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Welchen Preis sind wir bereit für radikale Kontrolllosigkeit zu bezahlen?

Im letzten Jahrzehnt entstanden (und verschwanden) in Russland mehrere Selbstorganisationen, sei es artist-run spaces, unabhängige Galerien, Kuratorenwerkstätte oder hybride Kulturräume an der Grenze zwischen Kunst und Aktivismus. Einige von ihnen mussten schließen, weil sie mit finanziellen Schwierigkeiten, Nachlass der Begeisterung oder gar politischem Druck konfrontierten, andere fingen an, die Strukturen und Aufgaben großer Institutionen, denen sie am Anfang entgegengesetzt waren, wiederherzustellen. Bleibt in den selbstorganisierten Gemeinschaften Lebenspotenzial und was kann man aus den Erfahrungen der abgeschlossenen Projekte lernen?

Von Kyrill Rozhentsov

Kyrill Rozhentsov sprach mit dem unabhängigen Kurator und Initiator von blind spot in Moskau und Basel Ivan Isaev über institutionelle Experimente, über die Notwendigkeit, sich den Impulsen des Markts zu entziehen, und darüber, wie wichtig es ist, verwundbar zu sein und auf langes und glückliches Leben nicht zu hoffen.

Der Beitrag wurde von syg.ma im Rahmen von „Raum für Kunst“, einem Gemeinschaftsprojekt des Goethe-Instituts Moskau und des MMOMA, vorbeireitet.

Was ist eine künstlerische Selbstorganisation?

Man kann hier beim Wort selbst ansetzen. In Russland erwachsen solche Organisationsformen in der Regel aus Studentenkreisen, also aus einer bereits existierenden Gruppe von Menschen, die irgendein gemeinsames Ziel verfolgen. Doch natürlich sind Selbstorganisationen nicht allein auf solche Fälle begrenzt, sondern können auch aus anderen Kreisen entstehen. Das Präfix „Selbst” steht aber auf jeden Fall für eine Basis-Initiative.

War es so bei dem Atelier „Triangle”, das du zusammen mit Kommilitonen bei „Elektrosawod“ gegründet hast?

Ja, die Gründung verlief geradezu organisch. Wir waren Studenten der Fakultät „Kritik und kuratorische Betreuung in der Gegenwartskunst“ am UNIK (Institut für Kulturgeschichte – Anm.d.Übs.), die dann unerwartet geschlossen wurde. Wir wollten aber die gemeinsame Entwicklung nicht aufgeben, wollten selbstständig weitermachen, und als Arseni Schiljajew vorschlug, ein Atelier anzumieten, war das einfach ein logischer Schritt, denn im Gegensatz zu Künstlern haben Kuratoren üblicherweise keine Ateliers – ein Umstand, über den wir viele Witze machten. Wir mussten dafür auch erstmal einen neuen Begriff finden. Und so begannen wir darüber nachzudenken, was solch ein Kuratorenatelier überhaupt sein könnte und wie sich darin Projekte vorbereiten und realisieren lassen könnten.

Mir gefiel die Vorstellung, dass dieses Atelier ein Ort sein könnte, an dem Diskussionen beginnen und wohin Menschen für Gespräche eingeladen werden, ein Ort für Portfolio-Reviews, zum Lesen und Schreiben oder auch als Treffpunkt für Reading Groups. Und natürlich war es für die meisten von uns einfach verlockend, einen Raum für Ausstellungen zu haben. Solch ein Ort bahnte sich letztendlich auch an. Bei „Elektrosawod“ existierten wir zwei Jahre lang, dann ergaben sich leider wirtschaftliche Probleme, und die Leute konzentrierten sich mehr auf eigene Projekte. Die Lebensenergie, die den Ort zu Beginn noch ausgezeichnet hatte, verschwand damit.

Dein nächstes Projekt war blind spot in Moskau. In was unterschied es sich von „Triangle“? Könnte man hier von einer Art Evolution deiner Ansichten und Arbeitsweise sprechen?

