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Weshalb braucht die Schule eine partizipative Projektwoche?

Weshalb braucht die Schule eine partizipative Projektwoche?
Foto: Dmitrij Lebedew

Von Daria Kononez

Seit 2016 haben das Goethe-Institut St. Petersburg und das Festival „Kindertage in St. Petersburg“ im Rahmen der Projekte „Woche der Veränderungen“ und „ART-LABOR“ 21 kreative Projektwochen in 15 Städten im Nordwesten Russlands durchgeführt. Wir haben den Eindruck, dass das Format der Projektwoche sich besonders gut dazu eignet, das Potential kultureller Bildung als Mittel der Sozialisation zu nutzen. Ist das Thema kulturelle Bildung jedoch wichtig für die Schule? Wie wird kulturelle Bildung in unserem Bildungssystem repräsentiert?

Entwicklungsbedarf

In unserer Zeit ist die Schule das wichtigste Bildungs- und Sozialisationsinstitut für junge Menschen. Entsprechend den neuen Bildungsnormen der Russischen Föderation1 dient die Schule nicht nur der Wissensvermittlung, sondern verantwortet die Persönlichkeitsentwicklung der Schülerinnen und Schüler. Mit anderen Worten, die Besucherinnen und Besucher der Schule müssen eine Reihe von Kompetenzen erwerben, die ermöglichen, vollwertige Mitglieder der modernen Gesellschaft zu werden und am bürgerlichen und kulturellen Leben teilzunehmen.

Zu solchen Kompetenzen zählt zweifelsohne die Fähigkeit, selbständig Entscheidungen zu fällen, kritisch zu denken, sich eine eigene Meinung zu bilden und diese auszudrücken. Im Adoleszenzalter bildet sich das Sozialverhalten aus und es vollzieht sich der Prozess der Selbstidentifikation. Junge Menschen lernen Beziehungen mit der Welt aufzubauen und sich auszudrücken. Dabei verbringen die Oberschülerinnen und Oberschüler den Großteil ihrer Zeit in der Schule.
 
Künstlerischen Arbeitsweisen (Musik, bildende Kunst oder Literatur) setzen ein außerordentliches Potential für Selbstausdruck und Selbstbestimmung frei. Kreative Tätigkeit treibt einerseits dazu an, zu experimentieren, verschiedene Mittel des Ausdrucks auszuprobieren, etwas Neues zu erschaffen; andererseits führt sie zu Selbstbeobachtung und Reflexion über eigene Emotionen und Gedanken2.

Selbstachtsamkeit ist zur bewussten Formulierung eigener Ziele und Ideen, aber auch zur Kommunikation mit anderen unentbehrlich.

Kulturelle Bildung im Schulprogramm

Im normalen Schulprogramm ist kulturelle Bildung durch obligatorische Fächer vertreten: Bildende Kunst, Musik, Literatur und Kunst der Welt. Erfolge werden nach dem normalen Notensystem bewertet. Das wirkt sich darauf aus, wie diese Fächer unterrichtet werden: es gibt eine Orientierung auf faktisches Wissen (Geschichte und Theorie der Musik und Literatur) und die Erlangung konkreter Kompetenzen (Zeichnen, Texte schreiben etc.). Im Ergebnis wird das Sozialisationspotential der kulturellen Bildung nicht ausgeschöpft. Im Rahmen allgemeinbildender Fächer werden die folgenden Kompetenzen äußerst selten gefördert: künstlerisches Schaffen als Mittel des Selbstausdrucks und als Form eigenständiger Freizeitgestaltung, Entfaltung von Kreativität und eigenständigem Denken sowie Einführung in das kulturelle Leben der Gesellschaft.
 
