Interview
"Die Nachhaltigkeit der Digitalisierung von Kunstwerken erfordert einen ganzheitlichen Ansatz"
Ruth Catlow ist künstlerische Ko-Leiterin von Furtherfield, einem Zentrum für Kunst, Technik und ökosozialen Wandel, und Co-Principal Investigator am Serpentine Galleries Blockchain Lab. Für diesen Artikel sprachen wir mit Ruth über „kunstbasierte Aktionsforschung“, das Nachhaltigkeitspotenzial digitaler Ausstellungen und den Wert von Freundschaft.
Von Lucy Rowan
Zusammen mit Marc Garrett haben Sie die Furtherfield Gallery im Londoner Finsbury Park gegründet. Können Sie uns mehr über die Anfänge und Ihre Arbeit dort erzählen?
Furtherfield gibt es seit 1996, als das Internet Fahrt aufnahm. Unsere Philosophie orientierte sich an den kollaborativen Communitys der frühen Bewegung, die für kostenlose Open-Source-Software eintrat und das Internet als einen Ort sah, an dem wir gemeinsam etwas aufbauen können, abseits von kommerziellen, besitzergreifenden und auch staatlichen Interessen.
Schon früh verstanden wir, dass wir diesen neu entstehenden Raum als Plattform nutzen können, auf der Künstler*innen, Technikbegeisterte und Aktivist*innen eine Infrastruktur errichten können, die sie in die Lage versetzt, zusammenzuarbeiten und die Art von Kultur zu schaffen, die sie wollten und brauchten. Es war also eine Art Raum für Utopien.
Seit 2011 führen wir die Galerie im Herzen des Finsbury Park, einem klassischen öffentlichen Park im Norden Londons. Unsere erste Galerie haben wir etwa 2004 ins Leben gerufen und uns Künstler*innen gewidmet, die sich auf Dezentralisierung und die Auswirkung von dezentraler Technik auf die Gesellschaft konzentrierten. Wir haben uns damit auseinandergesetzt, wie das unsere Beziehungen zueinander verändert und wie es die Art der Machtausübung und Machtflüsse prägt.
Wir wollten schon immer unbedingt eine Galerie eröffnen, denn obwohl ein Großteil des künstlerischen Austauschs und Schaffens in einem virtuellen Raum stattfand, ermöglichten zwischenmenschliche Begegnungen an einem physischen Ort, die Wirkung eines Werkes zu erfassen und es einem kulturinteressierten Publikum vollumfänglich zu vermitteln. Indem wir unseren Standort in einen öffentlichen Park verlegten, haben wir unsere Besucherzahlen verzehnfacht, und weil er sich in London befindet, vermutlich ein viel breit gefächerteres Publikum angezogen. Eines, das nicht unbedingt schon vorher an diesen Stil der „Hochkunst“ gewöhnt war.
Anfangs kuratierten wir also Ausstellungen mit Werken, die sich kritisch mit der Schnittstelle zwischen Kunst, Technik und sozialem Wandel befassten und von Menschen stammten, die wir für wirklich kluge, erstaunlich kreative Theoretiker*innen und Praktiker*innen halten. Sobald wir das in den öffentlichen Raum verlagert hatten, wollten wir es allen zugänglich machen, die durch unsere Tür spazierten. Dazu gehörten auch Leute, die ihren Hund Gassi führten, ihre Kinder auf den Spielplatz brachten oder einfach nur auf einer Bank saßen und rauchten. Unser Ziel war es, den Ausstellungen Bedeutung und Relevanz für alle zu verleihen, die sich zufällig zu uns verirrten. Das war toll und eine interessante kuratorische Herausforderung.
Mittlerweile haben wir unsere Arbeitsweise verändert, denn nach all den Jahren im Park haben wir so viel gelernt und mit den unterschiedlichen Menschen vor Ort so unglaublich viel Zeit verbracht, dass uns klar geworden ist, unsere Online-Communitys können ebenso viel von den Erkenntnissen, der gelebten Erfahrung und der Kreativität der Menschen, denen wir begegnet sind, lernen wie wir. Und daher beschlossen wir, partizipativ zu arbeiten.
Ist das mit Ihrem Konzept der „kunstbasierten Aktionsforschung“ gemeint? Und was bedeutet es für die Communitys vor Ort?
