Stunde Null im Film
Trümmer, Utopie, Neuanfang
Von „Die Mörder sind unter uns“ bis zu „Phoenix“ – immer wieder wurde die Zeit unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs zum Thema im Kino. Stets spiegelte sich in den Filmen auch das Selbstbild der Deutschen.
Zum Ende des zweiten Weltkriegs 1945 lag das ehemalige Deutsche Reich in Trümmern, buchstäblich wie moralisch. Zu seinen vom Nationalsozialismus gründlich diskreditierten Funktionen und Institutionen gehörte auch der Film. Als Propagandamittel hatte er dem Hitler-Regime willfährige Dienste geleistet. Nur wenige Filmschaffende hatten danach noch eine weiße Weste, galten also als politisch wie künstlerisch unbelastet. Wie sollte der neue deutsche Film aussehen? Der Anfang war vielversprechend.
Der erste deutsche Nachkriegsfilm ist ein Trümmerfilm
Mit dem programmatischen Titel Die Mörder sind unter uns wurde die Premiere des ersten deutschen Nachkriegsfilms am 16. Oktober 1946 zum cineastischen Ereignis. Im zerbombten Berlin treffen eine Überlebende aus einem Konzentrationslager und ein Frontheimkehrer aufeinander, teilen sich notgedrungen dieselbe Wohnung. Ihre Rollen wurden konstitutiv für viele Heimkehrerfilme: Die pragmatische Frau räumt auf, der von seinen Kriegserlebnissen traumatisierte Mann bleibt gelähmt in Zynismus und Lethargie. Am Ende jedoch führt er seinen ehemaligen Führungsoffizier, einen Kriegsverbrecher, der Gerechtigkeit zu. Der in der Zeit des Nationalsozialismus unauffällig gebliebene Regisseur Wolfgang Staudte drehte diesen Film der neu gegründeten DEFA unter Aufsicht der sowjetischen Besatzungsbehörden als düster-expressionistisches Schattenspiel.Der klare Appell zur Aufarbeitung und Bestrafung der nationalsozialistischen Verbrechen bildete eine Ausnahme im kurzlebigen Genre der Trümmerfilme. Diese wiesen mit einem realistischen Bild existenzieller Sorgen und Nöte, aber auch Hoffnungen, visuell in eine neue Richtung: Durchaus erfolgreiche Filme wie Irgendwo in Berlin (Gerhard Lamprecht, 1946) oder Liebe 47 (Wolfgang Liebeneiner, 1949) ließen eine bildästhetische Erneuerung, eine ungeschönte Darstellung der Wirklichkeit im Sinne des italienischen Neorealismus, als möglich erscheinen. Der schnelle Aufschwung machte diese Ansätze, zumindest in Westdeutschland, zunichte. An Realismus war das große Publikum letztlich so wenig interessiert wie an der Schuldfrage. Im optimistischen Heile-Welt-Kino der 1950er-Jahre, der erfolgreichsten Epoche des bundesdeutschen Nachkriegsfilms, war für beides kein Platz.
Die Stunde Null als vertane Chance …
Ohne diese Periode künstlerischer Verdrängung ist auch der politische Weckruf des Neuen Deutschen Films nicht zu verstehen, mit dem nach 1968 Regisseure wie Rainer Werner Fassbinder, Volker Schlöndorff und Werner Herzog am Selbstverständnis rüttelten. Mit Die Ehe der Maria Braun (1978), einem seiner erfolgreichsten Filme, ging Fassbinder jedoch noch einen Schritt weiter. Die Geschichte der vermeintlichen Kriegswitwe Maria Braun, die mit skrupellosem Charme und Durchsetzungswillen am Wirtschaftswunder teilnimmt, ist die Geschichte der jungen Bundesrepublik – und die einer vertanen Chance. Schon ein Jahr zuvor hatte Edgar Reitz’ Stunde Null (1977) das Kriegsende als utopischen Freiraum begriffen: Zwischen dem Rückzug der US-Armee und dem Anrücken der Sowjets wird ein stillgelegter Bahnhof nahe Leipzig zum toten Winkel der Geschichte, in dem eine bunt zusammengewürfelte Schar von Individualisten das Leben genießt. Eine Regierung gibt es nicht, für eine Weile scheint alles möglich. Auch Fassbinder beschreibt dieses Vakuum, in dem eine junge Frau das eigene Leben in die Hand nimmt. Doch sie scheitert, die männliche Ordnung wird hinter ihrem Rücken wieder hergestellt.… oder als glücklich bestandene Prüfung
Auch der kritische Impuls des Neuen Deutschen Films sollte nicht lange vorhalten. In Rama dama von 1991 (der bairische Ausspruch bedeutet „räumen tun wir“) zeigt Joseph Vilsmaier Münchnerinnen beim Schuttwegräumen zu flotter Swingmusik. Endlich wieder Nylons, Lippenstift und Flirts mit den amerikanischen Besatzern – im modernen Heimatfilm herrscht Nostalgie. Die Stunde Null wird zur glücklich bestandenen Prüfung, ein gern erinnerter Teil der eigenen Lebensleistung. Der Mythos der tapferen Trümmerfrau gehört ohnehin längst zum kollektiven Bildgedächtnis. Doch Vilsmaiers wenig politischer, dafür visuell gefälliger Historienstil wirkt weiter, wird schnell zum künstlerischen Standard deutscher Geschichtsaufarbeitung, der sich auch für schwierigere Themen eignet, etwa die Vergewaltigung deutscher Frauen durch russische Soldaten nach Kriegsende in Anonyma – Eine Frau in Berlin (Max Färberböck, 2008). Modern gestylte TV-Eventfilme wie Tannbach (Alexander Dierbach, 2015) – über ein 1945 geteiltes Dorf auf der innerdeutschen Grenze – können sich so auch einst heiklen Fragen von Schuld und Kontinuität widmen, ohne zu provozieren. Die Stunde Null bietet mittlerweile tatsächlich einen Freiraum – für spannende Geschichten.Bleibt nur noch die Nostalgie?
„Phoenix“ (Trailer) | © Piffl Medien via youtube.com
Eine Gegenerzählung zu diesem Bild einer glücklich verarbeiteten Geschichte lieferte zuletzt der Autorenfilmer Christian Petzold in Phoenix (2014). Petzold, filmhistorisch versiert, gestaltet seine Heldin Nelly Lenz wie die zwei großen Frauen des Stunde-Null-Films: die unerschütterliche Hildegard Knef in Die Mörder sind unter uns, die glamouröse Hanna Schygulla in Die Ehe der Maria Braun. Zu Beginn jedoch ist Nina Hoss als Nelly, eine der Hölle von Auschwitz entkommene Jüdin, ausgemergelt und im Gesicht entstellt – eine Auschwitz-Überlebende, wie sie die Knef noch nicht sein durfte. Ihre unheimliche Verwandlung ist zum einen ein cineastisches Vexierspiel mit Verweisen auf Alfred Hitchcock, Ingmar Bergman und François Truffaut. Zum anderen ist sie eine ernste Auseinandersetzung mit dem realen Horror des Holocaust und den Verdrängungsmechanismen der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Die Stunde Null, so scheint es, beschäftigt die Deutschen noch weiter und ist noch lange nicht auserzählt.