Januar 2022
Sasha Marianna Salzmann: Außer Sich
Wenn dir der Schauplatz und viele Figuren von Elif Shafaks Roman Der Bastard von Istanbul gefallen, empfehlen wir Außer Sich von Sasha Marianna Salzmann.
Das Genre des Mehrgenerationenromans findet sich in Großbritannien v.a. im Bereich von übersetzter Fiktion. Dabei werden die Leben von unterschiedlichen Generationen – v.a. von den Frauen einer Familie – gegen den sich verändernden politischen Hintergrund des zwanzigsten Jahrhunderts dargestellt. Vielleicht funktioniert das Format erst richtig, wenn es um eine sich dramatisch verändernde politische Landschaft geht – oder vielleicht denken Verleger*innen einfach, dass sich diese Geschichten am besten verkaufen, wenn sie irgendwie exotisch belegt sind. So oder so – wenn du, wie ich, Ensembleromane magst und gerne ein bisschen Geschichte beim Lesen lernst, dann bieten Romane wie Elif Shafaks Der Bastard von Istanbul (tr. Juliane Gräbener-Müller) mit seinen exzentrischen Figuren und verlockend evokativen Schauplätzen eine tolle Ablenkung für graue Winterabende.
Wenn das auch genau dein Ding ist, muss ich dir unbedingt Sasha Marianna Salzmanns Roman Außer Sich empfehlen. Die Haupterzählung folgt Ali, die – irgendwann nach den Protesten im Gezi-Park – in Istanbul ankommt, um nach ihrem Zwillingsbruder Anton zu suchen. Zwischen den erfolglosen Versuchen Anton zu finden und Raki und Tee auf dem flohverseuchten Sofa bei Onkel Cemal, trifft Ali auf Katho, einen jungen Transmann, und fängt an, seine eigene Gender-Identität zu hinterfragen. Der Roman wechselt hier zwischen der dritten und ersten Person, was Alis fragmentierte Identität betont.
Geschachtelt in diese Erzählung sind die Geschichten von Alis Eltern, Großeltern und Urgroßeltern: Eine jüdische Familie, die – zwischen Wolgograd, Moskau und den Asylheimen Deutschlands – ihren Kindern erklärt, dass sie zweimal so gut wie alle anderen sein müssen, um halb so erfolgreich zu sein. Im Verlauf des Romans verstehen wir, dass diese Geschichten von Ali gesammelt werden, der die Fehlbarkeit des Erzählens humorvoll anerkennt:
„So widersprüchlich die Wahrheiten der Familiengeschichten auch sein mochten … einen gemeinsamen Nenner gab es in all den Überlieferungen doch: Die Mitglieder dieser Familie waren alle sehr schön und sehr klug, so war man gewöhnt, von ihnen zu erzählen.“
Keine der Figuren im Buch sind perfekt (und die Cis-Männer kommen dabei besonders schlecht weg) – mit einer möglichen Ausnahme: die willensstarke Etinka, deren Fähigkeit und Entschlossenheit ihre Rolle als Leiterin eines Kindersanatoriums auch während antisemitischer Säuberungen sichern. Beeindruckend ist, wie Salzmann die Komplexität und Widersprüche jeder der Figuren skizziert, auch wenn die eigenen Familienmitglieder diese Komplexität nicht erkennen können. Das trifft v.a. bei Valja, Alis Mutter zu, eine begabte Ärztin, die gegen Antisemitismus, einen gewalttätigen Ehemann und das entmenschlichte Asylsystem Deutschlands kämpft, um ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen. Dass Ali allmählich die Vielschichtigkeit der Mutter erkennt, ist bei der Lektüre eine besondere Freude.
Und Außer Sich ist wirklich ein Buch mit viel Freude – trotz der Erwartungen, die man bei Themen wie Säuberungen, Antisemitismus, Asyl und Missbrauch haben könnte. Salzmann und ihre unermüdlichen Figuren können v.a. wundervoll erzählen – und sie bringen Licht und Lachen in die Geschichten, die sie teilen.
Über die Autorin
Annie Rutherford ist eine hoffnungslose Leseratte, kann sich nie auf nur eine Sache festlegen und bewegt sich am Liebsten irgendwo zwischen Genie und Wahnsinn. Sie ist stellvertretende Festivaldirektorin bei StAnza (Schottlands internationalem Lyrikfestival), übersetzt vor allem literarische Texte aus dem Deutschen ins Englische, leitet den Buchclub der Lighthouse Buchhandlung in Edinburgh, der übersetzte Schriftstellerinnen diskutiert, und vieles mehr. Sie wurde schon erwischt, wie sie fahrradfahrend gelesen hat (was sie nicht empfehlt) und kann ein falsch gesetztes Apostroph aus fünfzig Metern Entfernung erkennen.Reservieren Sie sich den deutschen Originaltitel in der Glasgower Bibliothek.
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