Interaktives Lesen
Pop-up-Bücher lassen uns unverändert staunen
Im 13. Jahrhundert kamen in Europa die ersten interaktiven Bücher auf. Gelehrte nutzten sie für astrologische Prognosen und zur Berechnung von Feiertagen auf Jahrzehnte im Voraus. In der Neueren Geschichte bekamen diese Bücher dreidimensionalen Charakter und ihre Leser waren überwiegend Kinder. Gegenwärtig ist das Pop-Up drauf und dran, sich in ein Art-Objekt und Werbeinstrument zu wandeln.
Die Designerin Jekaterina Testina-Lapschina hat uns verraten, was bei Pop-up-Büchern zuerst entsteht - die Grafik oder die Räumlichkeit - und warum sie uns unverändert staunen lassen.
Wie sieht der Herstellungsprozess eines Pop-up-Buchs aus?
Pop-up-Bücher werden manuell an großen Montagelinien, überwiegend in China, zusammengefügt. Vorab werden alle Einzelteile des Buchs gedruckt und maschinell ausgestanzt. Pop-up-Bücher werden von Menschen entworfen, die von Beruf „Paper Engineer“ sind, oder anders gesagt: Ingenieur für Papierkonstruktionen. Diese Ingenieure müssen den besonderen Umgang mit Papier beherrschen. Einerseits sollen die Bücher nicht nur dreidimensional werden, sondern auch dem vielfachen Auf- und Zuklappen standhalten. Andererseits gilt der Entwurf eines Buches dann als gut, wenn seine Montage unkompliziert und kostengünstig ist.
Also gut, der Ingenieur verleiht dem Papier Räumlichkeit. Pop-up-Bücher sind aber auch für ihre ungewöhnlich schönen Illustrationen bekannt. „Alice im Wunderland“ von Robert Sabuda und Matthew Reinhart ist ein typisches Beispiel dafür. Was entsteht zuerst bei einem Pop-up-Buch: die Grafik oder die Räumlichkeit?
Es hat seinen guten Grund, dass der Ingenieur Robert Sabuda und der Künstler Matthew Reinhart als Duo arbeiten. Zuerst wird das Konzept des Buchs entwickelt und der Anzahl der Doppelseiten zugeordnet. Für jede Doppelseite entwickelt das Tandem einen Entwurf (Sketch). In dieser Phase erübrigt sich die Frage, was primär ist: die Räumlichkeit oder die Grafik. Manchmal denkt sich der Ingenieur eine interessante Konstruktion aus und dann folgt die grafische Gestaltung. Mitunter ist es aber auch umgekehrt: Der Künstler hat eine interessante Idee, entwirft eine Illustration und stellt sie dem Ingenieur zur Verfügung, der dann passend zu ihr die räumlichen Papierkonstrukte entwickelt.
Du hast erwähnt, dass Pop-up-Bücher nur in China hergestellt werden. In Russland gibt es solche Montagelinien nicht?
Im Prinzip nicht. Das ist eine Frage der Wirtschaftlichkeit. In China ist diese Produktion bereits optimal eingespielt. Zum Bedauern der Verleger kommen für diese Produktion nur große Auflagen in Frage: ab 1000 Stück. Aufträge mit Stückzahlen von 100 werden von den chinesischen Produzenten abgelehnt.
Warum sind Pop-up-Bücher nach wie vor gefragt? Jede Familie hat doch praktisch ein Notebook, einen Tablet-PC oder einen 3D-Fernseher, und die bieten multimediale Unterhaltung mit weitaus beeindruckenderen Effekten als einfach nur eine dreidimensionale Papierkonstruktion.
Wir dürfen nicht vergessen, dass wir nicht in einem iPad leben, sondern dass wir Hände, Beine und Augen haben. Taktile Erfahrungen sind für den Menschen sehr wichtig und die physischen Eigenschaften des Pop-up-Buches machen diese erlebbar. Wie tief wir auch in die Welt des Flachbildschirms eintauchen, uns umgibt nach wie vor eine mehrdimensionale, räumliche Welt. Auf dem Computer ist es ein Leichtes, bestimmte Operationen rückgängig zu machen. Ein Pop-up-Buch hingegen ist ein Buch mit Illustrationen, die vergänglich sind. Das Buch entwickelt beim Kind das Verständnis dafür, dass alles um uns her physische Eigenschaften hat, dass alles endlich, wenn man so will, vergänglich ist. Digitale Technik vermittelt das nicht.
Heute gibt es Pop-up-Bücher, die vollständig aus Legobausteinen bestehen und mit reichlich Musik und LEDs beladen sind. Gibt es eine Grenze, an der ein Buch aufhört ein Buch zu sein?
Wenn diese Leuchten, Klänge und das digitale Papier dem allgemeinen Konzept eines Pop-up-Buches als Ergänzung dienen, dann bleibt das Buch ein Buch. Wenn wir von einem „Buch“ sprechen, assoziieren wir das sofort mit der Form des Kodex: ein Einband, in dem sich zusammengeheftete Seiten befinden. Mir scheint, ein Buch im heutigen Verständnis ist ein Objekt, in dem es Seiten gibt, die man umblättern kann.
Jekaterina Testina-Lapschina: Absolventin des Instituts für Angewandte und Humanwissenschaften am Energetischen Institut Moskau (Nationale Forschungsuniversität), Fachrichtung: Industriedesign; nach Abschluss des Studiums (2001) Übernahme als Assistentin am Lehrstuhl für Design, heute Seniorlektorin für Industriedesign.
Entwicklung des Interesses an Pop-up-Büchern im Rahmen der Lehrtätigkeit; gemeinsames Modellieren mit Studenten der Fachrichtung Grafikdesign weckte zunehmend Begeisterung für die Herstellung von 3D-Konstruktionen aus Papier, so dass dies zu einem wesentlichen beruflichen Betätigungsfeld wird. Neben der Lehrtätigkeit Initiatorin privater Projekte im Bereich Produktdesign; als Kreativschaffende aktiv in der Gruppe ZU-E-FA (Schaffung von Art-Objekten).