AUF EIN WORT MIT… CLEMENS J. SETZ
Redigierte Transkription des Videointerviews. Regie und Schnitt: Caroline Schwarz. Das Video wurde vorbereitet im Rahmen der 44. Mülheimer Theatertage NRW, Stücke 2019: www1.muelheim-ruhr.de
Eine junge Putzfrau hat sich das Leben genommen. Motiv: unklar. Ihre Hinterlassenschaft: merkwürdig.
Sie hat Modelle sämtlicher Wohnungen angefertigt, in denen sie beschäftigt war. Eine Galerie entdeckt diese als Kunstwerke, die Bewohner*innen entdecken vor allem die kleinen Abweichungen. Und die müssen es in sich haben, sonst würden die Leute nicht so überempfindlich reagieren…
Was war die letzte Abweichung, die Sie persönlich irritiert hat?
Auf dem Weg hierher — ich bin von Wien aus mit dem Zug nach Frankfurt gefahren, dann umgestiegen und dann nach
Duisburg — war ein Kakadu in einem Käfig neben mir. Wenn ein Hund vorbeigelaufen ist, hat der sein Schopf aufgestellt. Und er hat geklungen wie ein Funkgerät, immer so: kschschsch, kschschschsch. Und zwischendurch hat er so gequietscht. Und das Lustige war, die meisten Leute haben ihn vollkommen ignoriert, so, als wäre das ganz normal. Das war eine interessante Abweichung. Eine Frau saß direkt vor ihm, hat ihn zur Kenntnis genommen und dann so, I-Pad raus, und… Ich meine — wow! Das war mal eine interessante Abweichung!
Um welche Abweichungen geht es in Ihrem Stück?
Im Stück geht es um eine Frau, die sich umgebracht hat. Und in ihrer Wohnung werden Miniaturen von Wohnungen entdeckt — eine Art kleine Spielzeugwohnungen, die sie selbst gebaut hat.
Wie es manchmal so ist mit sogenannter Outsider-Art fällt das jemandem auf und es wird eine kleine Ausstellung initiiert. Die Familien, deren Wohnungen dargestellt sind, werden auch damit konfrontiert. Man zeigt es ihnen natürlich im Vorfeld. Sie bemerken, dass da kleine Abweichungen sind, z.B. hat eine Familie nur ein Kind, es sind aber zwei dargestellt. Sonst stimmt alles ziemlich perfekt. Es wurde alles ganz genau ausgearbeitet. Was bedeutet diese Abweichung also? Natürlich zieht dieser kleine Frevel, diese kleine „glitchende“ Abweichung von der Realität dann große Schmetterlingseffekte nach sich, große Echos, stille Explosionen im Leben der Figuren. Bis in die Zukunft hinein.
Sie sagen „Glitches“ — was hat es damit auf sich?
Das hat inhaltlich gesehen nichts direkt damit zu tun, aber das Stück in seiner ganzen Art ist inspiriert von „Glitches“. Das sind Fehler in Computerspielen, die unbeabsichtigt entstehen. Es gibt meinen absoluten Lieblingsglitch — einen, der gar nicht passiert ist, den es aber beinahe gegeben hätte und von dem ich bei jeder Gelegenheit gerne erzähle. Und zwar waren, als Neil Armstrong kurz davor war, mit der Appolo-11 auf den Mond zu fliegen, viele Intellektuelle sehr daran interessiert, darüber zu schreiben. Unter ihnen war auch Norman Mailer. Norman Mailer war überhaupt sehr fasziniert von der Figur Neil Armstrong, weil dieser bei den vorbereitenden Diskussionen nicht viel gesagt hatte. Der war einfach sehr schweigsam und zurückhaltend und eigentlich introvertiert. Und das hat den Mailer wahnsinnig wütend gemacht. Und dann hat sich Mailer vorgestellt, was wäre, wenn dieser Armstrong da einen Schritt macht, einen nächsten Schritt und dann den letzten auf der Leiter und dann den Mond berührt und verschwindet. Einfach Zack — weg. Und dann kommt diese schöne Erklärung von ihm — so ein Halbsatz. Wenn das passiert wäre, wären alle Slapstick-Komödien von Loriot und Heidi umsonst gewesen. Denn man könnte nie wieder in der Welt etwas Lustigeres sehen als diesen Moment. Das wäre der größte Slapstick aller Zeiten und das Witzigste, was in der Menschheitsgeschichte je passiert ist.
