Elena Ischenko: „Sich einfach nur selbst zu organisieren reicht heute nicht mehr“
Es ist noch gar nicht lange her, da schossen selbstorganisierte Künstlerinitiativen in Russland wie Pilze aus dem Boden. Im ganzen Land wurden unabhängige Kunsträume eröffnet, und die Moskauer Galerie „Elektrosawod“ oder das Zentrum „Krasnyj“ („Centre Red“) waren in aller Munde – weit mehr als große Institutionen mit traditionellen Ausstellungen. Nun hat sich die Situation offenbar radikal geändert: neue selbstorganisierte Kunsträume entstehen faktisch gar nicht mehr, und die alten haben ihre Avantgarderolle verloren.
Über die Geschichte von Künstlerinitiativen im modernen Russland, über die Gründe für die aktuelle Krise und über mögliche Strategien, diese zu überwinden, sprach Konstantin Korjagin mit Elena Ischenko, Mitbegründerin der Website aroundart.org und Hauptkuratorin des Zentrums für zeitgenössische Kunst „Tipographia“ (Krasnodar).
Dieser Beitrag wurde von SYG.MA für das Projekt „Raum für Kunst“, ein Gemeinschaftsprojekt des Goethe-Instituts und des Moskauer Museums für Moderne Kunst (MMOMA) erstellt.
Von Konstantin Korjagin
Beginnen wir doch mit der Definition. Worin besteht Ihrer Meinung nach heute der grundsätzliche Unterschied zwischen künstlerischen Selbstorganisationen und Kunstinstitutionen?
Selbstorganisationen assoziieren sich immer mit Experimentellem und damit, dass Dinge unter Laborbedingungen ausprobiert werden, dass ein bestehendes System nicht einfach hingenommen wird; es sollen neue Formen der Zusammenarbeit entstehen und neue, bislang unbekannte Künstler eingeführt werden. Institutionen dagegen setzen sich globalere Ziele: Bildung, Entwicklung einer Szene, Schaffung eines Kontextes. Institutionen wenden sich im öffentlichen Raum an ein breites Publikum und setzen immer einen „externen“ Rezipienten voraus. Bei Selbstorganisationen geht es um einen kleineren Personenkreis; alles, was sich entwickelt, entwickelt sich innerhalb einer definierten Gruppe. Beim Experimentieren geht es nicht darum, dem Publikum etwas zu zeigen, sondern es ist Selbstzweck für die Künstler und ihre Mitstreiter und für die gemeinsame Entwicklung.
Selbstorganisationen assoziieren sich immer mit Experimentellem und damit, dass Dinge unter Laborbedingungen ausprobiert werden, dass ein bestehendes System nicht einfach hingenommen wird.
Was Russland angeht, so habe ich den Eindruck, dass in letzter Zeit die Unterschiede zwischen künstlerischen Selbstorganisationen und Kunstinstitutionen verschwimmen. Eine Studie, die wir im Museum „Garage“ für die Ausstellung „Open Systems. Self-Organized Art Initiatives in Russia: 2000–2015“ durchgeführt haben, zeigt das sehr deutlich. In den Regionen geschieht es oft, dass aus einer Selbstorganisation irgendwann eine Institution wird. Wenn einfach keine Infrastruktur existiert, übernehmen selbstorganisierte Initiativen die Funktionen, die sonst ein Museum oder Zentrum für zeitgenössische Kunst erfüllen sollte. Initiativen wie das Zentrum für zeitgenössische Kunst „Tipographia“ in Krasnodar, in dem ich jetzt Kuratorin bin, oder auch das Woronescher Zentrum für Gegenwartskunst (wenn auch schon die Namen einen gewissen Anspruch auf institutionellen Charakter nahelegen) waren zu Anfang genau solche Kunstlabore, die sich dann aber weiterentwickelten und schließlich zu Plattformen wurden, auf denen Kunst institutionalisiert und einem breiten Publikum präsentiert werden kann. Auch die Uraler NCCA-Filiale ist aus selbstorganisierten Initiativen entstanden, aus Festivals, die in Werkhallen stattfanden, und aus Straßenkunst-Projekten.