Traditionell findet kulturelle Bildung zusätzlich zum Schulunterricht statt: in Schul-AGs und -sektionen, Musik- und Kunstschulen, Medienzentren, Tanzschulen, Jugendzentren und soziokulturellen Zentren. Zusätzliche Bildungsangebote stemmen die Aufgabe einer Einführung des jungen Menschen in die Kultur, allerdings erreichen diese nur einen Teil der Schülerinnen und Schüler, da sie fakultativ und häufig kostenpflichtig sind. In der Regel interessieren sich solche Kinder bereits für Kunst und kommen aus wohlsituierten Familien, in denen den Eltern etwas daran gelegen ist und die es sich leisten können, dem Kind kulturelle Bildung zu ermöglichen. Insofern gibt es in fast jeder Schule junge Menschen, die nicht an kultureller Praxis teilhaben.
 
Es scheint logisch, dass gerade die Schule als Institution dazu berufen ist, jungen Menschen gleiche Bildungs- und Sozialisationsmöglichkeiten unabhängig von familiären Verhältnissen zu ermöglichen und zu einem Ort der Einführung in die Kultur zu werden, d.h. dazu beizutragen, dass die Rechte jeder Bürgerin und jedes Bürgers auf Teilhabe am kulturellen Leben und an der Nutzung von Kultureinrichtungen gesichert werden3.

Das Format der kreativen Projektwoche in der Schule

Projekttätigkeit setzt selbständige Arbeit, Kreativität und das Fehlen eines vorher bekannten Ergebnisses (Musters) voraus.
 
Das Format der Projektwoche eignet sich deshalb gut, weil es den Jugendlichen ermöglicht, die eigenen Kräfte in selbständigen Projekten auszuprobieren, während der Lehrplan nur für eine Woche geändert wird. Da das kreative Projekt nicht in der Ferien-, sondern in der Unterrichtszeit stattfindet, ermöglicht es eine Einbeziehung aller Schülerinnen und Schüler – und nicht nur derjenigen, die bereits an Kunst interessiert sind. Der eingeschränkte Zeitraum ermöglicht es der Schule und der Schülerschaft, sich leichter auf das Experiment einzulassen und erzeugt zugleich einen überschaubaren freien Raum für den kreativen Ausdruck junger Menschen.
 
Natürlich ist jedes Format einer Einbeziehung von Jugendlichen in kreative Tätigkeiten förderlich. Da aber unsere Aufgabe nicht darin besteht, eine künstlerische Technik zu lehren, sondern zu begeistern, die Möglichkeiten kreativer Tätigkeiten aufzuzeigen und den Zugang der Jugendlichen zur Kultur dauerhaft zu gestalten, führen wir partizipative Projektwochen durch.

Man kann ein Projekt als partizipativ bezeichnen, wenn alle am Prozess Teilnehmenden in die Entscheidungsfindung miteinbezogen werden. Das setzt von der Projektleitung voraus, sich vom klassischen Modell der vertikalen Wechselbeziehung abzuwenden und eine koordinierende Rolle im Prozess einzunehmen. Es sollte garantiert werden, dass an Fragestellung, Diskussion und Entscheidungsfindung die gesamte Gruppe Anteil hat. Die Leitung realisiert nicht ein „eigenes Konzept“, sondern ist bereit, eines anzunehmen, das die Unterstützung der ganzen Gruppe genießt4.

Im Rahmen der Projektwochen wurde den Schülerinnen und Schülern ein gemeinsames Thema vorgestellt: „Was kann ich an meiner Schule verändern?“, und es wurden ihnen drei Fachbereiche zur Auswahl angeboten (Visuelle Veränderungen, Anderer Raum, Soziale Interaktionen)5. Jede Gruppe sollte selbständig ein Problem benennen, an dessen Lösung eine Woche lang gearbeitet wird. Der erfolgte partizipative Prozess – die Beteiligung der Jugendlichen, die Übernahme der Verantwortung für das eigene Projekt – war uns wichtiger als das tatsächliche Ergebnis der Gruppenarbeit (Wandmalerei, Performance, Aufführung, Installation).
 