Nein, ich würde „Triangle“ und blind spot eher nicht als Etappen einer Evolution bezeichnen. Die beiden Institutionen sind grundverschieden, mit unterschiedlichen Gemeinschaftsstrukturen, Zielen und Modalitäten. Mich interessieren einfach institutionelle Experimente, das ist einer der Schwerpunkte meiner Arbeit als Kurator. Was in beiden Projekten ähnlich ist, ist die Tatsache, dass ich idealistisch betrachtet weder in „Triangle“ noch in blind spot jenen Horizont gesehen habe, den ich erreichen möchte – wie die Ziellinie eines Marathons, über die ich laufen möchte. Zweck dieser Projekte war eher, Leben zu ermöglichen, das man unter anderem auch als künstlerisch bezeichnen könnte. Ein wichtiger Unterschied zwischen den beiden Projekten ist die Zielsetzung: das Kuratorenatelier hatte ein praktisches Ziel, blind spot ein ethisches. Ich wollte eine Alternative aufzeigen und ein Beispiel für eine Form bieten, die von Institutionen noch nicht genutzt wird, die aus ethischer Sicht aber wichtig sein könnte.

Nach einer aktiven Saison bei „Winsawod“, wo ich am Projekt „START“ gearbeitet hatte, waren mir weder viel Enthusiasmus noch Kraft geblieben; dennoch bewarb ich mich beim EUNIC-Programm für junge Kuratoren, gewann einen Forschungsaufenthalt und bin nach Hamburg gefahren, wo es allerdings eine Erwartungs-Dissonanz zwischen den Organisatoren und mir gab: sie gingen nicht davon aus, dass jemand einfach kommen und sich rein zum Vergnügen mit eigenen Studien beschäftigen könnte. Im Vertrag stand, dass die Teilnehmer des Programms ihren Aufenthalt zur Inspiration nutzen und sich ein Projekt ausdenken sollten, um dessen Realisierung sie in „Kuratorenwettbewerben“ konkurrieren sollten. Das ist eine typische Situation aggressiver neoliberaler Logik, einhergehend mit universeller psychologischer Untergrabung: menschliche Tätigkeit wird hier eher quantitativ als qualitativ beurteilt und Bildung wird als Geschäftsprojekt betrachtet. Solch eine Einstellung lässt das Wissen um Hintergründe schwinden, und die Menschen verstehen immer weniger, was um sie herum geschieht. Das wiederum führt zum Beispiel dazu, dass Donald Trump Präsident werden kann: ein reicher Mann mit Erfolg, der beständig an Macht gewinnt und alles hinwegfegt, was ihm auf seinem Weg begegnet. Während der Vorbereitungsarbeiten für blind spot, womit ich übrigens den Wettbewerb gewonnen habe, bin ich auf ein wunderbares Video von Vice News gestoßen, in dem Trump das Wort „Milliarden“ etwa hundertmal ausspricht. Diese „Milliarden“ werden zur Beschwörungsformel, um ein Publikum zu beeindrucken, das großen Zahlen mit Ehrfurcht begegnet. Die Logik dreht sich hier im Kreis und es entsteht ein Monster. Deshalb war es mir so wichtig - den Organisatoren der „Kuratorenwettbewerbe“ zum Trotz und als Gegengewicht zum neoliberalen System - ein anderes ethisches System zu zeigen: ein System, das wie ein Gegenpol auf den Werten Schwäche, Passivität, Kontemplation und Ziellosigkeit beruht.

Deshalb war es mir so wichtig, ein anderes ethisches System zu zeigen: ein System, das wie ein Gegenpol auf den Werten Schwäche, Passivität, Kontemplation und Ziellosigkeit beruht.

Was steckt in blind spot?

