Literatur
Macondo-Literaturfestival
Von Anja Bengelstorff
Macondo Literary Festival 2019 | © Armstrong Too and Carsten Stark
Das Macondo-Literaturfestival, das nicht zuletzt mit der Unterstützung des Goethe-Instituts Nairobi im September 2019 zum ersten Mal stattfand, war ein Festival mit vielen Anfängen: Zum ersten Mal auf dem Kontinent traten Autorinnen und Autoren historischer Romane und Sachbücher aus dem portugiesischsprachigen und dem englischsprachigen Afrika gemeinsam auf. Sie teilten und diskutierten ihre Werke, die eine alternative Sichtweise auf (fiktionalisierte) Ereignisse der afrikanischen Geschichte bieten; sie öffneten dem Publikum die Welten, die sie damit erschufen, sowie die Worte, die diese Welten zum Leben erwecken.
Unter den Gästen war Dina Salústio, die erste Frau, die in ihrer kapverdischen Heimat einen Roman veröffentlicht hat. Sie ist auch die erste Autorin des Landes, deren Roman ins Englische übersetzt worden ist („The Madwoman of Serrano“). Ein weiterer Gast war der junge brasilianische Autor Geovani Martins, dessen Sammlung von Kurzgeschichten auf Portugiesisch erschien, als er 27 war – die englische Übersetzung „The Sun on my Head“ feierte ihr Afrika-Debüt auf dem Festival in Nairobi. Und das ist erst der Anfang.
Macondo Literary Festival 2019 © Armstrong Too and Carsten Stark
Nach Aussagen der Organisatoren, der Macondo Book Society, entstand die Idee für das Festival aus dem Wunsch vieler Menschen in Afrika und Kenia, ihre Geschichte durch Literatur neu zu entdecken. In Kenia, einer früheren britischen Kolonie, findet zeitgenössische Literatur einer wachsenden und zunehmend diversen Gruppe junger Schriftsteller aus Afrika und der afrikanischen Diaspora einen immer größeren Lesekreis. Leser aus einem urbanen und hauptsächlich (aber nicht ausschließlich) Mittelklasse-Milieu, die sich regelmäßig Bücher leisten können, reagieren enthusiastisch auf deren Neuerscheinungen. Buchklubs werden gegründet und in Onlineforen diskutiert. Buchläden in Kenias Hauptstadt Nairobi führen Neuerscheinungen inzwischen schon kurz nach deren Veröffentlichung.
Für viele Vertreter dieser neuen Autorengeneration scheinen Ereignisse in der afrikanischen Geschichte als Material und Quelle für ihr Schreiben eine wichtige Rolle zu spielen. Die fiktionalen Werke dieser Schriftsteller unterscheiden sich von „offiziellen“ Beschreibungen der Vergangenheit, zum Beispiel denen früherer Kolonialmächte oder anderer politischer Gruppen. In ihrem Versuch, Leerstellen der Geschichte zu füllen, wo afrikanische Perspektiven fehlen, Worte für Gräueltaten der jüngeren Geschichte zu finden und sich vom kolonialen Erbe zu distanzieren, schreiben diese Autoren Geschichte praktisch neu.
Allerdings: Fast alle zeitgenössische afrikanische Literatur, die in englischsprachigen Ländern wie Kenia gelesen wird, ist im Original auf Englisch verfasst, und zwar von Autoren anderer früherer britischer Kolonien wie Nigeria, Ghana oder Simbabwe. Übersetzungen von Schriftstellern des französischsprachigen und portugiesischsprachigen Afrika ins Englische waren sehr selten. Daraus folgt, dass diese Künstler ihre Geschichten erzählen, dass sie Kunst schaffen, aber selten über ihren linguistischen Horizont hinaus gehört oder gelesen werden.
Zweiter von links: Anja Bengelstorff | Direktor, Kurator und Mitbegründer, Macondo Literary Festival © Armstrong Too and Carsten Stark
Der Appetit kenianischer Leser auf ihre „eigenen Geschichten“ ist ein Merkmal einer größeren Entwicklung auf dem Kontinent: Dass nämlich Afrika und Afrikaner sich zunehmend selbstbewusst in der Welt behaupten und eine gemeinsame Identität als Menschen dieses Kontinents finden. Dieses Phänomen lässt sich auch in der Wirtschaft beobachten, wo Verbraucher angehalten werden, Produkte „made in Kenya“ zu kaufen, oder wo Startups nach afrikanischen Lösungen für afrikanische Probleme suchen. Nicht zuletzt auch in den zahllosen Debatten, die sich online und offline abspielen, wo es darum geht, wie eine moderne und autonome afrikanische Gesellschaft regiert werden will oder muss.
Identität formt sich aus dem Wissen und dem Verständnis der eigenen Vergangenheit. Nur so lässt sich die Gegenwart verstehen und eine mögliche vielversprechende Zukunft gestalten. In diesem Spannungsfeld ist das Macondo-Literaturfestival verortet, sagen die beiden Gründerinnen Anja Bengelstorff und Yvonne Adhiambo Owuor.
