ohne Ablenkung in sie einzutauchen. Hinterher fühle ich mich immer gedehnt, herausgefordert, von neuen Gedanken und Ideen begeistert und beflügelt. Solnit ist in erster Linie für ihre Essays bekannt (vor allem: Wenn Männer mir die Welt erklären, (in dem sie den Begriff “mansplaining” geprägt hat), übersetzt von Kathrin Razum), aber ich liebe ihre längeren Werke, vor allem Die Kunst, sich zu verlieren, übersetzt von Michael Mundhenk. Solnit schlendert darin von der Autobiographie bis in die Kunstgeschichte, von der Psychogeographie bis hin zum Mythos – und sie lädt den Leser ein, mit ihr zu wandern.
Die deutsche Autorin Judith Schalansky schlendert in ihren Texten vielleicht noch weiter als Solnit. Wie Solnit, kann sie sich jede Thematik aneignen – vom Stummfilm bis hin zur Naturkunde. Und ähnlich wie Solnit sind ihre Wanderungen nicht nur metaphorisch: Sie sind vielmehr eingebettet in Ort und Landschaft, egal ob sie der Quelle des Flusses Ryck folgt – und dabei den Frühling entdeckt – oder sich in den Alpen verläuft.
In Schalanskys Verzeichnis einiger Verluste steht jeweils ein anderer Verlust im Mittelpunkt jedes Kapitels: Vom kaspischen Tiger bis hin zur verschwundenen Insel von Tuanaki und der bemerkenswerten Bibliothek des Wissens von Armand Schulthess, um nur drei zu nennen. Ein paar Kapitel beleuchten den jeweiligen Gegenstand mithilfe von detaillierter Recherche – und einer erfrischenden Ehrlichkeit über die Lücken, die die Recherche nicht füllen kann. In anderen Kapiteln sind die Verluste nur Anfangspunkte für elliptische, manchmal verstörende Kurzgeschichten, in denen sich bei genauer Betrachtung immer wieder unerwartete Verbindungen erschließen lassen. Hut ab vor Jackie Smith, Schalanskys englischer Übersetzerin, deren flexible Übersetzung mühelos zwischen verschiedenen Genres, Stimmen und Modi wechselt – was besonders beeindruckt, da diese ihre erste Literaturübersetzung ist.
Mein Lieblingskapitel war wahrscheinlich die Kurzgeschichte, die auf den verlorenen Film von Friedrich Wilhelm Murnau Der Knabe in Blau mit dem Queering von Greta Garbo reagiert hat:
„Und die perfekte Besetzung für das Mädchen, das Dorian Grey den Kopf verdreht. Himmel! Das wäre es gewesen. Die Monroe als Sybil und sie selbst als Dorian. Ja, das wäre es gewesen, die perfekte Rolle für ein Comeback. […] Die große Garbo, von der kleinen Monroe ruiniert. […] Verfluchte Scheiße, das wäre es gewesen.“
Wer würde nicht gerne diesen Film gucken?
Ich muss zugeben, ich war etwas nervös, als ich Verzeichnis einiger Verluste anfing (trotz der unglaublich schönen Buchgestaltung, von Schalansky selbst). Das Vorwort – es geht um Friedhöfe und Verluste und Erinnerungen – war düsterer als ich es mir gewünscht hätte. Während Solnit helle Horizonte voller Hoffnung bietet, sind Schalanskys Landschaften etwas mehr von Grau durchzogen. Aber es brauchte nur zwei Kapitel und meine Befürchtungen waren verflogen dank Schalanskys lebendigen Geschichten und ihrer klaren Leidenschaft für ihre Thematik. Die Texte habe ich bald aufgesogen, eifrig die Seiten umblätternd – und ich fühlte mich leicht beraubt, jedes Mal, wenn ein Kapitel zu Ende ging.
Über die Autorin
Annie Rutherford ist eine hoffnungslose Leseratte, kann sich nie auf nur eine Sache festlegen und bewegt sich am Liebsten irgendwo zwischen Genie und Wahnsinn. Sie ist Programmkoordinatorin bei StAnza (Schottlands internationalem Lyrikfestival), übersetzt vor allem literarische Texte aus dem Deutschen ins Englische, leitet den Buchclub der Lighthouse Buchhandlung in Edinburgh, der übersetzte Schriftstellerinnen diskutiert, und vieles mehr. Sie wurde schon erwischt, wie sie fahrradfahrend gelesen hat (was sie nicht empfehlt) und kann ein falsch gesetztes Apostroph aus fünfzig Metern Entfernung erkennen.Leihen Sie sich das deutsche Original digital über die Onleihe aus.
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