Am Anfang habe ich mich vor allem auf zwei Stränge konzentriert. Erstens haben mich Projekte gereizt, die wirtschaftliche Beziehungen zwischen Menschen alternativ gestalten, indem sie die Transaktionszahl minimieren und Ressourcen auf unentgeltlicher Basis verteilen, wie z. B. Foodsharing. Inspirierend fand ich auch die Aktionen von „Flying Cooperation“: sie brechen das System mit Hilfe von Gesetzeslücken auf und ermöglichen Menschen, weniger zu arbeiten, ohne dafür zu bezahlen. Bekannt ist zum Beispiel ihr Projekt zur Vermeidung der weißrussischen Steuer auf Nichtstun: sie gründeten einfach eine fiktive religiöse Organisation, deren Mitgliedern es theoretisch möglich war, diese Steuer nicht zu bezahlen.

Zweitens wurde der Begriff „Mumblecore“ für mich zu einer Art Schlüsselwort. Er bezeichnet ein Genre des amerikanischen Independentfilms, das ohne ereignisorientiertes Motiv auskommt und stattdessen Menschen zeigt, die einfach im Bild sitzen und sich um Dialoge, Formulierungen und die Lösung ihrer Probleme bemühen – meist ohne jeden Erfolg. Heraus kommt vor allem ein Haufen leeres Geschwätz, bei dem die Schauspieler außerdem oft improvisieren und die Handlung direkt vor der Kamera entwickeln. Als ich davon gelesen habe, wurde mir sofort klar, dass „Mumblecore“ die perfekte Überschrift und Zusammenfassung dessen ist, was mich an Kunst interessiert. Das sind zum Beispiel Aktionen von Kirill Savchenkov oder „Silent dialog on revolution“ von Katya Vassiljeva und Hanna Zubkova und, oder auch die Ausstellung von Kirill Tulin „Help for the stoker of the central heating boiler“ in Tallin, für die er ein Heizwerk direkt im Museum für zeitgenössische Kunst aufgebaut hat. Also Projekte, die eine kommunikative Situation generieren und bei denen das Gesprächsmoment das wichtigste Medium und Arbeitsmittel ist, oftmals übrigens ohne Ziel. Dieser Begriff entspricht in phantastischer Weise dem Dispositiv von Schwäche, Ergebnislosigkeit und Passivität.

 

Projekte, die eine kommunikative Situation generieren und bei denen das Gesprächsmoment das wichtigste Medium und Arbeitsmittel ist.

Natürlich war das aber noch nicht alles: blind spot war offen für alle Projekte, so lange sie die propagierten Werte teilten. Ich nahm in diesem Experiment die Position eines „schwachen Kurators“ ein und entschied mich gegen ein Vetorecht für mich – und damit gegen das stärkste Instrument für Macht und Hierarchie. In einer schwachen Institution müssen Struktur und Hierarchie aufgeweicht werden. Viele Initiativen, die ursprünglich gar nicht eingeladen waren, bekundeten von selbst den Wunsch, Teil von blind spot zu werden und flossen dann sehr organisch in die Geschichte ein. Wichtig ist hier, dass von Anfang an alles auf unserem Wertefundament aufbaute. Großformatige Institutionen halten sich meist mit anderen Parametern auf, die intern wichtig zu sein scheinen, wie Besucherzahlen, notwendige Events, oder Dinge, die die Institution mit Leben füllen sollen – und dabei vergessen sie, was einmal den Impuls zu ihrer Entstehung gegeben hat. Der Leitung ist es dann nicht mehr wichtig, ob ihre Tätigkeit irgendetwas in der Welt der Kultur verändert und ob sie noch den Werten entspricht, die sie sich ganz zu Anfang auf die Fahnen geschrieben hatte. Irgendwann ist es dann so weit, dass sie immer und immer wieder nur dasselbe wiederholen. Für mich war in erster Linie das Fundament wichtig. Die Metapher vom Haus ist zwar abgegriffen, weil sie überdeutlich ist, aber hier drängt sie sich einfach auf: die Werte, die dem Bau zugrunde liegen und das Fundament bilden, sind in solchen Fällen nach Inbetriebnahme des Hauses nicht mehr sichtbar und kaum jemand bemerkt sie, während die Bewohner, Gäste und Verwalter des Hauses ihre Aufmerksamkeit nunmehr vor allem auf die Instandsetzung der Wände richten, auf die Farbe des Anstrichs, die Möblierung oder hin und wieder auch auf die Versorgungsleitungen, wobei das Fundament völlig in Vergessenheit gerät. Bei einer ethischen Institution dagegen muss das Haus körperlich subtil und halbdurchsichtig sein, so dass das Fundament niemals aus dem Blickfeld verschwindet.

