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Interview mit Heiner Goebbels
„And some people said and others said“

Szene aus "Everything That Happened And Would Happen"
Thanasis Deligiannis

Diesen Herbst wurde in St. Petersburg erstmalig ein Stück des deutschen Komponisten und Regisseurs Heiner Goebbels gezeigt. Es gehörte zu den Hauptereignissen der Theaterolympiade. Maria Slojewa hat mit dem Regisseur über die Besonderheiten seiner Arbeit, die Wechselbeziehung zwischen Theater und Politik, den Glauben an die Kraft der Kunst und vieles andere gesprochen.

Von Maria Sloeva

Die Premiere des Stücks „Everything that Happened and Would Happen“ wurde im letzten Jahr auf dem Manchester Internationalen Festival gezeigt. Es ist eine der wenigen Arbeiten von Heiner Goebbels, die sich auf nur einen Text bezieht, und zwar auf das Kultbuch „Europeana: Eine kurze Geschichte Europas im zwanzigsten Jahrhundert” von Patrik Ourednik. Auf der Bühne existieren 17 Tanzende und Musiker*innen gleichberechtigt mit Objekten und Szenographie; sie werden selbst zu einem Teil des Bühnenbilds, setzen aber „die Geschichte fort, so, als ob nichts gewesen wäre“.

Maria Slojewa: Sie arbeiten oft in nicht-theatralen Räumen – auf alten Bahnhöfen oder in Fabriken. Das Stück „Everything that Happened and Would Happen“ wird in Sankt Petersburg im Street Art Museum zu sehen sein, das auf dem Gelände einer noch in Betrieb befindlichen Fabrik angesiedelt ist. An welchen Kriterien orientieren Sie sich bei der Auswahl eines Aufführungsortes?

Eine Szene aus "Max Black or 62 Ways of Supporting the Head with a Hand" © Olympia Orlova Heiner Goebbels: Grundsätzlich bevorzuge ich Räume, die nicht so klar in den Bereich institutionalisierter Kulturgeschichte fallen wie etwa Opernhäuser oder Theater. Ich mag Orte, die durch Materialien und funktionelle Bedeutung eine eigene Realität mit einbringen.

Fast alle meine Stücke haben keine komplett festgelegte Szenographie, sondern sind immer offen für die Räume, in denen wir sie zeigen. In der Regel habe ich nicht den Anspruch, damit eine andere Realität zu zeigen. Mir gefällt es, mit leeren Räumen zu arbeiten. Wenn ich ein Stück im Theater aufführen soll, dann versuche ich, alles freizuräumen und mit den tatsächlichen Wänden zu arbeiten. Auf einer Theaterbühne steht ja meist eine Kulisse, die die Bühnentechnik und die Requisiten verdeckt. Ich glaube, dass es keinen Sinn hat, gegen die Architektur eines Gebäudes anzuarbeiten. Man kann nur gewinnen, wenn man nicht mit dem Raum kämpft, sondern im Gegenteil versucht, ihn für das eigene Stück zu nutzen. So hatten wir beispielsweise in den letzten zehn Jahren mehr als 300 Aufführungen des Stücks „Stifters Dinge“, das wir immer in einem durch Industriekultur geprägten Raum zeigen. Wenn wir es aber dennoch im Theater zeigen müssen, dann laden wir die Zuschauer*innen auf die Bühne ein, hinter den eisernen Vorgang und sie können sehen, wie funktionell dieser Ort ist – alle die Brücken, die Maschinerie, die technischen Apparaturen, die das Theater ja auch braucht.
 
Meiner Ansicht nach ist es wichtig, dass sich ein Stück mit dem industriellen Raum messen kann, ihn aber nicht verdeckt oder geringschätzt. Ich muss die Kräfte, die sich in der Architektur des Gebäudes ausdrücken, nicht ignorieren, sondern ich kann sie nutzen.

Heiner Goebbels © Olympia Orlova für OPPeople Maria: Vor den eigentlichen Proben an diesem Stück haben Sie mehrere Workshops für Künstler*innen und Musiker*innen veranstaltet. Welche Aufgaben oder Übungen haben Sie ihnen gegeben?
 

