Faszination Tatort
Serientäter*innen auf der Spur
Jeden Sonntag schauen rund zehn Millionen Zuschauer*innen in Deutschland den „Tatort“, und auch in den Buchhandlungen sind Regionalkrimis gefragt wie nie. Was ist es, das Menschen so sehr an Krimis fesselt?
Von Nadine Berghausen
Es ist Nacht und wir befinden uns in einem dunklen Wald. Alles, was man hört, ist der keuchende Atem des Opfers, das im Finsteren durch das Unterholz stolpert. Es dreht sich immer wieder um, blickt gehetzt und voller Angst in die Richtung des Verfolgers. Und bleibt schließlich abrupt stehen, als es in den letzten Momenten seines Lebens seinen Mörder erkennt…
Auch wenn die Szene in dieser Art schon unzählige Male über den Bildschirm geflimmert ist, hält der krimiaffine Zuschauer den Atem an und lässt hastig im Kopf die Verdächtigen durchlaufen, während er sich voll wohligem Grusel auf sein Sofa kuschelt. Für Krimifreunde in Deutschland ist der Tatort sonntags zur Primetime um 20:15 Uhr Pflicht. Die Gemeinschaftsproduktion der neun ARD-Rundfunkanstalten, des Schweizer Fernsehen (SRF) und des Österreichischen Fernsehen und Rundfunks (ORF) erfreut sich seit Jahrzehnten einer stabilen Beliebtheit. Seit 1970 ist der Tatort für viele Deutsche ein Sonntagabendritual und für die Sendeanstalten ein Quotengarant, der zuverlässig rund zehn Millionen Zuschauer fesselt. Publikumslieblinge, wie der Münsteraner Hauptkommissar Thiel mit seinem launigen Gegenpart Professor Boerne oder die toughe Ermittlerin Lena Odenthal aus Ludwigshafen, treiben die Einschaltquoten noch zusätzlich in die Höhe.
Doch nicht nur der Tatort ist populär: Die Deutschen sind Krimi-Liebhaber. Es vergeht kaum ein Abend, an dem nicht mindestens eine Verbrecherjagd im TV-Abendprogramm angeboten wird, und auch in den Buchhandlungen ist Kriminalliteratur ein Kassenschlager.
Wohlfühlfaktor Krimi
Wieso ist der Krimi so beliebt? Die Erklärungen sind vielfältig. Bei Kriminalliteratur spricht man sogar von Wohlfühlliteratur, denn der Leser kann sich hinter seinem Buch in Sicherheit wähnen, während er dem Grauen aus sicherer Distanz beiwohnen kann. Nicht zu unterschätzen ist außerdem die Genugtuung, wenn Zuschauer oder Leser das Rätsel um den Mord noch vor der Auflösung geknackt haben.
Die Krimi-Voyeure sind häufig auch dann nicht zimperlich, wenn es besonders brutal und blutig zugeht, wenn Leichen seziert, Opfer gequält oder die Verteilung von Blutspritzern am Tatort analysiert wird. Andere wiederum konsumieren Krimis besonders dann gern, wenn die Grenze des „wohligen“ Grauens, eines berechenbaren Schauders, nicht überschritten wird. Viele wenden sich zudem gerne dem Lokalisier- und Fassbaren zu – darüber mag sich auch die Beliebtheit für Regionalkrimis erklären lassen.
Der Regionalkrimi –„Den Tatort kenn' ich!“
Der Regionalkrimi boomt in Deutschland. Mörder werden nicht nur durchs heimische Allgäu, die Eifel und Ostfriesland gejagt – Autoren und Drehbuchautoren machen auch vor beliebten Urlaubszielen der Deutschen nicht halt, wenn es in etwa heißt Mord auf Mallorca, Blutige Bretagne oder Tatort Toskana. Die hier frei erfundenen Titel lassen die oft klischeebehafteten, teils klamaukigen Inhalte dieser Krimis erahnen. Da die Handlung überschaubar bleiben soll, ist das Setting in den meisten Fällen nicht die unpersönliche, austauschbare und graue Großstadt, sondern die ländliche Idylle. Im Mikrokosmos eines Dorfes können gesellschaftliche Strukturen besser nachvollzogen werden.
Auch beim Tatort spricht insbesondere die Vielfältigkeit der regionalen Ermittlungsteams viele Zuschauer an, kennt man doch viele Schauplätze aus dem Alltagsleben. Zudem thematisieren die Macher des Tatorts zuverlässig aktuelle, gesellschaftlich brisante Themen. Ein weiteres Element, warum der Tatort verbindend wirkt: In den sozialen Medien wird während und nach einer Folge angeregt diskutiert, wie sich die Kommissare angestellt haben und wie der gesellschaftliche Bezug einzuordnen ist.
Angstlust und Realität
Dabei steht die Fiktion im deutlichen Kontrast zur Realität: Im Jahr 2017 kamen in Deutschland knapp 3.500 Krimis in gedruckter Form auf den Markt, hinzu kommen Fernsehproduktionen am laufenden Band. Im Vergleich dazu stehen 405 echte Mordopfer im selben Jahr.
Schenkt man der Gewaltanalyse des kanadischen Experimentalpsychologen und Linguisten Steven Pinker Glauben, ist unser Alltag heutzutage viel gewaltloser als in früheren Epochen. Wie kann das in Hinblick auf den Enthusiasmus an der Krimischwemme Sinn ergeben? Pinker, der unter anderem in Harvard Psychologie lehrt, stellt in seinem 1.200 Seiten starken Werk Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit die These auf, dass sich die Gewalt im Laufe der Menschheitsgeschichte deutlich verringert hat und wir Gewalt zelebrieren, weil wir sie im wahren Leben vermissen. Fanden im Mittelalter noch öffentliche Hinrichtungen als Spektakel statt, so wenden wir uns heute einer fiktiven Leichenschau zu.
Übrigens gingen auch im Tatort die Zahl der Opfer 2017 um fast 50 Prozent zurück – von 162 auf nur noch 85 Leichen.