Als ich z. B. über einen Zeitplan für die Projekte nachdachte, wurde mir klar, dass es gar nicht nötig ist, die dramaturgische Arbeit eines Kurators zu imitieren und der zeitlichen Abfolge der Ereignisse von oben herab eine Struktur zu geben. Den Werten von blind spot entsprach es viel mehr, den Künstlern vorzuschlagen, ihre Projekte dann vorzustellen, wenn es für sie passend ist, ganz ohne Konstrukt von Meta-Sinn oder Dramaturgie. Und so waren wir eine „schwache“ Institution, die nicht einmal ihren eigenen Zeitplan kontrollieren konnte. Künstler sind notorische Prokrastinatoren, und so verzögerten sich die Arbeiten; die Fertigstellung des Projekts gab den Arbeitsrhythmus vor, und dieser wurde immer schneller. Etwa vierzig Prozent aller Initiativen, die zur Teilnahme eingeladen waren oder sich selbst angeschlossen hatten, wurden in der letzten Woche realisiert. Es war absolut überwältigend, die stetig steigende Intensität zu spüren, als gleichzeitig Künstler aus Paris, Sankt Petersburg und Tallin einflogen. Diese Begegnung in der Gemeinschaft und die gemeinsame Zeit gehören zu den inspirierendsten Erfahrungen von blind spot.

So waren wir eine „schwache“ Institution, die nicht einmal ihren eigenen Zeitplan kontrollieren konnte.

Worin besteht deiner Meinung nach der Unterschied zwischen einer Selbstorganisation und einer Institution? Im kürzlich bei uns veröffentlichten Interview grenzt Elena Ischenko die beiden Formen zum Beispiel so voneinander ab: die erstere ist ein experimentelles und laborartiges Format, bei dem Kunst weniger für ein Publikum entsteht, sondern vielmehr für die Künstler selbst und für Gleichgesinnte; letztere dagegen bedient ein breiteres Spektrum und kann beispielsweise Bildungsaufgaben wahrnehmen.

Teilweise stimme ich dem zu, obwohl das eine recht idealistische Sichtweise ist. Kleiner bedeutet nicht zwangsläufig experimenteller, so läuft das nicht. Künstlerische Selbstorganisationen können auch ausgesprochen traditionell sein – zum Beispiel, wenn mehrere Maler gemeinsam einen Raum mieten, dort Ausstellungen organisieren und ihre Bilder verkaufen. Von experimentell kann da wirklich keine Rede sein, der Raum fungiert dann ganz normal als Salon. Und doch wird es dem Begriff der Selbstorganisation gerecht, denn die Künstler haben das Projekt mit eigenen Mitteln begonnen. Eine Selbstorganisation muss nicht unbedingt ein Labor sein. Andererseits müssen Selbstorganisationen nicht einmal unbedingt mit Kunst zu tun haben. Sehr oft entstehen sie aus sozialen Initiativen und existieren in einem Hybridzustand, wobei ihre Tätigkeit nur teilweise in den Bereich der Kunst fällt – und in dieser Rolle erlangen sie kulturelle Bedeutung.

Ob ein Format als experimentell bezeichnet werden kann, hängt größtenteils von externen Kriterien ab. Verdient zum Beispiel ein Projekt, das Nahrung an Flüchtlinge verteilt, die Bezeichnung „experimentell“ im künstlerischen Sinne, wenn solche Projekte in den 80er Jahren existiert, sich aber nie als künstlerische Erscheinung positioniert haben? Gerade darin besteht doch dieser Hybridzustand, wenn die Tatsache der Zugehörigkeit zur Kunstwelt selbst gar nicht mehr so wichtig ist. Genau dann passiert Interessantes und Bahnbrechendes: wenn Kunst nicht mehr daran gebunden ist, sich als solche zu begreifen.

