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  •  © Matthias Heschl
    Foto von der Premiere am Schauspielhaus in Wien am 30. Sept. 2020
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ÜBER DAS STÜCK


RECHTE
Verlag: Suhrkamp Theater Verlag
Übersetzer des Stückes ins Russische: Roman Eiwadis 

E-MAILINTERVIEW MIT MIROSLVA SVOLIKOVA ZU RAND

Die Fragen stellten Anna Hirschmann und Lucie Ortmann.
Das Interview erschien im Magazin Schauspielhaus Wien Nr. 1 20/21, S. 10–11. www.schauspiehaus.at 

Die Uraufführung von „Rand“ konnte wegen des Lockdowns nicht wie geplant Ende April stattfinden. Nun eröffnen wir die neue Spielzeit mit deinem Stück. Hat sich der Rand in den vergangenen Monaten verschoben?
die situation hat sich aufgrund der wirtschaftskrise für viele sicher massiv verschlechtert und missstände sind sichtbar geworden, die strukturell aber längst da waren. insgesamt hat man das gefühl, dass im moment viel in bewegung ist, dass sich die ganze zeit etwas verschiebt, in den blick der öffentlichkeit rückt, strukturelle missstände gegen marginalisierte gruppen etwa, machtmissbrauch.

Du beschreibst im Stück verschiedene Settings der Beobachtung und der Kontrolle. Stehen die Soziolog*innen und die Polizist*innen folglich für die Mitte?
es beobachten nicht nur die soziolog*innen und die polizei die anderen figuren. das publikum beobachtet genauso, und genauso wird das publikum beobachtet. das publikum ist einmal die mitte und dann selbst der rand, die ritze; das wechselt alles. das sind positionen, die ständig verschoben werden. aus dieser verschachtelung ergibt sich die absurdität des texts. permanente beobachtung in kombination mit datenspeicherung, big data sind aktuelle themen, die, glaube ich, in zukunft noch viel stärker in den fokus rücken werden. die, die angeschaut werden, blicken zurück. foucault beschreibt das mit dem bild der sichtbarkeit. die hat sich ausgeweitet vom könig auf das volk, das davor nie in dem maße erfasst oder sichtbar war.

Besonders brutal sind die Lebenswelten der Tetrissteine, die nur innerhalb des Displays existieren, aber auch die des letzten Einhorns, das gejagt und missbraucht wird. Ist das Schicksalsergebenheit oder ist tatsächlich kein Heraustreten aus diesen Gefügen möglich?
in der begrenzten realität der tetrissteine ist das wohl einfach so. wobei das auf alle figurengruppen in gewissem grade zutrifft, dass sie den ihnen zugewiesenen rahmen nicht verlassen, und dann aber doch heraustreten aus ihrer rolle. diese fragen stellen sich so wohl erst durch eine psychologisierung der figuren. ich denke an eine szene bei den simpsons, in der sich homer mit einem hummer anfreundet und ihn gleichzeitig aufisst, weil er einfach so gut schmeckt. das ist doch furchtbar brutal. andererseits ist es nur eine zeichentrickserie. ich denke, humor bewegt sich immer an irgendeiner grenze. wenn man nicht ganz einordnen kann, worüber genau der humor reinkommt, dann ist das vielleicht ein zeichen dafür, dass sich irgendetwas entzieht. und dadurch vielleicht funktioniert. 

Welche Rolle spielt der Körper dabei?
wenn wir nur körper wären, dann wären wir als menschen tatsächlich gefangen, im kreislauf der reproduktion, im wiederholungszwang der arterhaltung — die tetrissteine sind gewissermaßen darin gefangen, reflektieren das dann aber fast schon metaphysisch. das macht eine diskrepanz auf, auf die man mit humor reagieren kann, die aber vielleicht auch unbehagen auslöst. irgendwie kommt das aus der abendländischen tradition, einerseits die unsterbliche seele und auf der anderen seite der komplett fehlbare körper. die gegenwart dreht es um, nachdem es kein jenseits mehr gibt, wird der körper zum tempel, aber ganz kann man das unbehagen nicht losbekommen, dass der körper trotz lauter gegenwart brutal fehlbar ist. man kann seine eigene endlichkeit nur radikal akzeptieren, das machen die tetrissteine und setzen uns damit eine art zerrspiegel vor (wie ein display, wo dann die augen wehtun).

