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Amelie Kahl
Der Franz hatte Stil

Model des Prager Modesalons Roubíčková
Model des Prager Modesalons Roubíčková | © Kunstgewerbemuseum Prag

Was haben Kafka und Mode gemeinsam? Ein Gefühl des ewigen Zu-Spät-Kommens. Wir hecheln der Mode hinterher und können uns ihr nur bedingt entziehen. Auf gewisse Art sind wir ihr ausgeliefert: Denn ganz egal, wie wir uns anziehen, oder auch nicht anziehen, es lässt sich immer etwas an der Hülle ablesen. 

Von Amelie Kahl

Die erste Erinnerung an mein Interesse an Kleidung habe ich, als meine Mutter versuchte, mich durch modische Synthetikfaser in den Kindergarten zu locken. Damals weigerte ich mich, ihn zu besuchen. Eine sinnlose Beschäftigung war mir der Kindergarten, eine Zeitverschwendung, die meine Freude am Beobachten durch die ständigen Aufrufe zur Teilnahme an irgendwelchen Aktivitäten störte. Konstant war irgendwas zu tun, und wenn man etwas in einem Kindergarten nicht kann, dann ist es Nicht-Teilnehmen. 

Meine Mutter lockte mich deshalb mit einem transparenten Hemd, das mit einem blauen Rosen-Print, Ziernähten und Wellensaum versehen war. Wie eine Elster, die gerade einen Diamanten gefunden hat, lenkte ich ein. An die Abmachung, im Gegenzug den Kindergarten zu besuchen, hielt ich mich von nun an – ein Hemd reicher. Meine Garderobe zum Besuch des Kindergartens wählte ich ab diesem Zeitpunkt selbst. Das Hemd ist ein Symbol. Es steht repräsentativ für meine erste Erinnerung an die Selbstermächtigung über meinen eigenen modischen Ausdruck. Es ist ein Symbolbild für die Entscheidung darüber, wie ich mich für den Rest meines Lebens nach Außen darstellen würde. Die Kleiderwahl der Identität, an der Menschen sowohl aufblühen, als auch zerbrechen; der sie vor allem aber nicht entkommen können. 
 

kaf·ka·esk
/kafkaésk/
[Adjektiv, Bildungssprachlich]
in der Art der Schilderungen Kafkas; auf unergründliche Weise bedrohlich. Alptraumhafte willkürliche Situation, der man ausgeliefert ist. Konfrontation mit wiederholten Niederlagen und Enttäuschungen.
[Beispiel]
„die Geschichte hat kafkaeske Züge“
[Herkunft]
nach dem österreichischen Schriftsteller F. Kafka (1883–1924), -esk

Wenn ich über die allgemeine Definition des Begriffs kafkaesk nachdenke, bringe ich den Begriff erstmal mit Bürokratie in Verbindung. Dem Nicht-Rauskommen-Können aus einem System, dem sich beispielsweise der Protagonist Josef K. in Franz Kafkas Roman Der Process notgedrungen beugt. Er erduldet sein Todesurteil, ohne sich einer Schuld bewusst zu sein. Kafkaesk beschreibt die Ohnmacht gegenüber einem Machtgefälle, dem man ausgeliefert ist. Die höhere Macht wird dabei als gegeben betrachtet, nicht hinterfragt und als Teil des Lebens akzeptiert. Man sagt, Kafka sei deshalb heute noch relevant, weil diese Ausweglosigkeit genauso auf viele Bereiche des Lebens zutrifft – über die Bürokratie hinaus. Auch im modischen Ausdruck schwingt eine groteske Ausweglosigkeit mit. Das hat Franz Kafka schon um 1910 erkannt, als er seine modischen Beobachtungen niederschrieb. Der Franz hatte Stil; er selbst war nicht nur auffällig gut gekleidet, sondern brachte seine Freude an Kleidung stets zu Papier.
 
[Tagebuch von Franz Kafka, 27. September 1911; Mittwoch]
Alter Mann mit locker hängenden Hosen auf dem Belvedere. Er pfeift; wenn ich ihn anschaue, hört er auf; schaue ich weg, fängt er wieder an; endlich pfeift er auch wenn ich ihn anschaue. 
(…)
Der schöne große Knopf schön angebracht unten auf dem Ärmel eines Mädchenkleides. Das Kleid auch schön getragen über amerikanischen Stiefeln schwebend. Wie selten gelingt mir etwas Schönes und diesem unbeachteten Knopf und seiner unwissenden Schneiderin gelingts. 