Hochinteressant ist auch das Thema, wann eine Selbstorganisation institutionelle Formen annimmt. Da gibt es zum Beispiel das Kulturhaus DK „Delaj Sam/a“, eine sehr typische Selbstorganisation, in der Menschen den Dingen, die ihnen sozial oder ethisch wichtig scheinen, eine Plattform bieten. Irgendwann aber wurde das Projekt bekannt und begann, wie eine Institution zu funktionieren. Wann immer eine Selbstorganisation kulturell oder gesellschaftlich sichtbar wird, wird sie als Schnittstelle betrachtet, ob sie will oder nicht. Ist doch eine Institution auch nichts anderes als ein Mechanismus, der den Lauf von Ereignissen und Prozessen synchronisiert und verwirbelt und sie dabei auch initiiert und in Bezug auf sich selbst ausrichtet. Und allein dieser Umstand verschafft ihr einige zusätzliche Möglichkeiten.

Eine Institution ist nichts anderes als ein Mechanismus, der den Lauf von Ereignissen und Prozessen synchronisiert und verwirbelt und sie dabei auch initiiert und in Bezug auf sich selbst ausrichtet.

Ich habe blind spot bewusst als Institution positioniert, um in einem neuen ethischen Dispositiv zu zeigen, wie eine Institution im Prinzip funktionieren kann, ohne sich der Logik des Marktes zu unterwerfen, die da vorgibt, dass jeder Geschäftsprozess immer mehr einbringen muss. Diese Logik bestimmt allerdings die Tätigkeit von vielen Initiativen, insbesondere dann, wenn sie von externen Geldmitteln abhängen. Denn sogar staatliche Fonds interessieren sich für Mengenparameter, wenn sie Gelder für Kunstprojekte zur Verfügung stellen: Besucherzahlen, Anzahl von Events etc. Und selbst wenn wir unserer Initiative eine einigermaßen selbstorganisierte Form geben und unseren Verzicht auf Interesse an Wachstum und langfristiger Existenz proklamieren, ist diese Initiative doch eine öffentliche Institution, ob uns das nun gefällt oder nicht.

In Moskau wurde blind spot mit Geldern des Goethe-Instituts realisiert, nicht wahr? Und jetzt arbeitest du an einem ähnlichen Projekt in Basel im Rahmen von CURATOR IN RESIDENCY. Wurde da nicht die Einhaltung irgendwelcher Mengenparameter gefordert?

Die Mittel stammten nicht nur vom Goethe-Institut, sondern von allen Kulturinstitutionen, die in dem Jahr bei EUNIC mitgemacht haben. Ich habe in Moskau ein Modell meiner Institution vorgestellt und es war klar, dass ich die Gelder genau dafür ausgebe. Genauso ist das hier in Basel: ich habe ein Budget für ein Projekt, bin aber in keinster Weise eingeschränkt. Das ist eine Mischform: wir bekommen Geld, doch es wird nichts von uns gefordert, wir sind sehr frei. Ganz wichtig ist es meiner Meinung nach, dass wir nicht erwarten, die Gelder nochmals zugesprochen zu bekommen. Subventionssysteme bringen Institutionen dazu, Finanzmittel wieder verdienen und erzielen zu müssen. Aber hier wird das gar nicht eingeplant: es werden Gelder zur Verfügung gestellt und wir können so darüber verfügen, wie wir wollen. Der Fokus von meiner Arbeit hier liegt noch mehr auf dem Erlebnis der Begegnung einer Gemeinschaft, also genau darauf, was mich am Moskauer blind spot so sehr inspiriert hat.