Welche wichtigen künstlerischen Selbstorganisationen gab es in den vergangenen Jahren in Russland? Warum sind sie im modernen Russland entstanden und welche Ziele hatten die Künstler, die sie gegründet haben?
Die aktive Entwicklung von Selbstorganisationen begann kurz vor der Jahrtausendwende und dann nochmal einige Jahre nach 2010. Ich denke, das hing vor allem mit der politischen Atmosphäre zusammen, mit einer allgemeinen Hochstimmung; es schien plötzlich möglich, einfach irgendwo anzupacken und etwas zu verändern, endlich Klartext zu reden.
Während eine Institution immer eine gewisse interne Hierarchie voraussetzt, eine Subordination, setzte man in der Selbstorganisation auf horizontal organisierte Zusammenarbeit.
Die Künstler selbst hätten es vielleicht gar nicht so deutlich artikuliert, aber Ziel dieser Selbstorganisationen war es, alternative Arbeitsweisen und neue Formen der Zusammenarbeit zu entwickeln. Während eine Institution immer eine gewisse interne Hierarchie voraussetzt, eine Subordination, setzte man hier auf horizontal organisierte Zusammenarbeit. Bei einer Institution liegt der Fokus auf dem Endprodukt, dem Ergebnis künstlerischer Arbeit, doch in Selbstorganisationen ist es genau umgekehrt: wichtig ist der Prozess, wie Kunst entsteht, oder auch die Diskussion über moderne Kunst. Du kannst nicht an jedem beliebigen Tag ins Museum „Garage“ gehen und dir ansehen, wie eine Ausstellung aufgebaut wird oder wie ein Künstler denkt. Was aber an diesen Selbstorganisationen so phantastisch war, ist die Möglichkeit, ganz leicht in dieses Umfeld einzutauchen und Teil davon zu werden. Man musste sich um alternative Beziehungen und um alternative Schaffensprozesse bemühen, so dass die Grenze zwischen Rezipienten und Mitwirkenden verschwimmt und jeder im Gespräch oder in Interaktion mit dem Künstler zu einem Teil des Prozesses werden kann. Und tatsächlich war das alles gar nicht so schwer zu erreichen. Genauer beschrieben habe ich das im Text „Warum die Zukunft selbstorganisiert ist“ für Aroundart.
Man musste sich um alternative Beziehungen und um alternative Schaffensprozesse bemühen, so dass die Grenze zwischen Rezipienten und Mitwirkenden verschwimmt.
Meistens bestehen Selbstorganisationen aus einer Gruppe junger Künstler, die gemeinsam studiert haben und denen klar ist, dass sie irgendetwas anderes tun wollen als das, was man ihnen im Studium nahegebracht hat. Oft sind diese Projekte aus gemeinsam genutzten Ateliers erwachsen. Zum Beispiel gab es in Samara eine ganz aktive Künstlergruppe, die die Galerie „XI Rooms“ gegründet hat. Sie haben den Keller eines halbverfallenen Hauses gemietet, in dem es elf Zimmer gab: zehn davon waren Ateliers, im elften fanden Ausstellungen statt. Diese Initiative hat sehr viele Künstler hervorgebracht: Alexander Saizew, der heute in Moskau lebt, oder Anastasia Albokrinowa, die jetzt in der Samaraer NCCA-Filiale arbeitet. Auch Swetlana Schuwajewa hat dort schon ausgestellt. Sehr viele aufstrebende Samaraer Künstler hätten sich ohne diese Initiative auf ihrem Weg sicher schwerergetan.