[Tagebuch von Franz Kafka, 22. Mai 1912; Mittwoch]
Ihr warmer, faltiger, leichter, nachlässig vor lauter Schmiegsamkeit hängender Mantel, als sie bei der Kassa unterhandelte.

 
[Brief von Franz Kafka an Felice Bauer]
[Prag, 15. Dezember 1912; Sonntag]
Aber nein, das tut sie nicht, sondern läßt mich stumpfsinnig warten und wir reden von beispiellos gleichgültigen Dingen wie Breslau, Husten, Musik, Schals, Broschen, Frisuren, Italienreisen, Rodeln, Perlentaschen, Frackhemden, Manschettenknöpfen, Herbert Schottländer, Französisch, Hallenbädern, Duschen, Köchinnen, Harden, Geschäftskonjunktur, Reisen in der Nacht, Palacehotel, Schreiberhau, Hüten, Breslauer Universität, Verwandten, kurz von allem möglichen, aber das einzige, was auf Dich und leider gerade jetzt ein wenig Beziehung hat sind paar Worte über Pyramidon und Aspirin, man versteht nicht recht, warum ich mich bei dem Gegenstand so lange aufhalte und die zwei Worte mit Vorliebe über die Zunge rollen lasse. 

 
[Auszug von Franz Kafka; Das Schloß]
[Seite 1]
Ein junger Mann, städtisch angezogen, mit schauspielerhaftem Gesicht, die Augen schmal, die Augenbrauen stark, stand mit dem Wirt neben ihm. 

Beiläufig beschreibt Kafka in dieser kleinen Auswahl an Tagebucheinträgen, Brief- und Romanauszügen seine modischen Beobachtungen. Dabei interessiert ihn, wie sich aus seinen Textpassagen herauslesen lässt, die Mode weniger als moderner Trend, sondern als Ausdruck von Identität. Denn da der Franz eben Stil hatte, wusste er schon damals, dass Trends nicht den guten Geschmack machen. In seinem Tagebucheintrag vom 22. Mai 1912 zum Beispiel beobachtet er die Art, wie der Mantel an einer Dame liegt, ohne den Mantel als modisches Utensil zu beschreiben. Er erkennt den Mantel als Schablone eines unbekannten Menschen an. Nicht nur der Mantel selbst verrät etwas über seinen Träger, auch die Art, wie er getragen wird und in welchem Zustand er sich befindet.
Die Expression durch Kleidung kann man nun bewerten, wie man will. Ich persönlich bewerte sie nach Laune. Manchmal hasse ich sie an Tagen, an denen ich in ihr keine Möglichkeit, sondern eine Obligation sehe, der ich mich zu fügen habe. Denn ganz egal, wie ich mich anziehe, oder auch nicht anziehe, es lässt sich immer etwas an der Hülle ablesen. Wie mein Mantel an mir fällt, ob er gebügelt ist oder nicht, aus welchem Stoff er hergestellt wurde, ob er modern ist oder nicht. Ich kann mich nicht nicht-anziehen. Außer, indem ich mich wortwörtlich nicht anziehe und nackt auf die Straße gehe. Doch irgendwie kann man auch daran etwas erkennen. Ich kann nicht aus meiner Nacktheit steigen. Ich kann mich nicht selbst ablegen wie ein Kleidungsstück. Die Expression als kafkaeske Unterwerfung quält mich gelegentlich, ebenso wie die Erkenntnis an schlechten Tagen: Man kann sich vielleicht der Mode entziehen, aber nicht ihrem Ausdruck. 
 
[Das dritte Oktavheft von Franz Kafka: 25. Januar 1918; Sonntag]
Vor dem Betreten des Allerheiligsten mußt du die Schuhe ausziehen, aber nicht nur die Schuhe, sondern alles, Reisekleid und Gepäck, und darunter die Nacktheit und alles, was unter der Nacktheit ist, und alles, was sich unter dieser verbirgt, und dann den Kern und den Kern des Kerns, dann das übrige und dann den Rest und dann noch den Schein des unvergänglichen Feuers.