In Russland war es mir wichtig, ein Exempel zu statuieren mit einer kurzlebigen Institution, die nicht versucht, größer zu werden, in der Hoffnung auf ein glückliches Leben in ständigem Wachstum. Viele Selbstorganisationen erleben diesen Sündenfall, nicht nur „Garage“ und V-A-C: sie bauen riesige Häuser und entwickeln ihre eigene Marke. Ganz bekannte Vertreter für Selbstorganisationen in der Kunstszene sind dieser Logik gefolgt. Die Galerie „Elektrosawod“ zog es zu zum Beispiel vor, ihre Marke zu behalten, obwohl sie ausziehen musste aus dem Werk, das ihr den Namen gab; sie betrachtete sich als eine Art Institution, die für ein bestimmtes Ausstellungsformat und bestimmte Aktivitäten steht. Das Zentrum „Krasnyj“ versuchte das bürokratische System großer Institutionen nachzuahmen und arbeitete mit Expertenrat und Anträgen für Projekte. Das ist übrigens ein wichtiger Unterschied zu „Triangle“, denn im Kuratorenatelier brauchte niemand die Zustimmung der anderen Teilnehmer – und schon gar nicht einer „Mehrheit“. Jeder von uns konnte jederzeit ein Projekt beginnen, sofern der betreffende Zeitraum im Kalender noch frei war. Im „Krasnyj“ dagegen wurde jede Ausstellung von einem Rat koordiniert. Dabei liegt doch der grundlegende Vorteil von selbstorganisierten Initiativen in dieser unglaublich großen Flexibilität, mit der sie sofort auf aktuelle Ereignisse reagieren können.

Als Gegengewicht zu solchen Wachstumsbestrebungen wollte ich das Format einer kurzfristigen Institution vorstellen, die nach zwei Monaten ihre Existenz einfach wieder einstellt. Wirtschaftlich betrachtet ist es beispielsweise sinnvoller, keinen ständigen Raum zu halten und Miete zu zahlen, sondern einmal im Jahr für kurze Zeit einen Raum anzumieten und die größtmögliche Anzahl von Veranstaltungen dort unterzubringen. Dann muss man nicht das Gefühl haben, der Raum stehe leer und koste sinnlos Geld; und wenn man genügend gespart hat, kann man an einem anderen Ort wieder auftauchen und etwas Ausgereiftes und Bedeutsames präsentieren. Auch politisch ist das nicht unwichtig. DK „Delaj Sam/a“ und die Galerie „Red Square“ hatten zum Beispiel Schwierigkeiten mit dem Vermieter eben wegen des politischen Rufes ihrer Tätigkeit. Im zweiten Fall hat die Institution das nicht überlebt. DK „Delaj Sam/a“ hat sich unstrukturiert, doch der notwendige Umzug brachte viele Probleme. Trotz finanzieller Unterstützung war die Existenz des Projekts gefährdet.

Entwickelt eine Institution Wurzeln, so aktiviert dies ihre Selbstzensur, denn unwillkürlich fängst du an, dich umzusehen, was passieren kann, wenn du tust, was du willst und für nötig hältst. Geht die Institution aber nach zwei Monaten sowieso den Bach runter, weil sie zu schwach ist, um lange zu überleben, kommt Selbstzensur gar nicht erst auf. Du stirbst sowieso und kannst tun, was immer du willst, frei von Angst um deine Wohnung. Und solch ein Beispiel musste ich in Moskau zeigen.

Geht die Institution nach zwei Monaten sowieso den Bach runter, weil sie zu schwach ist, kommt Selbstzensur gar nicht erst auf.

Und wie sieht es mit Selbstorganisationen in Basel aus? Welchen Einfluss hat ihre Situation auf das, was du realisieren möchtest?