Die Kunstpädagoginnen und Kunstpädagogen (Kunstschaffende, Designschaffende, Architekturschaffende, Regisseurinnen und Regisseure) sind Workshopleiterinnen und Workshopleiter, d.h. sie assistieren und sind keine Lehrenden, die vorgefertigtes Wissen vermitteln. Die Workshopleitung legt den Rahmen fest, begleitet alle Prozessschritte, übernimmt jedoch keine führende Funktion. Die Kompetenzen, die entfaltet werden sollen – Initiative, Selbständigkeit, Kreativität – können nicht in fertiger Form vermittelt werden, man kann sie nur selbstständig erlangen.
 
Die Aufgabe der Workshopleitung bestand darin, die Jugendlichen beim Formulieren ihrer eigenen Ideen zu unterstützen, zur Kreativität anzuregen und die Verantwortung für den Prozess an alle Gruppenteilnehmenden zu übertragen, damit ihre eigene Ausdruckweise in das künstlerische Projekt zur Lösung eines dringenden Problems mit einfließt. Im Rahmen des normalen Schulunterrichts, in dem Erwachsene Aufgaben für die Schülerinnen und Schüler festlegen, die verständlich und nachprüfbar sind, kann man kaum die Erfahrung von Verantwortlichkeit für eine gemeinsame Sache gewinnen. Eine Lehrperson, die zu einem Dialog mit Jugendlichen bereit ist, kann selbstverständlich die Rolle einer Workshopleitung übernehmen, welche einen partizipativen Prozess begleitet. Doch unser Projekt verfügte über einen Bonus: alle von uns eigeladenen Kunstpädagoginnen und Kunstpädagogen sind neu für die Gruppenteilnehmenden. Dadurch können die Jugendlichen in einem für sie neuen Projekt unabhängig von Stereotypen und Modellen im Umgang mit Erwachsenen agieren. Einige von ihnen hatten so die Möglichkeit, sich von einer neuen Seite zu zeigen.
 
Partizipative künstlerische Projekttätigkeit erlaubt es einem größtmöglichen Kreis junger Menschen, am kulturellen Leben der Gemeinschaft teilzuhaben, sich selbstständig zu fühlen, ein verantwortungstragendes Mitglied des Schullebens zu werden und möglicherweise auch, die künstlerische Praxis für sich als Methode des Selbstausdrucks und der Umgestaltung der eigenen Umwelt zu entdecken.

1 Föderale staatliche Bildungsnorm der grundlegenden Allgemeinbildung in der Russischen Föderation vom 17. Dezember 2010.

2 Die Fähigkeit, Aufmerksamkeit auf eigene Gedanken zu lenken, gelingt nicht leicht in einer von Informationen überfrachteten Welt, in der auch ein erfahrener Marketingexperte es nicht einfach hat, die Aufmerksamkeit eines Publikums mehr als vier Minuten lang zu beanspruchen. Dabei hat man noch im antiken Griechenland über die Bedeutung dieser Fähigkeit geschrieben: Diese Praktiken wurden im Griechischen als epimeleisthai sautou bezeichnet, was so viel heißt wie ’auf sich selbst achten‘, ’Sorge um sich selbst‘, ’sich um sich selbst kümmern‘. Die Vorschrift, ’auf sich selbst zu achten‘, galt den Griechen als einer der zentralsten Grundsätze der Polis, als Hauptregel für das soziale und persönliche Verhalten und für die Lebenskunst. Michel Foucault: Technologien des Selbst, 1982.

3 Vgl. Artikel 44, Konstitution der Russischen Föderation.

4 Daria Agapowa (Hg.): Kultura uchastija: muzej kak prostranstwo dialoga i sotrudnichestva, 2015.

5 Die Fachbereiche der Projektwoche wurden nach einer Analyse der Bedürfnisse Jugendlicher nach Veränderungen ausgewählt. Vgl. Fachbereiche.

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