Heiner: Die Darsteller*innen werden in allen Workshops mit unterschiedlichen Materialien, Objekten, Kulissen, Stoffen und technischer Ausrüstung konfrontiert. Das ist keine Standardsituation für Tänzer*innen, denn diese arbeiten für gewöhnlich mit dem eigenen Körper und einer Choreographie, die wiederum die Beziehung zu anderen Körpern vorgibt. Bei den Proben habe ich aber sofort klargestellt, dass ich kein Choreograph bin. Ich habe mir keine Bilder ausgedacht, sondern den Tänzer*innen lediglich Objekte gegeben. In einer der Szenen war das zum Beispiel ein langer Waggon: sie improvisierten und konnten Beziehungen untereinander aufbauen, um einen Zugang dazu zu finden, wie man mit ihm umgeht. Sie haben die Choreographie unter sich selbst ausgemacht. Oder vielleicht kann man sogar sagen, dass die Objekte die Choreographie bestimmt haben.  
 
Für mich war es sehr wichtig, dass die Objekte vorgeben, wie man mit ihnen in Wechselwirkung treten kann. Ich denke, dass wir uns auf ein neues Kapitel der Menschheitsgeschichte zubewegen, in dem wir zugeben müssen, dass wir nicht in der Lage sind, alles zu kontrollieren. In der Natur werden wir es mit noch ganz anderen Kräften zu tun haben, und wir sollten ihnen mit Respekt begegnen. Mein Stück ist ein kleiner Schritt in diese Welt, in der Menschen nicht zwingend im Mittelpunkt des Interesses stehen müssen, sondern mit anderen Materien interagieren.
 
Im Stück „Stifters Dinge“ kommen zum Beispiel gar keine Menschen vor. Auf der Bühne sind Nebel, Regen und Eis. Wasser interagiert mit Wasser. Für mich war es sehr wichtig, nach der Aufführung vom Publikum Dinge zu hören wie: „Endlich steht niemand auf der Bühne, der mir sagt, was ich denken soll.“ Das Publikum wurde ganz unmittelbar mit Elementen der Natur konfrontiert, und ich denke, dass das Stück „Everything that Happened and Would Happen“ in gewisser Weise die Fortsetzung dieser Idee ist. Man könnte sagen, es ist „Stifters Dinge mit Menschen“. Aber die Menschen dominieren darin weder einander noch die Objekte, mit denen sie sich auseinandersetzen. Sie versuchen, gemeinschaftlich einen Weg zu finden, mit der Situation umzugehen. Im Zuge dieser Interaktion stellen sie eine Beziehung zur Zeit, zum Raum, zur Musik und zu den Texten her.  
 
In den Beschreibungen steht oft, dass es ein Stück über die Geschichte Europas, über den Ersten und den Zweiten Weltkrieg sei. Doch die Inszenierung beschäftigt sich eben auch mit den Möglichkeiten einer kollaborativen Kreativität von Menschen, die einander nicht ähnlich sind. Als Publikum spürt man die Freude dieser Darsteller*innen. Sie sind aus zehn verschiedenen Ländern angereist und kommen plötzlich hier zusammen, zu gleichen Bedingungen. Das Publikum sieht Persönlichkeiten vor sich und beobachtet deren individuelle Herangehensweisen an die Lösung gemeinsamer Aufgaben.
 
Eine Szene aus "Max Black or 62 Ways of Supporting the Head with a Hand" © Olympia Orlova Maria: Man nimmt Sie als Theaterregisseur, Komponist und außerdem noch als Professor und Schriftsteller wahr. Wie antworten Sie selbst auf die Frage, was Sie beruflich machen?
 
Heiner: Ich bezeichne mich als Komponisten, aber für mich ist „Komposition“ ein ziemlich weitgefasster Begriff. Zum Beispiel erschaffe ich in diesem Stück hier nicht die Musik, denn sie ist vollständig improvisiert und entsteht aus den Themen der vier, fünf Musiker*innen, die sich auf der Bühne befinden. Aber wir haben zusammen durchdacht, wie sie klingen soll, uns gemeinsam ihre Form, ihren Charakter und ihre Textur überlegt. Fast alle Musiker*innen verwenden ihre Instrumente in einem nichttraditionellen Sinne. Manchmal ist es schwer zu sagen, woher der eine oder andere Ton kommt, weil es eben überhaupt nicht der Ton ist, den man von einem Saxophon oder von einer Trommel erwarten würde. Mein weitläufiges Verständnis von „Komposition“ impliziert, dass alle Elemente – Licht, Objekte, Bewegungen, Texte, Bilder, Töne – miteinander interagieren. Und diese Beziehungen untereinander müssen eben organisiert werden.
 