Hier gibt es viele solcher Initiativen auf Zeit; sie mieten Räume in Gebäuden, die gerade renoviert, umgebaut oder neu gebaut werden. Ist ein Haus zum Beispiel schon in Betrieb, aber die untersten Etagen sind noch nicht verkauft, dürfen Künstler dort für eine gewisse Zeit einziehen. Ich habe die Karte eines lokalen Off-Space-Festivals gesehen und festgestellt, dass die Hälfte der Institutionen, die noch vor ein oder zwei Jahren daran teilgenommen hatten, schon gar nicht mehr existiert. Das Aufkommen und die Entstehung von solchen Orten ist hier die Regel. In Basel etwas zu veranstalten, was die Kurzlebigkeit als Experiment manifestiert, ist also Unsinn. Meine neue Institution soll deshalb obdachlos sein, quasi in der Atmosphäre schweben oder schwimmen. Obdachlosigkeit macht eine Institution traditionell betrachtet noch verwundbarer; in der Entwicklung der Schwäche als Wert ist sie eine logische Folge. Ich denke, in dieser Phase möchte ich vor allem interessante Menschen zusammenbringen. Eine Reproduktion der üblichen Messpunkte wie Ausstellungen, Projekte, Künstler und Kunstwerke interessiert mich nicht – egal wie performativ, innovativ oder was auch immer sie sein mögen. Ich sage es nochmal: mir geht es darum, die Begegnung einer Gemeinschaft zu initiieren und zu beobachten, was daraus entsteht. Die Baseler Variante von blind spot ist für mich vergleichbar mit einem Lager von Nomaden, die recht unvorhersehbar durch die Stadt und das Umland ziehen. Unregelmäßig.

Abgesehen von der Obdachlosigkeit wäre mir wichtig, den Alltag in Basel aus seiner Form totaler Ordnung und perfekter Planung herauszuklopfen. Als Gegengewicht zur allgegenwärtigen hypertrophierten Normativität würde ich gern einen Chaos-Virus einschleusen, der diese Ordnung nach und nach zersetzt. Außerdem muss unbedingt die Destigmatisierung von Schwäche, Kraftlosigkeit und Müßiggang proklamiert werden. In einer kapitalistischen Gesellschaft mit protestantischer Ethik gelten diese Eigenschaften als peinlich und unwürdig. Doch auch eine schwache und untätige Existenz, losgelöst von Wettbewerb, Produktivität und Arbeitsfähigkeit, muss als würdig akzeptiert werden. Die Minimierung persönlicher Pollution kann eine wichtige konsequente ethische Wahl sein.

Unbedingt muss die Destigmatisierung von Schwäche, Kraftlosigkeit und Müßiggang proklamiert werden.

Eine kleine Blase der Ziellosigkeit ist der Salon des Müßiggangs (Salon of Idleness), der im Rahmen des Baseler blind spot offensteht. Dies ist ein Raum für zielfreie Gestaltung von Zeit sowie für Essen, Gespräche und Treffen der Projektfamilie. Solch einer engen Gemeinschaft, wie sie sich in der Zeit seit Beginn von blind spot herausgebildet hat, wird der Begriff „Auditorium“ nicht gerecht, auf den sich andere Institutionen fokussieren. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist noch, dass die Mittel, die für das Projekt bereitgestellt wurden, hauptsächlich für Fahrkarten für die Mitwirkenden sowie für gemeinsames Essen und den alltäglichen Bedarf ausgegeben werden. Glücklicherweise ist die Aufenthaltsdauer von vielen hier nicht vorab definiert, und keine Aktivität ist obligatorisch: gerade jetzt haben zwei Teilnehmer, die hier leben, noch keine Rückfahrkarten oder konkrete Pläne. Wir verbringen einfach Zeit zusammen.

Um zu überleben und sich der vom Markt diktierten Logik der Reproduktion zu entziehen, muss eine Selbstorganisation offenbar beständig mit ihrer Struktur experimentieren – bis hin zu Selbstvernichtung und Neuaufbau. Unterscheidet sie das von einer Institution?

