Identitti
Mithu Sanyal: Identitti
München: Carl Hanser Verlag, 2021, 432 Seiten.
Im Kontext aktueller Debatten über Rassismus, Ausgrenzung, Diversität, Mixed-race-, fluide, vielfache und hybride Identitäten, kulturelle Aneignung und Hegemonie, Selbstbestimmung und -ermächtigung positioniert sich die Journalistin, Kulturwissenschaftlerin und Sachbuchautorin Mithu Sanyal (geb. 1971) mit ihrem ersten Roman Identitti. Dabei wird das entscheidende Handlungselement klugerweise von der Autorin schon zu Beginn des Buches eingeführt und nimmt den Charakter einer Enthüllung an: Saraswati, Professorin für Postcolonial Studies an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf – die seit ihrem ersten Buch Decolonize your soul ein hohes Ansehen genießt und zum Idol von tausenden von Studierenden, darunter auch der Protagonistin des Buches Nivedita, wurde – ist nicht indischer Herkunft, wie sie vorgab, sondern eine Deutsche, und hat nicht nur ihren Namen, sondern auch ihre Hautfarbe geändert.
Indem Sanyal mit der Aufdeckung eines Betrugs beginnt, der innerhalb der People-of-Colour-Community als Verrat empfunden wird, befreit sie die Handlung des Buches vom Gebot der Spannung und der äußeren Wendungen und fokussiert sich eher auf die innere Entwicklung der Figuren, ohne dabei etwas von der Lebendigkeit der Erzählung zu opfern. In den Mittelpunkt der Handlung rückt also das beharrliche Bemühen der Hauptfigur, der Bloggerin Nivedita (alias Identitti oder Mixed-Race-Wonder Woman), die Haltung ihrer Professorin – aber auch die Auswirkungen dieser Haltung auf ihr eigenes Selbstbild – zu verstehen und sich damit zu versöhnen, indem sie sich für die Fortführung des Dialogs und nicht für einen Bruch entscheidet.
Identitti ist gekennzeichnet durch seine lebendige, direkte Sprache (zu der auch die gut gestimmten Dialoge beitragen, die sich nur selten unter der Last der Argumentation beugen), durch seinen kühnen Stil, seinen scharfen Witz, die zahlreichen bemerkenswerten Figuren, die Balance zwischen Leichtigkeit und Ernsthaftigkeit, Popkultur und kritischer Theorie, wie auch durch die Art und Weise, wie es den Ausdrucks- und Dialograhmen, den die sozialen Medien anbieten, für die Literatur nutzbar macht und zugleich darüber hinausgeht. Vor allem sorgt der Roman dafür, die entscheidenden Fragen unbeantwortet zu lassen und die vielfältigen Perspektiven sowie die wesentlichen Widersprüche zur Geltung zu bringen – wie es eben Literatur auch tun soll.
Von Marina Agathangelidou
Marina Agathangelidou, geboren 1984 in Athen, lebt in Berlin. Sie studierte Theaterwissenschaft und literarisches Übersetzen in Athen und promovierte anschließend am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. Seit 2006 ist sie als freie Übersetzerin tätig.
Carl Hanser Verlag