In den letzten fünf Jahren haben wir mehr Ressourcen in ein Projekt gesteckt, das sich mit der Geschichte und den Interessen unserer lokalen Gemeinschaften beschäftigt. Wir wollten nicht nur Werke mitgestalten, sondern auch auswählen, welche Arbeiten eine Plattform bekommen und welche gefördert werden. „Kunstbasierte Aktionsforschung“ ist also im Grunde genommen ein interaktiver Prozess, mit dem wir ergründen wollen, was Menschen an einem Ort wichtig ist, und bei dem wir gemeinsam mit ihnen Werke schaffen und Wege finden, das auf eine für sie bedeutsame Weise zu tun. Dann erörtern wir, worauf wir unseren Schwerpunkt legen und was wir unterstützen wollen. Dadurch lernen wir auch, wie wir so etwas kommunizieren, damit wir mehr Menschen einbeziehen und beteiligen können.
Eines der Web-3.0-Projekte, an dem wir seit 2017/18 arbeiten, heißt Culture State. Das ist eine Blockchain-basierte Voting-App für kollektive kulturelle Entscheidungsprozesse. Sie ist von zwei Ereignissen inspiriert. Zum einen vom Brexit und dem schrecklichen Volksentscheid, der das Land komplett gespalten hat, obwohl er nichts über unsere Kultur aussagt und uns bloß gegeneinander aufgebracht hat. Zum anderen ist es eine Reaktion auf die 50000 Menschen, die diesen Park nutzen und die 200 verschiedene Sprachen sprechen. Wir haben also überlegt, wie wir anfangen können, gemeinsam Entscheidungen zu treffen und voneinander zu lernen. Die App beruht auf „quadratischem Voting oder Wählen“, bei dem die Leute durch Abgabe zusätzlicher Stimmen ihre Präferenzen deutlicher ausdrücken können. So können sie ihre Meinung zu Sachverhalten einbringen, an denen ihnen wirklich etwas liegt.
Sobald die Teilnehmer*innen entschieden haben, was wir in Auftrag geben oder woran wir arbeiten sollen, können sie uns mehr darüber erzählen, warum ihnen das wichtig ist. Diese Daten werden dann dauerhaft gespeichert, und alle können darauf zugreifen, sodass wir alle im Bilde sind. Im Grunde genommen ist das so, als würden wir eine Art öffentliches Datengut einer lokalen Gemeinschaft mit Informationen füttern. Wir stellen uns vor, dass diese App in verschiedenen Umgebungen zum Einsatz kommt, wo die Beteiligten eigene Umfragen starten und ein eigenes öffentliches Kulturdatengut zusammentragen können, um damit das Vertrauen in die Gemeinschaft zu stärken und in kulturelle Entscheidungsprozesse und Orte zu investieren. Das steckt alles noch in den Kinderschuhen, denn die Softwareentwicklung allein ist schon schwierig, doch innerhalb einer Kunstorganisation ist sie ein Albtraum.
Ein weiteres Beispiel: Wir entwickeln Live-Rollenspiele als eine zentrale Methode der kunstbasierten Aktionsforschung. So können wir oft mit Wissenschaftsexpert*innen zu Themen rund um Dezentralisierung oder Ökologie kooperieren. Das sind die beiden Fragen, auf die wir uns momentan konzentrieren, und wir wollen mit Menschen arbeiten, deren Leben von diesen beiden Themen betroffen ist. Auf diese Weise können wir uns intensiver mit der Öffentlichkeit auseinandersetzen und herausfinden, was das Kernanliegen dieser Forschungsprozesse und -themen ist.
In den letzten zwei oder drei Jahren haben wir ein Live-Rollenspiel namens „The Treaty of Finsbury Park“ (Der Vertrag von Finsbury Park) konzipiert, bei dem es um artübergreifende Gerechtigkeit geht. Das ist eine Zukunftsfiktion, in der alle Lebewesen einander verstehen können und alle Spezies nun gleichberechtigt zum Menschen sein wollen. Im Rahmen des Projekts haben wir eine Festivalreihe veranstaltet, denn damit können wir Menschen um uns versammeln, die unsere Vorstellung davon, was möglich ist, auf sehr originelle Weise erweitern und uns danach für eine neue Welt entscheiden, die wir gemeinsam aufbauen. Wenn man solche Erfahrungen macht, verändert sich die eigene Wahrnehmung eines Ortes grundlegend, und auch die Wahrnehmung der eigenen Handlungsfähigkeit innerhalb dieses Ortes wird beeinflusst.