Zur ersten Ausgabe des Festivals im kenianischen Nationaltheater in Nairobi waren portugiesischsprachige Autoren aus Mosambik (Ungulani Ba Ka Khosa), Angola (Ondjaki), Guinea-Bissau (Yovanka Paquete Perdigao) und den Kapverdischen Inseln (Dina Salústio) eingeladen. In den letzten Jahren waren mehrere Romane portugiesischsprachiger afrikanischer Autoren zum ersten Mal ins Englische übersetzt worden, darunter Werke von Ondjaki und Salústio. So haben endlich mehr Leser Zugang zu ihrem Schreiben.
Aus dem englischsprachigen Afrika waren vertreten: Aus dem Gastland Kenia die Festival-Mitgründerin Yvonne Adhiambo Owuor sowie Peter Kimani, aus Simbabwe Novuyo Rosa Tshuma, Abubakar Adam Ibrahim aus Nigeria und Jonny Steinberg aus Südafrika. Jethro Soutar, der aus dem Portugiesischen ins Englische übersetzt, und der angolanisch-portugiesische Filmemacher João Viana vervollständigen die Liste der zwölf Gäste.
Macondo Literary Festival 2019 © Armstrong Too and Carsten Stark
Das Festival zog über zweieinhalb Tage etwa 600 Besucher an. Ihnen boten sich vier Workshops (zum Schreiben, Übersetzen und Filmen von Geschichte sowie zu Geschichte fürs Radio) sowie 18 Paneldiskussionen und Aufführungen, Buchpremieren und Begegnungen mit Autoren zu Themen um (geteilte) Geschichte (Was vereint uns? Was trennt uns?), alles auf Grundlage der historischen Werke der Gäste. Um neue Perspektiven und Akteure in die gesellschaftliche Diskussion um Identität und die Zukunft Afrikas einzubringen, sind während dieser Veranstaltungen Fragen wie die folgenden debattiert worden: Warum sind afrikanische Identitäten noch immer so eng mit der kolonialen Erfahrung verbunden und von ihr gezeichnet? Aus welchen Blickwinkeln werden die Historien afrikanischer Völker beschrieben? Wie sind wir zu denen geworden, die wir sind? Was ist wahr über unsere Geschichte? In welche Richtung bewegen wir uns als Antwort auf unsere Vergangenheit?
Dem Feedback sowohl der Festivalgäste als auch des Publikums zufolge war das Festival ein großer Erfolg. Die Rückmeldungen waren überwältigend positiv im Hinblick auf die Durchführung des Festivals, die Themen der einzelnen Veranstaltungen und nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass ein literaturliebendes Publikum zum ersten Mal die Möglichkeit hatte, mit Schriftstellern eines Teils Afrikas in Kontakt zu treten, der ihnen bisher unbekannt war.
Der nigerianische Autor Abubakar Adam Ibrahim reflektiert:
„Es war ein einzigartiges Festival, weil zum ersten Mal ein bewusster Versuch unternommen wurde, portugiesischsprachige afrikanische Autoren in dem vorwiegend englischsprachigen Festivalkreis in Afrika populär zu machen. Das war bereichernd, weil es mir die Chance bot, tiefer in die faszinierende Literatur des portugiesischsprachigen Afrika einzutauchen und mehr Schriftsteller aus diesem Teil des Kontinents zu entdecken. Das Macondo-Literaturfestival hat auf magische Weise die Grenzen zwischen dem portugiesisch- und dem englischsprachigen Afrika verschwimmen lassen. Das findet man nicht oft, wenn überhaupt.“
Sahara Abdi, eine kenianische Festivalbesucherin und Autorin, die die meisten Veranstaltungen besuchte, hatte dies zu sagen:
„Es war großartig und hat mir die Augen geöffnet. Ich hatte vorher schon so viele Literaturfestivals in Kenia besucht, doch dieses hier war wie kein anderes zuvor. Die Gespräche und Themen waren bereichernd. Ich glaube, die meisten Festivals wollen nur Dinge abhaken. Das Macondo-Festival allerdings war ein Weg, unser Denken als Künstler und Autoren zu revolutionieren: Warum wir schreiben, für wen wir schreiben. Mir haben die meisten Veranstaltungen sehr gut gefallen, ihre Einsichten und die Fragen aus dem Publikum. Wenn das so weitergeht, schreiben wir eines Tages die richtige Geschichte Kenias auf. Nicht diesen Irrglauben, den wir seit 1963 als ‚Unabhängigkeit’ kennen.“
Macondo Literary Festival 2019 © Armstrong Too and Carsten Stark
Für mehr Informationen über das Festival, einschließlich der Video-Aufzeichnungen aller Veranstaltungen: www.macondolitfest.org