Mode fühlt sich an wie eine Aufgabe, die es zu erfüllen gilt, ohne dabei zu wissen, wie die Aufgabe überhaupt lautet. Sie ist eine Vorladung zu Gericht wie bei Der Process, ohne die Erscheinungszeit zu wissen. Mode ist ein ewiges Gefühl des Zu-Spät-Kommens. Hat man sie vermeintlich gerade begriffen, ist sie schon wieder obsolet. Gerade heutzutage, da sich der Trendzyklus so schnell wiederholt, dass er sich bereits selbst einholt. Trends überschneiden sich. Doch sind Trends ja eigentlich die Vorgaben und Richtlinien, an denen wir uns festklammern, um bloß nichts falsch zu machen. Um Teil einer Gesellschaft zu sein, um einen Habitus zu mimen, einer Szene anzugehören. Eine klare Trendströmung führt zur Erleichterung bei jenen, die sich von der Komplexität der Modeknigge erdrückt fühlten. Je nischiger jedoch Modezyklen und Trendströmungen werden, umso undurchsichtiger wird es, sie zu verstehen. 

Alles und nichts ist Trend. Wer sich diese Moderegel überlegt hat, muss ein großer Kafka-Fan sein. Es klingt erstmal nach der großen Freiheit, ist jedoch kafkaesk. Denn nur da scheinbar nichts mehr Trend ist, heißt das nicht, dass man nichts mehr in der Mode falsch machen kann. Im Gegenteil: Wenn nichts mehr modern ist oder im Trend, scheitert man schon bei dem Versuch, modern auszusehen. Wer versucht, hat schon verloren. Wer modisch aussehen will, muss das ständige Verlieren aushalten und wird mit niemals endenden, wiederholten Niederlagen und Enttäuschungen konfrontiert werden. Niemand kann in der postmodernen Trendregel „Alles und nichts ist Trend“ gewinnen. Die Prognose klingt wie eine Analyse aus dem Deutschunterricht von Kafkas Klassikern wie Das Schloss, Der Process oder Die Verwandlung
 
[Alles und nichts ist Trend: Der Versuch einer Analyse aus dem Deutschunterricht]
„Mode ist enigmatisch, doch nur so kompliziert, wie man sie kompliziert machen will. Nichts ist eindeutig und ihre Sinnlosigkeit erkennt sich an leeren Metaphern.“ 

Bis in die frühen Zweitausenderjahre reichte das Durchblättern eines Modekatalogs, um sich für ein Outfit zu entscheiden, oder der Besuch eines großen Einkaufszentrums, um sicherzugehen, das gesellschaftlich Akzeptierte und vermeintlich Richtige anzuziehen. Modekataloge und -häuser waren die Anleitung zur Maskerade einer Identität. Das Konzept Mode hat sich heute zwar nicht geändert, doch das Handbuch ist komplexer geworden. 

Das Bedürfnis nach Identität und Selbstentfaltung ist größer und damit die Anleitung zum modischen Ausdruck länger. Wer will ich sein, wie will ich wahrgenommen werden? Diese Fragen lassen sich in der Postmoderne nicht mehr so leicht beantworten. Wir befinden uns in der Zeit der Ungleichen: Eine Standardisierung und Konformität, eine modische Norm ist in der Mittelstandsgesellschaft kein Ziel mehr. Abgelöst durch Individualität, an deren Entschlüsselung alle scheitern, die sie zerdenken. 

Mode kommt uns bei dem Versuch, uns auszudrücken, scheinbar bereitwillig entgegen. Sie ist am Ende jedoch nur noch ein Informationsschwall an Trends, die ab dem Zeitpunkt ihrer Bezeichnung keine mehr sind. Identität, Stil und Ausdruck findet man nicht in Trends. Das wusste auch schon der Franz, der Stil hatte. Den hätte er mit Sicherheit auch heute noch, 100 Jahre später. Schriebe ich heute ein Tagebuch, in dem ich den Franz beobachtete, wie er mir in jungen Jahren auf einer Bank in einem Berliner Stadtpark gegenübersäße, würde ich ihn so beschreiben:
 
[Tagebuch von Amelie Kahl, 13. November 2023; Montag]
Süße Maus mit flüchtig gekämmtem Haar. Streicht sich die mit Gel oder Fett getränkten Strähnen aus der Stirn. Die Ohren flattern wie zwei Flügel am Gesicht, dazwischen freundlich-bedröppelte Augen. Das dunkelgraue Wolljackett einer japanischen Designermarke mit überbreitem Revers liegt zwei Nummern zu groß auf den schmalen Schultern herum. Das knittrige Hemd mit Stehkragen vom Flohmarkt? Zerlebte Seele, vermute ketaminabhängig und bisexuell, aus der Zeit gefallen und modern zugleich, mit der man filtrierten Bordeaux aus lustig geformten Karaffen trinken mag.

 
* * *

Herzlichen Dank dem Kunstgewerbemuseum in Prag fürs großzügige Teilen ihrer wunderbaren Mode-Fotografien.

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