Gemeinschaftssinn, militärische Sprache, und das Suchen nach Schuld in nächster Nähe. Wie verändert COVID-19 die russische Gesellschaft; und ist die Beschneidung demokratischer Grundrechte tatsächlich temporär? Maria Stepanova schreibt uns aus Russland, wo kurz vor der Publikation dieses Beitrags Vladimir Putin einen politischen Sieg davontrug, der ihm erlaubt bis ins Jahr 2036 das Amt des Präsidenten auszuüben.
Von Maria Stepanova
Foto: Gleb Morev
Liebe Freunde,
ich schreibe dies am neunundsiebzigsten Tag meiner Selbstisolation. Ich verbringe den Tag in meiner Moskauer Wohnung; verlassen kann ich sie nur mit einem elektronischen Pass, der mich berechtigt, in der Stadt unterwegs zu sein, weshalb ich – abgesehen von den Spaziergängen mit unserem Hund, die aber auch auf einen Radius von hundert Metern um den Wohnort begrenzt sind – so gut wie gar nicht mehr nach draußen gehe.
Die Pandemie hat die ohnehin schon offensichtliche Spaltung der Gesellschaft noch sichtbarer gemacht
Die Debatte um das neu auszutarierende Verhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit wird von denen geführt, die in der glücklichen Lage sind, nicht aus dem Haus zu müssen.
Von uns acht, die sich hier unterhalten, weiß jeder in diesen Tagen genau, was die anderen sieben tun: Wir alle sitzen in unseren Wohnungen, zwischen diesen Wänden, die mit einem Mal so durchsichtig scheinen. Was früher Gegenstand von Phantasien oder Vermutungen war (Ist mein Gesprächspartner vielleicht auf Reisen, hält er sich in einer anderen Stadt auf? Ist er bei der Arbeit oder zu Hause?), liegt jetzt offen zutage: Auf die eine oder andere Weise sind wir derzeit alle mit demselben beschäftigt. Menschen in verschiedenen Städten, in verschiedenen Zeitzonen, in verschiedenen Formen der Isolation warten ab, bis es vorbei ist, und all die normalen Dinge, die sie dabei außerdem noch tun, dienen nur dazu, das Warten zu verkürzen.
Von Covid-19 wird in militärischen Metaphern gesprochen: Man redet von einem Krieg, von Kampf, Sieg, Heldentum, Befreiungsschlägen und Opfern.
Das hat etwas Tragikomisches, denn von Covid-19 wird ständig in militärischen Metaphern gesprochen: Man redet von einem Krieg, von Kampf, Sieg, Heldentum, Befreiungsschlägen und Opfern. Gleichzeitig verlangt man von den Bürgern in dieser Phase nicht, dass sie aktiv werden, sondern vielmehr, dass sie nichts tun, dass sie gerade nicht in diesen Krieg ziehen, den – das wird stillschweigend vorausgesetzt – jemand anders für uns führt. In der Epoche der Pandemie besteht die wichtigste zivile Tugend in sozialer Passivität – in der Bereitschaft, das Handeln und die Verantwortung auf andere abzuwälzen, die „sich darum kümmern“, der Bereitschaft, sich auf Profis und Experten zu verlassen und das Recht auf eigene Entscheidungen und ein eigenes Urteil fürs erste zurückzustellen. Diese Strategie ist selbst in Ländern mit einem hochentwickelten Sozial- und Gesundheitswesen nicht ohne Risiko, in sogenannten troubled societies aber – und das ist heute die Mehrheit – kann sie zu erschreckenden Ergebnissen führen. Die Erfahrung des Lebens in einem autokratisch geführten Land lässt einen vorsichtig werden mit vorübergehenden Einschränkungen, die ohne jede Diskussion und Begründung eingeführt werden.
Ich bleibe skeptisch gegenüber einem total gewordenen Sicherheitsdenken, das den Wert des menschlichen Lebens – genauer, des buchstäblichen, nackten Überlebens – absolut setzt. Um seinetwillen sollen wir auf selbstverständliche Rechte und Freiheiten verzichten.
Ich sollte an diesem Punkt wohl erwähnen, dass ich mich seit Beginn des Lockdown gewissenhaft an alle, auch die absurdesten Bestimmungen gehalten habe (und in den Vorschriften der Moskauer Stadtregierung gibt es viel Absurdes). Trotzdem bleibe ich skeptisch gegenüber einem scheinbar total gewordenen Sicherheitsdenken, das neuerdings Menschen mit denkbar verschiedenen politischen Ansichten verbindet. Mir scheint in diesem Denken eine Falle zu liegen: Es setzt den Wert des menschlichen Lebens – genauer, den des physischen Lebens, des buchstäblichen, nackten Überlebens – absolut; um seinetwillen sollen wir auf eine Reihe von längst für selbstverständlich gehaltenen, nicht mehr infrage gestellten Rechten und Freiheiten verzichten. Doch Bewegungsfreiheit und Versammlungsfreiheit sind keine abstrakten Güter – mit ihnen gibt man auch das Recht auf, das eigene Leben zu planen und am öffentlichen Leben teilzunehmen. Der Mensch in der Pandemie hat keinen politischen Willen, er ist eine Geisel eines zeitlich nicht begrenzten Ausnahmezustands, den nicht nur die öffentliche Meinung mitträgt, sondern auch der eigene gesunde Menschenverstand – derselbe, der mich dazu bringt, zu Hause zu bleiben.