Woher kam die konkrete Inspiration zu dem Stück?
Das Stück ist beim Chatten mit einer Frau entstanden, die als Reinigungskraft arbeitet. Also Putzfrau bei verschiedenen Familien ist und selbst auch Kunst macht. Ich habe sie mal im Scherz gefragt: Könntest du die Wohnungen deiner Klient*innen nachbauen und schauen, was passiert? Das war wirklich eine ganz konkrete, aus einem situativen Scherz heraus entstandene Inspiration. Dann habe ich die Grundidee gehabt und mehr darin gesehen, wie man immer sagt. Man versinkt in einer Idee, schwelgt darin, sieht Figuren und denkt: Ah, jetzt möchte ich das auch erleben. Und dann schreibt man es auf.
Was will das Stück?
Wie Beethoven einmal gesagt hat: Was vom Herzen kommt, möge wieder zum Herzen gehen. Kitschig, romantisch formuliert. Aber er meinte, glaube ich, das Richtige: dass eine Ebene zwischen uns hergestellt werden muss, auf der sonst nicht verhandelt werden kann, auf der die großen komplexen Erzählungen ablaufen, die auch eine emotionale Tiefe oder eine emotionale Sprengkraft haben.
Und was wollen Sie an das Publikum übertragen?
Ich kann es wahrscheinlich eher von außen beschreiben. Es sind Vergleiche, die erotischer Natur sind, immer etwas dümmlich. Aber ich werde sie nur ganz sanft verwenden, und zwar: man weiß ja sehr oft nicht genau, warum man einen Menschen attraktiv findet. Man weiß nur: offenbar bin ich so veranlagt, diesen Menschen wahnsinnig attraktiv zu finden. Und ich bin ganz versessen auf ihn — das gibt es ja manchmal, nicht. So ähnlich ist das — nicht auf derselben Ebene, aber ähnlich — mit einem sogenannten Stoff, der einen entweder selbst findet oder den man entdeckt oder sich ausdenkt. Man kann es eigentlich nicht belegen: ja, deswegen mir ist das wichtig, und das ist wichtig, und… und dann habe ich die passenden Zutaten. Sondern die Storyteller-Fühler stellen sich auf und man merkt — Aha, das ist es, genau das ist es! Aber ich könnte keine allgemeine Beschreibung liefern für solche Stoffe. Ich finde eigentlich, selbst wenn es sie gäbe, dann sollte man sie nicht kennen. Sonst geht es einem so wie dem Tausendfüßler, der herausfinden wollte, welches Bein er wann bewegt, zu diesem Zweck genau in sich hineinhorcht, dadurch nicht mehr laufen kann und auf die Schnauze fällt. Vielleicht will ich das gar nicht entzaubern. Aber ich könnte bei dem Stück wirklich nicht sagen, ob es eine gesellschaftspolitische… ich weiß ja, dass die Leute so reden — auch Dramatiker und Dramatikerinnen, die haben oft diesen unmittelbaren Anker in normalen, gut erklärbaren Diskursen. Das ist gar nicht blöd, es ist eigentlich auch gut. Ich finde es immer beeindruckend. Aber ich müsste wirklich schauspielern und lügen, dass ich das so mache. Und ich hätte das wahrscheinlich früher auch gemacht, um cool zu wirken und hätte dann wahrscheinlich angefangen, zu erläutern: Ja, das ist unser Bild von Kunst… so irgendwie… aber das wäre wirklich Bullshit. Es ging mir nur um eines: Ich wollte diese Geschichte erleben, weil sie mir im ersten Moment, als ich sie im Kopf hatte, sehr erlebenswert erschien. So nach dem Motto: Das möchte ich sehen. Wenn es das schon gäbe, würde ich das Buch kaufen oder mir den Film anschauen. Da es aber noch nicht existiert, muss ich es irgendwie selbst machen. Das ist halt dieser DVD-Player im Kopf.