LGBQT+ Verfolgung
Erinnern in Auschwitz — auch an sexuelle Minderheiten
Von Lutz van Dijk
In der jährlichen Gedenkstunde im Bundestag für die Opfer des Nationalsozialismus, die zuerst 1996 unter Bundespräsident Roman Herzog stattfand, wurden von Anfang an auch Homosexuelle in einer Aufzählung der Opfergruppen mit genannt. Bislang wurde jedoch sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten eine eigene Aufmerksamkeit verweigert.
Erst mit dem Regierungswechsel in Berlin Ende 2021 und mit der neuen Bundestagspräsidentin Bärbel Bas gab es Hoffnung und bald auch konkrete Planungen für den Januar 2023.
Da es heute keine Zeitzeugen mehr gibt, die selbst hätten berichten können, entstand die Idee, die Geschichten zweier Opfer vorlesen zu lassen. Ich durfte diese Geschichten schreiben; für die szenische Lesung wurden die offen lesbische Schauspielerin Maren Kroymann und der offen schwule Schauspieler Jannik Schümann gewonnen.
Mary Pünjer (1904 - 1942)
Bei Mary Pünjer wird deutlich, dass auch lesbische Frauen in der NS-Zeit verfolgt wurden, obwohl es keinen eigenen Strafparagrafen gegen sie gab. Mary Pünjer wurde als „Asoziale“ verhaftet und ins Konzentrationslager Ravensbrück gebracht, obwohl sie auch als Jüdin hätte deportiert werden können. Dem KZ-Arzt Friedrich Mennecke war es jedoch wichtig, ihre „Unheilbarkeit“ als „Lesbierin“ als Grund anzugeben, um sie in der Heil- und Pflegeanstalt Bernburg durch Gas ermorden zu lassen. Gleichwohl liegen keine eigenen Aussagen von Mary Pünjer über ihr Lesbischsein vor.[1]Mary Pünjer (36), Häftlingsfoto im KZ Ravensbrück im März 1941
Karl Gorath (1912 - 2003)
Karl Gorath wird 1934 mit 22 Jahren nach Paragraf 175 verurteilt. Eine erneute Verhaftung 1938 führt zuerst zu einer Zuchthausstrafe, nach deren Abbüßung er als „Wiederholungstäter“ ins KZ Neuengamme und von dort 1943 nach Auschwitz deportiert wird. Er überlebt die NS-Zeit nur knapp. Trotzdem wird er bereits 1946 erneut vom gleichen Richter verteilt, der ihn schon in der NS-Zeit schuldig sprach. 1989, mit 77 Jahren, fährt Karl Gorath mit uns, einer offen schwulen Gruppe aus Norddeutschland, ins Staatliche Museum Auschwitz vor allem, um herauszufinden, ob seine beiden jungen polnischen „Geliebten“ und Mitgefangenen überlebt hätten. Die offiziellen Stellen lassen ihn damals glauben, dass sie umgekommen wären, obwohl einer 1989 sogar noch Führungen in Auschwitz durchführte.[2]Karl Gorath (31), Häftlingsfoto im KZ Auschwitz 1943
Rozette Kats
Der 27. Januar ist zuerst eine Erinnerung an die Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee 1945. Seit 2005 haben die Vereinten Nationen dieses Datum zum Internationalen Holocaust Tag erklärt. Obwohl die Gedenkstunde im Bundestag an alle Opfer des Nazi-Terrors erinnern möchte, bleibt dieser Zusammenhang bedeutsam.Aus diesem Grund wurde Rozette Kats (*1942) aus den Niederlanden eingeladen, um als erste nach Bundestagspräsidentin Bas in der Gedenkstunde 2023 zu sprechen: als kleines Kind überlebte sie bei einem nichtjüdischen Ehepaar in Amsterdam, zu dem ihre Eltern sie — vor ihrer eigenen Deportation nach Auschwitz — gebracht hatten. Rozette Kats berichtete darüber auch, um deutlich zu machen, dass ein Verstecken der eigenen Identität immer schrecklich und krankmachend ist, worin sie Parallelen zu vielen queeren Opfern damals und heute sieht.