Niemand kann mir das Recht nehmen, leichtsinnig mit meiner eigenen Gesundheit, meinem eigenen Körper, meinem eigenen Leben umzugehen. Doch in der Situation der Pandemie hängt meine persönliche Entscheidung unmittelbar mit dem Überleben, mit der Gesundheit der anderen zusammen, sie ist an Dutzende, ja Hunderte anderer, mir unbekannter Schicksale gebunden. Meine bloße Existenz kann für sie zur Bedrohung werden, denn eine asymptomatische Trägerin des Virus ist allein schon dadurch gefährlich, dass sie atmet. Isolation scheint unter diesen Umständen der einzige sinnvolle Ausweg – damit die anderen weiterleben können, muss eine verantwortliche Bürgerin sich in eine Art embryonalen Zustand versetzen, sich vor ihresgleichen verstecken, aufhören zu interagieren, sie muss Grenzen nicht nur zwischen Ländern, sondern zwischen Menschen ziehen.
Keine Wahl hatten neben ihnen auch diejenigen, die der sogenannten Risikogruppe angehören, also jeder Mensch über sechzig. In Russland (und nicht nur hier) wurde ihnen kategorisch verboten, das Haus zu verlassen – physisches Überleben geht über alles. Diese als Sorge getarnte Altersdiskriminierung, die faktisch eine ganze Bevölkerungsgruppe ihrer Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit beraubt hat, ähnelt fatal dem Räsonnement von Robotern in irgendeinem alten Science-Fiction-Roman: Damit der Mensch sich selbst keinen Schaden zufügt, muss man ihn unter Kontrolle halten, und zwar möglichst streng.
Die logische Folge ist, dass ich mich zunehmend als Bedrohung der Gesellschaft fühle, als potentielle Gefahrenquelle, die man besser unter hinter Schloss und Riegel hält. Dieses diffuse Schuldgefühl, die Einschränkung elementarer Rechte und der mangelnde Überblick über die Lage führen dazu, dass unser Selbstbild seine Konturen verliert – jeder ist eine potentielle Gefahr und ein potentielles Opfer zugleich, jeder fürchtet um sich und seine Angehörigen und befürchtet zugleich, jemand Unbekanntem Schaden zuzufügen. Für die meisten Menschen ist das Grund genug, in eine zumindest temporäre Starre zu verfallen.
Das geteilte Unglück hatte scheinbar eine Logik der Gemeinschaft. Kein gemeinsamer Feind, aber ein gemeinsames Problem, das sich nur mit vereinten Kräften lösen ließ.
Ganz zu Anfang der Pandemie dachte ich, von allen denkbaren Antiutopien sei dies vielleicht das akzeptabelste Szenario. Das geteilte Unglück hatte scheinbar eine Logik der Gemeinschaft, der gemeinsamen Sache anstelle von Entfremdung und Spaltung auf den Plan gerufen. Auch wenn im selben Moment allenthalben Grenzen geschlossen und Flüge gestrichen wurden, geschah das doch in einer transparenten Welt, in der jeder sehen konnte, was nebenan vor sich ging, und jede an einem zirkulären System der Solidarität teilhatte, die nicht nach Kontinenten, Ländern, Konfessionen unterschied. Der Krieg, von dem alle redeten, brachte uns nicht dazu, einen gemeinsamen Feind zu suchen – an dessen Stelle stand das gemeinsame Problem, das sich nur mit vereinten Kräften lösen ließ. Solange die Gefahr nicht personifiziert wird, dachte ich, kann man ihr effektiv entgegentreten – ohne Kraft auf die Produktion und Reproduktion von Hass zu verschwenden. Vor allem aber schien mir, dass die Welt vielleicht zum ersten Mal in ihrer Geschichte ein gemeinsames Unglück auch gemeinsam durchsteht – wie ein lebendiger Organismus, der sich seiner Einheit bewusst ist.
Wie es scheint, ist der Hass ein Stoff, der sich trotz allem selbst generiert, als Produkt von Unsicherheit und Angst – doch da sich kein klares, in die Ferne projiziertes Feindbild herausgebildet hat, sucht man den Feind nun in nächster Nähe.
Zweieinhalb Monate später, nach zahllosen in verschiedenen sozialen Netzwerken verbrachten Stunden, sehe ich diese neue Einheit in einem anderen, beunruhigenderen Licht. Wie es scheint, ist der Hass ein Stoff, der sich trotz allem selbst generiert, als Produkt von Unsicherheit und Angst – doch da sich kein klares, in die Ferne projiziertes Feindbild herausgebildet hat, sucht man den Feind nun in nächster Nähe. Die sozialen Medien werden zu einem Ort der unentwegten situativen Polarisierung, wo sich kurzlebige Einheiten und Abgrenzungen formieren, die mit den Konturen politischer Programme und Parteien, wie sie wir vor Corona kannten, so gut wie nichts zu tun haben. Die flüchtige neue affektive Politik verdichtet sich nicht zu einem stabilen System – sie manifestiert sich in Likes, Reposts, Akten spontaner Solidarität rund um disparate Anlässe. Dabei wirkt die geringste Meinungsverschiedenheit, die leiseste Differenz in den Formulierungen in der aktuellen Situation, in der Menschen sich außerhalb des engsten familiären Kreises praktisch nur noch online begegnen, so alarmierend, dass sie sofort eine verbale Aggression auslöst, die in der Perspektive ihrerseits leicht in die Realität überschwappen kann.
Während ich diesen Brief schrieb, verkündete der Kreml das Ende der Pandemie. Es ist klar, welche Motive dahinterstehen. Am 1. Juli soll das Land über die geplante Verfassungsänderung abstimmen, mit deren Hilfe Vladimir Putin de facto Präsident auf Lebenszeit bleiben könnte.