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Luftverschmutzung
Der schweigende Mörder

Air Quality_Nairobi
© Photo (detail): Baz Ratner © picture alliance / REUTERS

Gegen Ende des Jahres 2019 löste die Luftverschmutzung in Neu-Delhi einen Gesundheitsnotstand aus, der für apokalyptische Schlagzeilen sorgte. Diese verpestet Luft zu atmen, entsprach in etwa einer Tagesdosis von fünfzig Zigaretten und das Ausmaß der Luftverschmutzung überschritt in einigen Stadtteilen den von der Weltgesundheitsorganisation WHO als sicher eingestuften Grad um das zwanzigfache.

Meldungen von “Sauerstoff-Bars” in Delhi machten die Runde, als deren Kund*in man für gefilterte Luft bezahlte. Vermutlich ist es wenig überraschend, dass immer dann, wenn Ressourcen knapp oder verschmutzt werden, der Zugang zu diesen Ressourcen – im Überfluss und in guter Qualität – nur noch für einen gewissen Preis möglich ist, mit dem man sich eine kleine, private Flucht aus der allgemeinen Verwüstung der Commons erkauft. Geht es dabei schließlich und endlich um die Luft zum Atmen, tritt dieses Missverhältnis nur umso deutlicher hervor.
 
Tatsächlich betrifft die Luftverschmutzung, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, heute beinahe alle Menschen auf der Welt: Die WHO veröffentlichte vor Kurzem einen Bericht, in dem festgestellt wird, dass über 90% der Weltbevölkerung in Gegenden leben, in denen die Luftverschmutzung die Richtlinien der WHO übersteigt und dass jedes Jahr sieben Millionen Menschen durch Faktoren, die mit der Luftverschmutzung zusammenhängen, sterben. Die Gegenden mit der schlimmsten Luftverschmutzung sind jedoch Städte im Globalen Süden. In Ländern mit hohem Einkommen überschreiten 49% der Städte mit mehr als 100.000 Einwohner*innen die WHO-Richtlinien für Luftqualität. In Ländern mit geringem und mittlerem Einkommen sind es 97%.
 
Die Luftverschmutzung in Nairobi und anderen afrikanischen Städten nimmt weiter zu, doch es gibt ein großes Problem: wir wissen nicht, wie schlimm die Luftverschmutzung tatsächlich ist, denn sie wird nicht gemessen. 2015 gab es mehr Messstationen in der Stadt Paris als auf dem gesamten afrikanischen Kontinent. Professor Michael Gatari von der University of Nairobi, die eines der wenigen präzise Daten liefernden Referenzmessgeräte in Kenia besitzt, sagt, „[die Luftverschmutzung in Nairobi] hat zugenommen auch wenn wir ohne kontinuierliche Überwachung nicht die Daten haben, um dies zu belegen.“ Verkehrsemissionen, Staubpartikel in der Luft und brennender Müll, fügt er hinzu, sind weitere wichtige Quellen der Verschmutzung in Nairobi – und alle haben mit dem Bevölkerungsboom der letzten Jahre rapide zugenommen. Daher ist es wahrscheinlich, dass auch die Geschwindigkeit, in der die Luftverschmutzung zunimmt, sich beschleunigt – obwohl es auch hierfür kaum Daten gibt.
 
In einem von The Elephant veröffentlichten Artikel über die Herausforderungen, die die Überwachung der Luftqualität in Kenia mit sich bringt, schreibt Priyanka deSouza, Doktorandin am Department of Urban Studies and Planning am Massachusetts Institute of Technology, dass die äußerst akkuraten Referenzmessgeräte, deren Daten auch behördlichen Anforderungen genügen würden, Kosten von über 100.000 $ pro Stück mit sich bringen. Obwohl andere Methoden wie Fernerkundung, die Beobachtung sichtbarer Luftverschmutzung, kostengünstige Messgeräte sowie Satelliten nützliche Anhaltspunkte liefern können, sagt Gatari, können die Daten, die sie generieren, wenn es um Standards geht, die die Gesundheit der Bevölkerung gewährleisten sollen, nicht dazu verwendet werden, diesbezügliche gesetzliche Regulierungen durchzusetzen.
 
Verlässliche, über Jahre gesammelte Daten zur Luftverschmutzung und entsprechende epidemiologische Daten zu haben ist deshalb so wichtig, weil das Wissen darüber, wie viele Menschen an durch Luftverschmutzung bedingten Faktoren sterben, eine notwendige Bedingung dafür ist, konsequentere Richtlinien einfordern zu können. In Kenia sind diese Daten darüber hinaus notwendig, um Umweltgesetze, die schon bestehen, auch durchzusetzen. 2014 verabschiedete das Parlament relativ progressive Luftqualitätsvorschriften. Ohne Messgeräte, die in der Lage sind, genügend präzise Daten zu produzieren, um diese Vorschriften auch rechtlich durchsetzen zu können, bleiben die Gesetzen jedoch wirkungslos.
 