Wahrscheinlich schon. Ein Neuaufbau hat mit ständiger kritischer Selbstreflexion und dem Vermeiden von Marktimpulsen zu tun. Im ursprünglichen Sinne ist eine Selbstorganisation aber einfach etwas, was organisch aus einer Gemeinschaft erwächst. Menschen kommen zusammen, machen etwas gemeinsam und beginnen, ihre Aktivitäten zu strukturieren. Und schon entsteht eine Selbstorganisation. Ich denke, da gibt es auch keine Dichotomie: sobald Prozesse synchronisiert werden, sobald eine Selbstorganisation beginnt, in der Öffentlichkeit zu agieren und dort sichtbar zu sein, trägt sie schon Merkmale einer Institution.

Sobald eine Selbstorganisation beginnt, in der Öffentlichkeit zu agieren und dort sichtbar zu sein, trägt sie schon Merkmale einer Institution.

Außerdem finde ich, dass Selbstorganisationen gar nicht zu sehr romantisiert werden sollten; es wäre interessant, der Frage nachzugehen, warum allein schon der Begriff der Selbstorganisation im russischen Kontext zur Marke und zum Lockmittel wird. Warum heben wir das, was sich Selbstorganisation nennt, besonders hervor und räumen ihm zumindest in Bezug auf soziale Beziehungen Privilegien ein? Wie vermeiden wir es, uns die Analyse zu leicht zu machen? Denn eine Institution wird ja nicht nur über ihre Form definiert, doch ihr ethisches Fundament und die Ziele, die ihr zugrunde liegen, sind nicht immer offensichtlich. In einer Zeit kolossaler Ungleichheit hinsichtlich vorhandener Ressourcen und einer deutlichen Kluft zwischen Besitzenden und Nicht-Besitzenden gibt es einerseits den verständlichen Wunsch, schwache unabhängige Initiativen zu unterstützen und in ihnen a priori eine Alternative zu sehen; doch andererseits können diese Initiativen aufgrund ihrer Zerbrechlichkeit leicht der Versuchung erliegen, sehr konservativ einfach den Status quo aufrechtzuerhalten.

Großen Institutionen kommt eine Ordnung, in der unabhängige Räume und ihr Kulturbeitrag leicht „einzukalkulieren“ und billig „einzuladen“ sind, sehr entgegen, können sie doch so deren kulturelles Kapital de facto für ihre eigenen Interessen benutzen. Erinnern wir uns denn an irgendwelche Fälle von „Kollaboration“ zwischen russischen Selbstorganisationen und Major Institutions, die den Institutionsdiskurs, die Ungleichheit und das faktisch existierende Monopol von Kapital für den Kultursektor kritisch aufgewühlt oder wenigstens zur Sprache gebracht hätten? Das Kultivieren von Selbstorganisationen, die nach dem Vorbild größerer Museen oder „Zentren für Gegenwartskunst“ aufgebaut werden, kann wohl kaum zu einer alternativen Ordnung führen. Wenn aber zum Beispiel ein Netz aus marginalen dilettantischen Subkulturprojekten entsteht, die vom Institutionsradar praktisch gar nicht erfasst werden können und die nicht voneinander abhängig sind, wäre das schon eher eine Chance.

Am wichtigsten ist, dass keine Form von Kontrolle existiert: keine Registrierung, keine Rechenschaft, Menschen, die selbst nicht zur Gemeinschaft gehören, sollte sie nicht einmal sehen können. Kapital kann sich nicht vorstellen, Mittel „einfach so“ zur Verfügung zu stellen, ohne zu verfolgen, wofür sie eingesetzt werden und welches sichtbare Ergebnis sie bringen. Doch lässt sich die alternative Kultur – im Gegensatz zur Kultur des Mainstreams oder der „Kultur des Status quo“ – eben nicht programmieren oder kultivieren. So wie es beispielsweise unmöglich ist, Matsutake-Pilze unter künstlichen Bedingungen anzubauen. Die Frage ist, was den Menschen im Allgemeinen und den Mitwirkenden solcher Initiativen im Besonderen radikale Kontrolllosigkeit wert ist; welchen Preis sind wir bereit zu zahlen?

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