Januar 2023
Katja Oskamp: Marzahn, mon amour
Fans von James Herriots sanftem Stil empfehlen wir Katja Oskamps Marzahn, mon amour.
Als ich Katja Oskamps Marzahn, mon amour las, habe ich eine unangenehme Wahrheit über mich entdeckt. Wer hätte es gedacht: Beschreibungen von Füßen mag ich wirklich, wirklich nicht. Füße an sich? Kein Problem. Eine Pediküre zu haben? Schön. Die Beschreibung einer Pediküre lesen zu müssen? Igitt.
Aber trotz dieser neu entdeckten Phobie hat mir Vieles in Oskamps autobiographischen Erzählungen über ihrer Arbeit als Fußpflegerin in Marzahn auf Anhieb gefallen. Marzahn ist ein Vorort von Berlin, der für Deutsche ein Synonym für Betonwüste und Neonazis ist. Oskamp jedoch interessiert sich nicht für Stereotype – egal ob es darum geht, den ehemaligen Osten zu dämonisieren oder in Ostalgie zu schwelgen – und blickt stattdessen mit Offenheit und Mitgefühl auf das Miteinander von Menschen, von deren Leben sie ein kleiner Teil wird. Marzahn, mon amour besteht hauptsächlich aus Skizzen von Oskamps Begegnungen mit ihren Kunden, und diese sind auch das Herz des Buchs – ein sanftes, manchmal ironisches, immer warmes Herz. Marzahn ist weit entfernt vom ländlichen Yorkshire, aber diese Wärme – und die strahlenden Gesichter von Freundinnen, als ich das Buch erwähnt habe – hat mich irgendwie an James Herriot erinnert, und an die Art, wie menschliche Begegnungen auch bei ihm das Herzstück jeder Erzählung sind.
Zu Beginn des Buches steckt Oskamp in den „mittleren Jahren, in denen du weder jung noch alt bist”, und sie sich – müde und laut eigener Beschreibung bitter und unsichtbar – für eine Ausbildung zur Fußpflegerin entscheidet. Die anderen Frauen im Ausbildungskurs haben ganz unterschiedliche Lebenswege und -erfahrungen hinter sich, aber trotzdem sind sie alle „Frauen wie wir, mittelalte Mütter, bemüht und brav, namenlose Vertreterinnen eines namenlosen Mittelfelds, degradiert zu Fußnoten des eigenen Lebens.” Oskamps Beobachtungsgabe wird schon in diesem ersten Kapitel deutlich, ebenso wie ihr Interesse an den Menschen, die in unserer Gesellschaft oft unsichtbar gemacht werden: Die Frauen, die zu alt wären, Heldin bei einer Romcom zu werden, und v.a. ihre älteren Kunden – wie z.B. Frau Guse, die sich „langsam und im Rückwärtsgang von der Welt (entfernt), in der sie sich auskannte”.
Vielleicht hallt dieses Buch nach dem Lockdown noch stärker in uns nach, als wir erkennen mussten, wie wichtig Berührung für unser emotionales Wohlbefinden ist, und als wir unsere beiläufigen Begegnungen – mit Friseur:innen, Kassierer:innen und für einige Leute bestimmt auch Fußpfleger:innen – plötzlich zu schätzen gelernt haben. Oskamp schrieb Marzahn, mon amour zwar noch bevor wir diese Kontakte einbüßten, aber trotzdem zeigt sie die Wichtigkeit des oft so verleumdeten Small Talk auf: „Der Profi hingegen weiß, dass nur ein Bruchteil jeder Kommunikation dem reinen Informationsaustausch dient, der große Rest ist etwas anderes, und in diesem großen Rest tummeln Frau Guse und ich uns in virtuoser Verquickung.“ Oskamps Arbeit geht – glücklicherweise, angesichts meiner neu entdeckten Befindlichkeiten – nicht nur um Füße. Es geht vielmehr um Menschen, um Mitgefühl, Würde und Respekt.
Über die Autorin
Annie Rutherford macht Sachen mit Wörtern, und verfechtet übersetzte Literatur aller Arten. Sie arbeitet als Autorin, Übersetzerin und Veranstalterin, und recherchiert im Moment die Möglichkeit, eine Residenz für Schriftsteller*innen im Exil in Edinburgh zu etablieren. Sie leitet den Buchclub der Lighthouse Buchhandlung in Edinburgh, der übersetzte Schriftstellerinnen diskutiert, und kann ein falsch gesetztes Apostroph aus fünfzig Metern Entfernung erkennen.Reservieren Sie sich den deutschen Originaltitel von Marzahn, mon amour in der Glasgower Bibliothek.
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