Man kann das komponieren, indem man traditionelle musikalische Kategorien nutzt. Zum Beispiel einen Kontrapunkt zwischen Ton und Bild: Sie sehen etwas Kleines und hören etwas Großes, oder Sie sehen etwas Helles und hören etwas Dunkles. Man kann Sinn-Polyphonien kreieren. Solche Beziehungen zwischen Objekten existieren auf allen Ebenen. Manche Kunstformen wie Architektur oder Licht stehen der Musik näher, andere sind auf den ersten Blick weiter entfernt angesiedelt, aber man kann sie immer mit einer musikalischen Beziehung zusammenbringen. Auch, wenn Musik selbst gar nicht präsent ist.
 
Maria: Sie haben fast 20 Jahre lang als Professor am Institut für angewandte Theaterwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen gearbeitet und waren 12 Jahre lang Präsident der Hessischen Theaterakademie. Welche Eigenschaften sind, Ihrer Meinung nach, für Theaterschaffende in der Zukunft am Wichtigsten?
 
Heiner: Ich bin kein Hellseher, aber ich gebe mir Mühe, mich aufmerksam mit den Problemen zu beschäftigen, vor denen das Theater steht. Ich denke, dass Autorschaft oder zum Beispiel die ethische Seite einer Produktion wichtige Fragen der Gegenwart und Zukunft der darstellenden Kunst sind. Wir haben das in Gießen oft diskutiert und Antworten darauf gesucht. Es gibt einen großen Unterschied zwischen einer Inszenierung, in der Ihnen jemand sagt, was Sie denken sollen, und einem Stück, das von 15 Leuten umgesetzt wird, welche wiederum durch einen Künstler gelenkt werden, der sich selbst als Komponisten sieht.
 
Als ich in Gießen lehrte, hatte ich verschiedene Strategien. Eine von ihnen war, jungen Künstlern zu zeigen, dass sie nicht zwangsläufig eine klare Vorstellung von jedem Detail des Stücks brauchen. Es reicht aus, einen Ausgangspunkt oder eine Frage zu haben, die man mit der Arbeit  diskutieren möchte. Die Darstellenden und selbst die Objekte, die in das Stück involviert sind, geben Ihnen die Antwort – man muss lediglich offen für das sein, was sie einem geben wollen.
 
Ich habe bei der Arbeit an diesem Stück sehr oft auf diese Methode zurückgegriffen. Eine traditionelle, autoritäre Hierarchiestruktur der Theaterproduktion sieht es vor, dass der Regisseur weiß, was er zeigen will. Er hat einen bestimmten Blick auf das Werk (oder sogar die Welt), und er demonstriert ihn auf der Bühne mittels anderer Menschen. Ein solches Arbeitsprinzip ist nichts für mich. Davon abgesehen vereinfacht sich damit auf unangemessene Weise die Publikumserfahrung – man müsste ja lediglich den Gedankengängen eines egoistischen Regisseurs folgen.
 
Dass an der Umsetzung eines Stücks im Prinzip eine große Anzahl an Menschen beteiligt ist, ist eine große Chance, und jeder einzelne Beitrag bereichert die Inszenierung. Manch einer hat einen besseren Sinn für Humor, manch einer ist melancholischer, manch einer hat einen herrischen Charakter und manch einer einen sanften. Die persönlichen Besonderheiten dieser Diversität, ihre individuelle Herangehensweise an die Arbeit – all das drückt sich im Ton, im Licht und in den Bildern auf der Bühne aus.
 
Maria: Ihre Inszenierungen haben eine außergewöhnlich lange Lebensdauer. Ist es für Sie wichtig, etwas Epochales, Langlebiges zu erschaffen? Oder wie stellen Sie fest, dass ein Stück gestorben ist?