Was bedeutet Gewalt, Splatter für dich? Welches Potenzial verbindest du damit?
zunächst ist die nicht ganz ernst gemeinte gewalt einfach ein teil, den man mit ausschöpfen kann, wenn es ans eingemachte gehen soll. und bei einem absurden stück, in dem kein inhalt abgerollt wird, braucht es irgendein extrem, vielleicht, um das absurde wieder im realen zu erden, also im vorgestellten realen, im verwundeten körper. weil letztlich ist nichts realer als der verwundete körper, auch wenn das dann wieder komplett überhöht nur als splatter stattfindet. sobald ich blut sehe, und wenn es nur theaterblut oder farbe ist, sobald ich den verwundeten körper sehe, wirft mich das auf meine eigene körperlichkeit als zuschauer*in zurück. also wird irgendwie das abstrakt-vergeistigte wieder im körper geerdet. es ist am ende wohl eine sehr theatrale art, den körper wieder hineinzuschreiben in so ein abstraktes geschehen.
 © Matthias Heschl
Zahlreiche Figuren scheinen aus dem Kinderzimmer zu stammen. Auch die Sprunghaftigkeit des Stücks könnte mit kindlicher Fantasie assoziiert werden. Arbeitest du mit archetypischen Anlagen?
mit archetypischen anlagen arbeite ich auf jeden fall oft. bei meinen anderen stücken geht das eher in eine mythologische richtung, wie mit dem europamythos, oder ich arbeite mit sprechenden symbolen wie dem stern, dem regenbogen und so weiter, das ist hier beim einhorn am ehesten der fall. in diesem stück ist aber eine spur mehr populärkultur drinnen, also mickey mouse, tetrissteine und eine ganze reihe actionfilme. im mittelalter gab es die vorstellung, dass die welt eine scheibe ist, von der aus man leicht in den von ungeheuern bevölkerten abgrund fällt. das einhorn ist ein mittelalterliches fabelwesen; man hielt den stoßzahn des narwals für dessen horn, dem man magische wirkung zuschrieb. im stück wird das einhorn gejagt, die kakerlaken harren ihrer vernichtung, der priester sucht gott im zuschauerraum, dann kommt die feuerwehr, der terrorist und die tetrissteine reiben sich aneinander. das ist eher ein figurenpotpourri, ich denke, das kommt nicht aus einem bestimmten raum. ich sehe mich da in der tradition absurder und symbolistischer verfahrensweisen, die filme von buñuel passen da auch sehr gut. außerdem ist das theater selbst immer wieder thema, der augenblick, und situationskomik. im absurden löst sich etwas auf, die ordnung, sicherheiten und gewissheiten des alltags. der rand ist auch der rand der gewissheit, der rand des bewusstseins, der vorhersehbarkeit. am rand ist auch der abgrund, da ist das andere. das ist im prinzip der rand, wo man nicht runterfallen will, aber irgendwie ist man mit einem fuß schon drin. der abgrund ist teil der menschlichen existenz.

Du hast über die Figuren in „Rand“ gesagt, dass sie nichts aushandeln (können), weil sich Kommunikation auf einen geteilten Kontext beziehen muss, um zu funktionieren. Aber müssten nicht — ​im Austausch miteinander und als ständiger Versuch — ​gemeinsame Kontexte immer wieder neu erzeugt werden? Wäre das ein Ausweg aus der Dichotomie von Rand und Mitte?
der kontext ist das stück. in der unmöglichkeit des verhandelns ergibt sich schließlich ein ganzer abend. verhandelt werden themen wie teilnahme, ausschluss, gemeinschaft, perspektive und narration. oder sie werden nicht verhandelt, sie kommen einfach auf die bühne und winken und verhandeln sich selbst.

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