DREI ZEITEN
Foto: © Goethe-Institut
"Wie erzählt die neuere Literatur der osteuropäischen Länder? Und wovon? Wer sind die Akteure der literarischen Szenen? Welche Erfahrungen werden artikuliert, sind sie unseren ähnlich oder ganz verschieden, wo ließen sich Anknüpfungspunkte finden für den Kulturaustausch mit dem post-sowjetischen, „neuen“ Osteuropa?
Auf solche Fragen versucht diese Anthologie einige Antworten zu geben. Kurze Hinweise auf literarische Stimmen oder Themen, stilistische Eindrücke, Kontextinformationen aus Gesprächen mit den Autorinnen und Autoren. Wer dieses Buch liest, begegnet 11 Autorinnen und Autoren aus Russland, aus Belarus und aus der Ukraine im Modus eines Textes oder einer einleitenden Passage zu einer längeren literarischen Arbeit. Viele dieser Texte erscheinen erstmals auf Deutsch.
Ausgewählt wurde ein relativ breites Spektrum individueller Schreibweisen. Realistisch erzählte Sujets stehen neben Essays, Lyrik neben reduktionistischer Stakkato-Prosa, und was wie Reportage aussieht, könnte eine Kurzgeschichte sein. Wir wollten ein vielgestaltiges Album zusammenstellen, mit Perspektiven, Szenen und Tableaus aus den osteuropäischen Gesellschaften.
Je mehr Texte wir lasen oder erhielten, desto mehr konnte man denken, dass jene bekannte russische Literaturkritikerin Recht hat, die letzthin (nicht ohne Ironie) sagte: Glück habe ihre Generation gehabt, Zeit ihres Lebens sei sie Zeuge gleich dreier Zeiten geworden – der im Stillstand verharrenden Sowjetepoche, des Wirbelwindes der „Perestrojka“ und der wilden 90er Jahren, und der heutigen Zeit „stabiler“ Verhältnisse. Glück oder Schicksal – jedenfalls fanden sich neben gesellschaftsdiagnostischen Texten, die ohne Umschweife im Hier und Heute siedeln, viele erzählerische Retouren in die 90er Jahre, in die sowjetische Vergangenheit oder noch weiter zurück. Die Vergangenheit als Fingerabdruck auf der Gegenwart. Die Verwobenheit des Heutigen mit Erlebtem und Gesehenen. Jene Spuren der jüngeren Vergangenheit, die die kulturelle Gegenwart im „neuen Osteuropa“ mit prägen. Das ergibt, gerade für einen Leser im deutschen Sprachraum, eine aufschlussreiche Lektüre.
In den Jahren 2017 und 2018 hatten die Goethe-Institute in Osteuropa und Zentralasien 17 Schriftstellerinnen und Schriftsteller nach Berlin eingeladen – darunter die meisten der Autorinnen und Autoren dieses Buches. Unser Programmpartner war das Literarische Colloquium Berlin am Wannsee. Die internationale kulturelle Zusammenarbeit wird im Goethe-Institut als ein Austausch in beiden Richtungen verstanden – so wie wir deutsche Kulturgäste in unsere „post-sowjetischen“ Gastländer bringen, so unterstützen wir auch die Vermittlung ausländischer Kulturproduktionen und Kulturakteure nach Deutschland. Wenn also diese Publikation dazu beiträgt, dass man mehr voneinander erfährt, dass neue Begegnungen mit einem Publikum stattfinden, neue Treffen, mehr Übersetzungen, kleine und große Veröffentlichungen, Sendungen und Verbindungen, dann hat sie ihren Zweck erfüllt.
Wir danken zuallererst dem Literarischen Colloquium Berlin für die freundliche und sehr angenehme Zusammenarbeit, dem Geschäftsleiter Herrn Dr. Florian Höllerer und insbesondere Jürgen Jakob Becker, dem stellvertretenden Geschäftsleiter und Geschäftsführer des Deutschen Übersetzerfonds.
Ohne das Engagement von Übersetzerinnen und Übersetzern gibt es keinen Kulturaustausch. Ihnen gilt unsere nachdrückliche Anerkennung, sie werden im Folgenden kurz vorgestellt.
Viele Rechteinhaber, Literaturexperten und Bibliothekskollegen haben unsere Arbeit in diesem Projekt durch ihr freundliches Entgegenkommen, ihre Informationen und ihren Rat auf das Wertvollste unterstützt, wofür wir uns herzlich bedanken.
Den Leserinnen und Lesern wünschen wir eine entdeckungsreiche Lektüre!"
Günther Hasenkamp
St. Petersburg, im Januar 2019