Gleichzeitig glaubt deSouza, dass kostengünstige Systeme – wie jene, die von Code For Africa, dem Stockhold Environment Center und dem African Population and Health Research Center in meist einkommensschwachen Stadtteilen von Nairobi installiert wurden – dennoch nützliche Informationen generieren und eine wichtige, wenn auch nur temporäre, Rolle auf dem Weg zu einer besseren Luftqualität spielen können. Diese Messgeräte, schreibt deSouza, die weniger als 3.000 $ kosten, „können die Lücken in unserem Wissen über Luftverschmutzung füllen und sind in Entwicklungsländern, in denen, wenn überhaupt, nur wenige hochwertige Instrumente existieren, umso wichtiger.“
 
Auch wenn günstige Geräte weniger aussagekräftige Daten liefern, ist dies doch manchmal genug. Als ein Beispiel hierfür nennt sie Daten, die von diesen Geräten produziert wurden und die belegen, dass in einigen von Nairobis informellen Siedlungen die gesetzlichen Standards zur Luftqualität regelmäßig und in beträchtlichem Ausmaß überschritten werden. Diese Information kann dafür genutzt werden, lokales politisches Handeln zu mobilisieren oder zumindest ein Bewusstsein für die Luftverschmutzung vor Ort zu schaffen, selbst wenn die Messergebnisse nicht dazu ausreichen, gesetzliche Standards durchzusetzen.
 
Doch letztendlich ist die Erhebung und Analyse von Daten zur Luftverschmutzung, so wichtig sie auch ist, um die Gesundheit der Bevölkerung zu verbessern, für sich allein keine Lösung. In zahlreichen Interviews berichteten Bewohner*innen von Lungalunga, einem einkommensschwachen Stadtteil, der an Nairobis Industriegebiet angrenzt, immer wieder, dass sich eine Tränengasfabrik in der Nähe befinde, deren Industrieabfälle nicht nur einen ekelerregenden Gestank verbreiteten, sondern auch ihre Atmung beeinträchtigten. Hier ist das Problem nicht das Fehlen einer Messstation, sondern, dass es keinen politischen Willen gibt, gegen das Problem vorzugehen.
 
Das Wort Nachhaltigkeit ist der Zukunft zugewandt – sprechen wir von „Nachhaltigkeit“, denken wir oft an zukünftige Generationen und die Zukunft der Umwelt. In Zeiten des Klimawandels hat dieser Blick in die Zukunft jedoch auch eine dunkle Seite, denn aus dieser Zukunft kommen heute mehr bisher beispiellose, katastrophale Ereignisse auf die Menschheit zu, als jemals zuvor. Die Luftverschmutzungskrise in Delhi, die nicht nur im Ausmaß der Verschmutzung extrem war, sondern auch in ihren enormen Auswirkungen, ist eine düstere Erinnerung daran, dass die Luftverschmutzung in den Städten – ein Phänomen, das vor einigen hundert Jahren kaum existierte, aber heute die Lebenszeit von Menschen auf der ganzen Welt verkürzt oder gar selbst zur Todesursache wird – sicher nicht einfach verschwinden wird. Gemäß eines UN-Berichts aus dem Jahr 2010, zählen die Urbanisierungsraten in Afrika zu den höchsten der Welt, sodass bis zum Jahr 2035 mehr als die Hälfte aller Afrikaner*innen in urbanen Regionen leben wird.
 
Wie man an den Herausforderungen sehen kann, vor die Kenia bei der Messung und Bekämpfung von Luftverschmutzung gestellt ist – aber auch an den Möglichkeiten, die neue Instrumente bieten, die auf lokale Datenerhebungen und lokale politische Mobilisierung fokussiert sind – können jene neuen, bisher nie dagewesenen Probleme, die auf uns zukommen, nicht mit alten Methoden gelöst werden. Nicht nur müssen wir mit neuen technischen Instrumenten zu arbeiten lernen, die unser Verständnis, unsere Möglichkeiten zu Messen und unsere Fähigkeit zur Analyse physischer Veränderungen verbessern, sondern auch neue Ideen entwickeln, um diese Daten mit Werten, juristischen Instrumentarien und politischer Organisationsformen zu neuen Strategien zusammenzufügen, deren eines Ziel dieses ist: Das Recht jedes Menschen, zu atmen.
 
 

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