Heiner: Eine Komposition kann ein langes Leben haben. Alle Opern von Mozart und Wagner sind bis heute auf der Bühne... Kann man zum Beispiel mein Stück „Max Black“ heute nicht mehr in Moskau aufführen, weil seine Premiere bereits im Jahr 1998 stattgefunden hat? Wenn man in Kategorien der Musik denkt, geht es nicht darum den gerade aktuellen Nerv der Zeit zu treffen. Wir haben für „Max Black“ inzwischen einiges verändert, weil wir ein neues Team haben, eine andere Sprache mit anderem Klang und Rhythmus. Aber die Basis des Stücks ist eine Komposition aus Bewegungen, Lichtern und Handlungen. Eine Komposition aus Beziehungen zwischen Schauspieler*innen und Objekten (hinter denen Sound-Designer und Komponist stehen). Das ist zeitlos von Interesse. Immer noch auf der Bühne sind auch „Eislermaterial“ (1998), „Schwarz auf Weiß“ (1996) und „Stifters Dinge“ (2007), was vielleicht heute aktueller klingt als damals, als wir es gemacht haben, da ökologische und ethnologische Themen berührt werden. Und ich weiß nicht, wann die passende Zeit für das Stück kommt, an dem wir gerade arbeiten – heute oder vielleicht in ein paar Jahren.  
 
Maria: Der Philosoph Jacques Rancière setzt die Kunst oder jedwede Form ästhetischer Erfahrung in Zusammenhang mit der Politik, da sowohl das eine als auch das andere die Hoffnung auf eine „Veränderung des Lebens“ wecke, oder mit anderen Worten: auf neue Möglichkeiten und neue Formen von Realität. Sie meinen, dass das Theater nur ohne laute Wortmeldungen politisch sein kann. Was verstehen Sie in diesem Sinne unter dem Begriff „politisch“, und wie drückt sich das in Ihren Arbeiten aus?
 
Heiner: Ich stimme Rancière zu. Das Theater bleibt offen für seine Interpretation durch die Zuschauer*innen. Wenn es eine klare politische Botschaft hat, dann hört es auf, politisch zu sein. Meiner Meinung nach müssen diejenigen, die im Saal sitzen, die Schlüsse ziehen. Wenn man als Zuschauer bemerkt, dass jemand auf der Bühne einen deutlichen politischen Auftrag hat, stößt das ab. Man merkt die Absicht und ist verstimmt. Man wird dann sagen (oder denken): „Das muss man mir jetzt nicht noch vorsagen, das weiß ich selbst.“ Ich glaube, dass ein Stück nur auf nicht-intentionale Weise politisch sein kann, sondern wenn es eher zufällig eine politische Dimension bekommt. Wenn Sie als Regisseur meinen, dass Sie wissen, wie so etwas abläuft, dann sind Sie im Irrtum.
 
Maria: In den 60-er Jahren hat der Architekt Frank Lloyd Wright gegen Ende seines Lebens gesagt: „Wenn mir noch 15 Jahre blieben, würde ich das ganze Land umbauen und die Nation verändern.“ Glauben Sie an die Idee, dass die Kunst vielleicht nicht die Nation, aber vielleicht den einzelnen Menschen verändern kann?
 
Heiner: Ich denke, dass eine starke künstlerische Erfahrung jemanden dazu bringen kann, das eigene Leben, seine Werte und die Wahrnehmung der Dinge zu verändern. Ja, was die Kraft der Kunst angeht, da bin ich sehr optimistisch. Ich habe viele Menschen getroffen, die mir erzählt haben, wie das Theater oder die Musik ihr Leben verändert haben.

Die Basis hierfür entsteht durch die Möglichkeit, sich vorzustellen, dass die Dinge auch ganz anders sein könnten, als sie uns scheinen. Das ist eine sehr wichtige künstlerische Erfahrung: Die Idee, dass die Welt eine andere sein kann. Plötzlich beginnen Sie zu sehen, was man verändern könnte, zunächst vor allem in einem künstlerischen Kontext. Die Zuschauer*innen finden immer Berührungspunkte zwischen dem eigenen Leben und dem, was sie auf der Bühne sehen. Das ist eine sehr persönliche Erfahrung und eine der Grundlagen von Kunst. Das jemanden vorsätzlich durchleben zu lassen, liegt nicht in der Macht des Künstlers.

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