Fraglos können in 60 Minuten nicht alle wichtigen Aspekte dargestellt werden. Jedoch wurde erstmals seit 1996 durch den abschliessenden Beitrag von Klaus Schirdewahn (*1947), der 1964 als 17Jähriger nach Paragraf 175 verhaftet worden war, deutlich, wie die Verfolgung einer Opfergruppe auch nach 1945 weiterging. Der 1935 verschärfte Nazi-Paragraf 175 wurde zwar 1969 liberalisiert, jedoch erst 1994 abgeschafft. Die von 1933 bis 1945 etwa 50.000 gefällten Urteile wurden erst 2002 für ungültig erlärt und als Vorstrafen gelöscht. Die rund 50.000 nach 1945 ergangenen Urteile wurden gar erst 2017 aufgehoben.
Die gesamte Gedenkstunde kann hier angeschaut werden:
Unter Historiker*innen gibt es bis heute eine Kontroverse darüber, wer als NS-Verfolgter anzuerkennen sei, zumal das Wort queer damals in der Tat noch nicht gebraucht wurde.[3]
Es soll jedoch niemals darum gehen, die eine gegen die andere Opfergruppe gerade in Bezug auf individuelle Biografien zu hierarchisieren, sondern vielmehr darum, die unterschiedlichen Verfolgungskriterien der Nazis zu demaskieren, um konkrete Schicksale überhaupt erst zu erkennen und sprachlich zu fassen. Hier hat die historische Forschung erst begonnen.
Auch darum war es gut, dass die Transkünstlerin Georgette Dee in der Gedenkstunde zwei Lieder von Bert Brecht und Friedrich Hollaender aus den 1920er Jahren vortrug, die für die „queere Welt“ damals von Bedeutung waren und die von den Nazis ab 1933 verboten wurden.
Auch wenn queere Flüchtlinge in der Gedenkstunde nicht selbst zu Wort kamen, sollte es mehr als eine Geste sein, dass zu den eingeladenen Ehrengästen auch Ali Tawakoli aus Afghanistan und Edward Mutebi aus Uganda gehörten. Denn es gibt weiterhin mehr als 70 Länder mit strengen Haftstrafen für Homosexuelle, davon mehr als 40 auch für Frauen. Und in 13 Ländern besteht die Todesstrafe.
So war die Gedenkstunde im Bundestag vom 27. Januar 2023 auch Ermutigung zu weiter nötigem Engagement und mehr solidarischen Kontroversen.
Erfreulich war so auch, dass nur wenige Tage später, am 1. Februar, ein Abend im Goethe-Institut Amsterdam stattfand, zu dem Rozette Kats und ich mit jungen queeren Menschen eingeladen waren, um aus der Gedenkstunde im Bundestag zu berichten und ins Gespräch zu kommen.
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[1] Mehr zu Mary Pünjer siehe: Schoppmann, Claudia: Elsa Conrad – Margarete Rosenberg – Mary Pünjer – Henny Schermann: Vier Portraits, in: Eschebach, Insa (Hrsg.): Homophobie und Devianz. Weibliche und männliche Homosexualität im Nationalsozialismus, Berlin 2012, S.97 – 111.
[2] Mehr zu Karl Gorath und auch der aktuellen Situation im Staatlichen Museum Auschwitz heute, in: Ostrowska, Joanna / Talewicz-Kwiatkowska, Joanna / van Dijk, Lutz (Hrsg.): Erinnern in Auschwitz – auch an sexuelle Minderheiten, Berlin 2020 / Warschau 2021 (hier im besonderen der Beitrag von Jörg Hutter, S.179 – 185).
[3] van Dijk, Lutz: Es ist an der Zeit, historische Forschung zu demaskieren, in: Tagesspiegel vom 4.2.2021
van Dijk, Lutz / Zinn, Alexander: Von Schwulen und Nazis — Zwischen Opfermythos und historischer Präzision (Streitgespräch moderiert von Hanno Hauenstein), in: Berliner Zeitung vom 29.3.2021
Zinn, Alexander: Eine Neigung, die Geschichte zu verbiegen (Interview), Die Welt vom 25.1.2023, S.5
van Dijk, Lutz: Queere NS-Opfer – „Die Verfolgung ging nach 1945 weiter“ (Interview), in: Die Zeit vom 27.1.2023