Nationalfarben
Aus alter Scham wurde neue Liebe
Nachdem die deutsche Nationalfahne jahrzehntelang ein Schattendasein fristete, gehören schwarz-rot-goldene Insignien mittlerweile zur Standardausstattung bei Ereignissen wie der Fußball-WM. Aber auch die Angst vor einem neuen Nationalismus wächst wieder.
Juni 2018: Auf der Fanmeile vor dem Brandenburger Tor sind zehntausende erwartungsfrohe Besucher zum ersten Spiel der deutschen Nationalmannschaft bei der Fußball-WM in Russland zusammengekommen. Die Bundesfarben Schwarz, Rot und Gold dominieren das Areal. Ob Mützen, Schals, Schweißbänder oder Sitzkissen: Hauptsache, das Bekenntnis zur Nationalelf ist sichtbar. Manche Autofahrer streifen ihrem Außenspiegel gar einen Überzug in Landesfarbe über, und überall im Land werden Fahnen geschwenkt.
Während in anderen Ländern die Nationalfarben selbstverständlich getragen werden, ist dies in Deutschland ein noch relativ junges Phänomen. Erst mit der Fußball-Weltmeisterschaft im eigenen Land, dem Sommermärchen von 2006, hat es sich eingestellt. Soziologin Dagmar Schediwy hat Fans auf der Straße befragt: „Die meisten Fans haben während der WM 2006 ein nationales Coming-out erlebt, vorher war das offene Zurschaustellen von Nationalgefühl stärker tabuisiert.“ In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg hielt man sich zurück mit patriotischen Bekenntnissen. Der langjährige Bundeskanzler Helmut Kohl war überzeugt: „Die Zukunft liegt in Europa“, nicht in einzelnen Nationalstaaten.
Revolte gegen das Geschichtsverständnis
Doch der Rückenwind aus einer den Bundesfarben wohlgesonnenen Medienberichterstattung 2006 beendete die Zurückhaltung. Die Fan-Massen trugen Schwarz-Rot-Gold. „Das wurde von vielen als Befreiung empfunden“, konstatiert Soziologin Schediwy. Vor allem die jüngeren Fans wollten gemeinsam feiern und Deutschland nicht mehr ständig mit der nationalsozialistisch-patriotischen geprägten Vergangenheit in Verbindung bringen. Die nationalen Farben nicht nur als Fahne, sondern auch gemalt im Gesicht oder auf anderen Fanartikeln zu tragen, symbolisierte für sie schlicht die in anderen Ländern so selbstverständlich gezeigte Solidarität mit der eigenen Fußballmannschaft.
Mittlerweile gehört es auch in Deutschland zur Normalität, sprichwörtlich Flagge zu zeigen. Doch vor der WM 2018 erhob sich erneut Kritik daran. Dies lag Experten zufolge unter anderem an den aufkommenden rechtspopulistischen Bewegungen. Auf Demonstrationen von Anhängern des Bündnisses „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (Pegida) als auch der 2017 in den Deutschen Bundestag gewählten Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) wird neben den Parteifahnen vor allem die deutsche Bundesfahne geschwenkt, im Fanshop der AfD gibt es Sticker und Plakate mit Schwarz-Rot-Goldenen Farbzügen zu kaufen.
Als Reaktion auf die fahnenschwenkenden Anhänger von AfD und Pegida beobachtet der Psychologe Stephan Grünewald bei einigen Fans eine Tendenz zur „Fahnenflucht“ – Schwarz-Rot-Gold bekomme wieder eine nationalistische Aufladung, von der man sich distanzieren möchte: „Wir lassen die Flagge lieber im Keller, um nicht die nationalistischen Gefühle zu schüren. Manche fürchten, ins Bedeutungsfahrwasser der AfD zu geraten.“Der Journalist Lin Hirse schreibt zum WM-Auftakt in der tageszeitung (taz): „Seit Pegida klebt die braune Mehrdeutigkeit wie ein Kaugummi noch penetranter an der Deutschlandfahne.“
Der Umgang mit den Nationalfarben
Die Debatte darum, was die Nationalfarben symbolisieren, ist in vollem Gange. Die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Claudia Roth, warnte im Juni 2018 vor einem aufkommenden Nationalismus. Sie wolle zwar niemandem das Fähnchen verbieten. „Ich finde aber, dass es uns Deutschen gut zu Gesicht steht, wenn wir Zurückhaltung walten lassen mit der nationalen Selbstbeweihräucherung“, befand die Grünen-Politikerin. Sie verwies darauf, dass insbesondere die AfD die deutsche Fahne instrumentalisiere, um Ausgrenzung zu signalisieren. Zu einem ganz anderen Schluss kommt der Politologe Stefan Marschall. Wer weiterhin die Fahne schwenke, verhindere, dass sie „für andere Ideen vereinnahmt und instrumentalisiert“ werde.
Die Leichtigkeit des Sommermärchens von 2006 ist verflogen. So zwanglos und unverkrampft ist der Umgang mit nationalen Symbolen nicht mehr – zumindest nicht überall. Auf der anderen Seite sind viele deutsche Fans aber durchaus auch den anderen Teilnehmernationen am Fußball-Turnier zugetan. Das zeigt ein Blick auf die Flaggenstatistik der Importfirma Promex, die auch ein Beleg für die kulturelle Alltagsvielfalt in Deutschland ist. Zwar stellt die Nachfrage nach Fahnen des heimischen Teams mit 27 Prozent der verkauften Fahnen den größten Anteil. Doch gehen auch die Tücher der Schweiz, Russlands, Polens, Islands und Frankreichs gut weg. Selbst dem fernen Australien will noch jeder 50. Käufer zujubeln.