Letztes Jahr haben Sie in der Serpentine Gallery das Buch „Radical Friends“ präsentiert. In dem Buch heißt es: „Bei der Technik der Zukunft muss es um Zusammengehörigkeit, nicht um Abschottung gehen. Liebe, nicht Misstrauen. Eine gemeinsame Zukunft, nicht Isolation.“ Können Sie für diejenigen, die das Buch noch nicht gelesen haben, erklären, was damit gemeint ist?
Wir haben das Buch „Radical Friends“ genannt wegen der Bedeutung, die der Dezentralisierung bei der zukünftigen Disintermediation des Finanz- und Regierungssektors zukommen wird. Bei Web 3.0 ist es im Moment eigentlich genau so – es liegt in der Hand von Vermarkter*innen und Entwickler*innen. Die Kernbotschaft des Buchs ist also, dass wir darauf achten müssen, beim Aufbau dieser sehr wichtigen Infrastruktur Werte in den Mittelpunkt unserer Arbeit zu stellen, im gemeinsamen Interesse von so vielen Menschen wie möglich.
Freundschaft ist ein Grundwert in allen menschlichen Gesellschaften, und sie ist allen wohl vertraut. Sie ist das, was uns dazu bringt, ein gravierendes Problem mit jemandem zu lösen, der einen anderen Hintergrund hat als wir. Sie ist ein Mittel, gemeinsam zu lernen. Aber sie ist auch ein guter „Polarstern“, wenn wir über Infrastruktur nachdenken. Insbesondere, wenn wir an die Art von Gewalt denken, die von derzeitigen globalen politischen Infrastrukturen durch das staatlich-religiöse Patriarchat ausgeht, bietet Freundschaft uns eine sehr klare Alternative. Sie ist eine Verfahrensweise, die wir bei der Entwicklung neuer Technologien oder Führungsmethoden im Hinterkopf behalten sollten.
Wie nachhaltig ist die derzeitige Digitalisierung von Kunstwerken?
Das wirft eine Reihe zusammenhängender Fragen über Zugänglichkeit, Erhaltung, Eigentümerschaft und Umweltauswirkungen auf – alles verpackt in der weitergefassten Frage, inwieweit digitale kulturelle Infrastrukturen, die ungerecht sind und Menschen ausschließen, als nachhaltig erachtet werden können. Die Einbettung der Technik in kulturelle Landschaften kann problematisch sein. So könnte die Digitalisierung öffentlicher Kunstsammlungen beispielsweise die Zugänglichkeit verbessern, mehr Möglichkeiten für Forschung und Innovation eröffnen und die Bildung und Auseinandersetzung mit Kunst begünstigen.
Doch viele der großen Digitalisierungsprojekte im Kulturbereich werden heute in Partnerschaft mit marktbeherrschenden Megakonzernen durchgeführt, deren Ziele, Prioritäten und Lebenszyklen in direktem Widerspruch zu den betroffenen Kultureinrichtungen stehen. Wenn sich die Interessen des Unternehmens ändern oder sie das Projekt nicht länger unterstützen, dann ist die Zugänglichkeit und Bewahrung des digitalisierten Materials möglicherweise gefährdet.
Wenn wir uns einig sind, dass eine wichtige Rolle der Kultureinrichtungen darin besteht, die subjektive Wahrnehmung einer Gemeinschaft von Ort, Zeit oder Praxis in Bezug auf die breitere Gesellschaft zu reflektieren, dann drängen die Plattformenschnittstellen eine problematische „Eine-Welt“-Homogenität mit starken, oft verborgenen Markenzielen auf, die zum Beispiel den Status digitaler Bilder als auszuschöpfende Produkte oder Menschen als Nutzer*innen und nicht als Bürger*innen begünstigen. Das stellt nicht nur ein bedrückend aneignendes, zentralisiertes, konsumorientiertes Gesellschaftsmodell dar, sondern hält auch koloniale Vorstellungen von kulturellem Besitz aufrecht.
Haben Sie Vorschläge, wie sie verbessert werden könnte?
