Geschlechtliche und sexuelle Diversität
Vielfalt als Schulkultur leben
Warum ist Schule ein Ort, in dem Vielfalt erfahrbar gemacht werden muss? Welchen Einfluss Diskriminierung auf das Lernen hat und welche Möglichkeiten Schulen haben, um Diversität mehr Raum zu geben, erklärt Frank G. Pohl, Leiter der NRW-Fachberatungsstelle „Schule der Vielfalt“.
Von Frank G. Pohl
Wie divers die Gesellschaft in Deutschland und die Lebenswirklichkeit von Schüler*innen ist, muss im Schulalltag nicht immer sofort sichtbar sein. Wenn zum Beispiel eine Schülerin einer jüdischen Religionsgemeinschaft zugehörig ist, ein Schüler zuhause zwei Mamas hat oder ein*e Schüler*in intergeschlechtlich ist, dann erfahren Lehrkräfte davon im Fachunterricht selten etwas. Und es ist auch richtig, dass sich niemand outen muss.
Zugleich ist es hilfreich, auch um den Lernerfolg abzusichern, wenn Lehrkräfte eine existierende Diversität im Klassenzimmer im Hinterkopf haben. Denn es ist der Bildungsauftrag von Schule und daher die Aufgabe des Kollegiums, unabhängig von der Fächerkombination gesellschaftliche Vielfalt in Unterrichtsinhalten und Aufgabenstellungen widerzuspiegeln. Dabei ist eine akzeptierende Haltung besonders wichtig.
Auswirkungen von Diskriminierung auf den Lernerfolg
Schüler*innen genießen durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) und eine Vielzahl von schulrechtlichen Regelungen in Deutschland formal einen Diskriminierungsschutz. In der Realität beginnt wirkungsvolle Antidiskriminierung jedoch sehr konkret mit Präventionsarbeit in der Unterrichtsgestaltung. Ist dabei die Diversität von Menschen zum Beispiel in Bezug auf Herkunft, Gender, Sexualität oder der sozialen Klasse repräsentiert, ist das ein Gewinn.
Inklusive Ansätze sind für alle ein Thema
In dem Buch Diversität im Klassenzimmer, das ich mit meinen Kolleg*innen Birgit Palzkill und Heidi Scheffel verfasst habe, beschreiben wir am Beispiel von geschlechtlicher und sexueller Vielfalt, wie es Lehrkräften gelingt, Diskriminierungen und sexualisierte Gewalt zu unterbinden und allen in einer Schule der Vielfalt eine selbstbestimmte und umfassende Entwicklung zu ermöglichen. Denn die Vorstellungen von geschlechtlicher oder sexueller Identität reichen längst über die Kategorien Frau und Mann oder hetero- und homosexuell hinaus: Statistisch gesehen gibt es in jeder Klasse Schüler*innen, die lesbisch, schwul, bisexuell, trans*, intergeschlechtlich oder queer (LSBTIQ*) sind. Im schulischen Alltag lässt sich täglich beobachten, wie schwierig es für diese Jugendlichen ist, mit der Forderung nach einer eindeutigen idealen Geschlechtsidentität konfrontiert zu sein. Für alle ist daher die Auseinandersetzung mit geschlechtlicher und sexueller Vielfalt ein bedeutendes Thema. Dabei muss Unterricht sicherstellen, dass die persönliche Integrität aller Schüler*innen unbedingt geachtet bleibt.
Auf seiner Internetseite bietet „Schule der Vielfalt“ Unterrichts- und Projektbeispiele für unterschiedliche Fächer an, die Lehrkräfte bei ihrer Unterrichtsplanung unterstützen. Außerdem werden regelmäßig stattfindende Fortbildungen von Moderationsteams im Bereich Gender und Diversität angeboten. Neben Fragen des Inhalts und der Methodik hängt der Erfolg des Unterrichts zudem wesentlich davon ab, wie glaubwürdig die Lehrkraft für die Schüler*innen ist und inwieweit ihre Aussagen stimmig sind zu dem, was sie als Person repräsentiert. Als Voraussetzung dafür muss sich die Lehrkraft über ihre eigene Haltung und ihre Position in der herrschenden Geschlechterkultur klar werden und darüber reflektieren, welche Wirkung das eigene Verhalten auf die Schüler*innen hat. Sollte eine Lehrkraft auf Fragen von Schüler*innen bezüglich ihrer eigenen Person eingehen? Diese Frage lässt sich pauschal nicht beantworten. Es ist darauf zu achten, dass weder die Grenzen von Schüler*innen noch die der Lehrkraft überschritten werden dürfen und eine professionelle Distanz gewahrt bleibt.
Schule als geschützter Raum: eine institutionelle Aufgabe
Gerade in Zeiten, in denen die Akzeptanz von sichtbarer Vielfalt selbst in Staaten der Europäischen Union wieder bedroht ist, bleiben solche solidarischen Symbole über die Selbstverständlichkeit queerfreundlicher Schulen und die Möglichkeiten schulischer Menschenrechtsarbeit wichtig.
AGG: „Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz“, das umgangssprachlich auch als das deutsche Antidiskriminierungsgesetz bezeichnet wird. Es ist 2006 in kraftgetreten und hat das Ziel, „Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität [zu] verhindern und beseitigen“.
LSBTIQ*: Abkürzung für lesbisch, schwul, bisexuell, trans*, intergeschlechtlich oder queer. Das Akronym soll alle geschlechtlichen und nicht-heterosexuellen Identitäten abbilden. Das Sternchen* (auch Gender-Star genannt) wird ebenso wie der Unterstrich_ (auch Gender- Gap genannt) als Platzhalter verwendet, um alle Geschlechter und Identitäten über „männlich“ und „weiblich“ hinaus sichtbar zu machen. Mehrere Studien zur Textwahrnehmung haben gezeigt, dass die Verwendung der rein männlichen Form dazu führt, dass Frauen, transgeschlechtliche, inter- geschlechtliche und nichtbinäre Menschen nur sehr selten gedanklich mit einbezogen werden.
Literaturhinweise
DJI Studie: Coming-out - und dann?! Coming-out-Verläufe und Diskriminierungserfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland. Claudia Krell / Kerstin Oldemeier 2018. bpb-Schriftenreihe, Bd. 10170
Diversität im Klassenzimmer. Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in Schule und Unterricht. Birgit Palzkill / Frank G. Pohl/ Heidi Scheffel, Cornelsen 2020