Eine Möglichkeit, dieses Problem anzugehen, bestünde darin, die bestehende Kluft zwischen dem kulturellen „Establishment“ und der unglaublich fruchtbaren, mehr als 30 Jahre andauernden Tradition des künstlerischen Schaffens zu schließen, das sich kritisch mit Computertechnologien als Medien, Verteilungsinfrastruktur und dem Nachdenken über Macht befasst.
Seit Anfang der 1990er-Jahre haben sich Künstler*innen selbst organisiert, um sich von verschiedenen Aspekten der Unterdrückung zu befreien, die in digitalen Netzwerken zugange sind, wie Patriarchat (VNS Matrix, Old Boys Network), besitzergreifende Beeinflussung (Critical Engineering Working Group, Marc Garrett, Antonio Roberts, Eugenio Tisselli, Piratbyrån), Kolonialismus (Nora Al-Badri & Jan Nikolai Nelles, Looty, Gretta Louw mit dem Warnayaka Art Centre, Mongrel), Umweltauswirkungen (Memo Atken, Sarah Friend, Joana Moll, Julian Oliver) sowie identitätsbasierte und biologische Unterdrückung (Shu Lea Cheang, Zach Blas, Mary Maggic). Nach Ort oder Neigung strukturiert, offenbart diese selbstreflexive künstlerische Auseinandersetzung mit der Technik „die Wert- und Politikschichten des kulturellen Erbes“, ist an lokalen und translokalen kulturellen Bedürfnissen und Fragen ausgerichtet und bringt Strategien zur Minderung potentieller Schäden hervor.
Die Nachhaltigkeit der Digitalisierung von Kunstwerken erfordert einen ganzheitlichen Ansatz, der von dezentralen Gemeinschaften Gleichgesinnter geprägt ist, die gemeinsam umweltbedingte, technische und soziale Faktoren ausloten und ein tragfähigeres, gerechteres Ökosystem der digitalen Kunst zum Leben erwecken.
Sind digitale Ausstellungen besser für die Umwelt als klassische?
Digitale Ausstellungen können die ressourcenintensiven Aspekte klassischer Ausstellungen eindämmen, wie Transport, Druck und physische Infrastruktur. Doch die Nachhaltigkeit einer digitalen Ausstellung hängt von einer komplexen Reihe von Faktoren wie Energiequellen, dem Umgang mit Elektroschrott, der CO2-Bilanz von Datenzentren und dem ökosozialen Schaden ab, den der Abbau von Rohstoffen, oft im Globalen Süden, verursacht. Projekte wie The Networked Condition, das von einer Gruppe bewusster, britischer Organisationen für digitale Kunst initiiert wurde, die sich mit ebenjenem Thema befassen, untersuchen nun die „oft verborgene Umweltbeeinträchtigung durch Kunstwerke, die mithilfe digitaler Technik geschaffen und verbreitet werden“. Sie haben ein Tool entwickelt, mit dem sich live gestreamte Veranstaltungen, digitale Kunstwerke oder digitale Veranstaltungen im Hinblick auf ihre CO2-Bilanz planen lassen.
Grundsätzlich wäre es für die Umwelt jedoch besser, wenn alle Volkswirtschaften weltweit nicht auf Grundlage von Profit- und Wachstumsmodellen arbeiten würden, die auf fossilen Brennstoffen, der Ausbeutung aller Ressourcen der Erde und der Vernichtung von Kulturen basieren, die Wert auf andere Weise verbreiten. Ich stimme der von Dani Admiss geleiteten Sunlight Doesn’t Need a Pipeline (Das Sonnenlicht braucht keine Pipeline, kurz: SDNP)-Koalition zu, dass die Klimakrise ebenso sehr ein soziales und politisches wie ein ökologisches Problem ist. Wenn wir uns für die Umweltauswirkung der Kunst interessieren, sollten wir uns daher vielleicht lieber fragen, von wem und für wen Kunst gemacht wird, also die Aufmerksamkeit vom Warenwert der Kunst in der digitalen und „traditionellen“ Sphäre hin zu einer Kunst verlagern, die sich gegen schädliche soziale und ökonomische Systeme wendet und sich stattdessen für Gemeinschaften einsetzt und in ihnen und für sie Werte kreiert. Der ganzheitliche und stetig wachsende Dekarbonisierungsplan der SDNP für den Kunstsektor und darüber hinaus ist ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, wie so etwas aussehen könnte.