Sprechen wir weiter von anderen Städten als Moskau oder Sankt Petersburg, so gibt es noch einen Grund für das Entstehen von künstlerischen Selbstorganisationen: dort hat Kunst nämlich überhaupt keine Infrastruktur. In diesen Städten werden Künstler von niemandem unterstützt und es gibt keinen Ort, an dem sie ihre Arbeiten ausstellen oder sich treffen und miteinander sprechen könnten. Und so schaffen Künstler und Kuratoren dann Räume, in denen sie selbst für diese grundlegenden Dinge sorgen können. „Tipographia“ in Krasnodar und das Woronescher Zentrum für Gegenwartskunst habe ich ja schon genannt. Ein weiteres Beispiel ist die Schule für Gegenwartskunst in Wladiwostok. Sie wurde 2015 von der Kuratorin, Kunsthistorikerin und Kunstkritikerin Jana Gaponenko und Gleichgesinnten gegründet. Die Schule sollte vor allem Bildungsinitiative sein für ein breites Publikum, das sich für zeitgenössische Kunst interessiert. Irgendwann brauchten die Teilnehmer aber auch eine Möglichkeit, die Ergebnisse ihrer kreativen Arbeit einem Publikum zu zeigen, und so begannen sie Ausstellungen in Privatwohnungen und an anderen Orten in Wladiwostok auszurichten, wo man zuvor nichts mit moderner Kunst zu tun hatte, und es entstand eine Kunstszene. Die Schule ist bis heute überaus wichtig, denn sie gibt den Künstlern eine theoretische und historische Basis, einen kritischen Ansatz. Oft stolpern Institutionen doch darüber, dass ihre Künstler Objekte und Ausstellungen ganz ohne theoretischen oder kritischen Diskurs produzieren, der von der Gemeinschaft dann postfaktisch dazugebaut wird.
Wichtig ist auch das Zentrum für zeitgenössische Kultur „Smena“ („Wechsel“) in Kasan. Das ist eine selbstorganisierte Institution, die die Kulturlandschaft von Kasan derzeit sehr stark prägt. Ilgisar Chasanow, sein Sohn Robert und Kirill Majewski vom Verlag Ad Marginem beschlossen seinerzeit, einen Raum ins Leben zu rufen, der nicht nur Gegenwartskunst beherbergen, sondern insgesamt die kulturelle Tagesordnung der Stadt mitgestalten sollte. Das ist übrigens eine besonders interessante Situation: für gewöhnlich entstehen Selbstorganisationen dort, wo viele Künstler sind. Hier aber ist es gerade umgekehrt: in Kasan gibt es aus verschiedenen Gründen nur sehr wenig Künstler. Robert und Kirill selbst arbeiten mit Literatur, sie verlegen Bücher. Im Zentrum „Smena“ haben sie einen ganz bemerkenswerten Buchladen, und richten auch eine Buchmesse aus.
Nun aber zu der Situation in den Metropolen. In Moskau wurden um die Jahrtausendwende beeindruckend viele Selbstorganisationen gegründet. Absolventen vom Institut für Probleme zeitgenössischer Kunst (IPSI) gründeten die Druckerei „Original“ – streng genommen besetzten sie das Haus der ehemaligen Druckerei im Chochlowski Pereulok. Unglaublich viele Künstler, die dort lebten und ihre Werke ausstellten, wurden später weltberühmt und sind heute in internationalen Projekten aktiv: so z. B. Arseni Schiljajew, Irina Korina, Haim Sokol oder Alina Gutkina.
Parallel dazu entwickelte sich die Galerie „Francia“; sie wurde von Mitgliedern der „Radek-Community“ gegründet: Alexej Kallima und Alexej Buldakow – Absolventen der Schule für Gegenwartskunst von Awdej Ter-Oganjan und Anatoli Osmolowski. „Francia“ war nur deshalb möglich, weil Alexei Kallima ein Atelier zur Verfügung gestellt bekam, in dem sie ihre Ausstellungen stattfinden lassen konnten. Zur gleichen Zeit gab es auch Ausstellungen in der Wohnungsgalerie der Künstlergruppe Escape. Wichtig war damals außerdem die Wohnung, die Timofey Caraffa-Korbut auf der Twerskaja-Straße in Moskau anmietete. Zu dieser Zeit entstand Kunst in solchen experimentellen Wohnungen und Ateliers und kam erst danach in Galerien und Kunstzentren, wo sie institutionalisiert wurde.
Der nächste Boom für Kunstorganisationen kam in den Jahren 2012-2016. In Moskau entstanden damals gleichzeitig mehrere Kunsträume auf dem Gelände des ehemaligen Kombinats „Elektrosawod“. Besonders typisch für diese Zeit ist das Beispiel der gleichnamigen Galerie „Elektrosawod“. Sie existiert bis heute, wenn auch in deutlich geschlossenerer Form. Ihren Ursprung hat diese Galerie Dima Filippow, Leonid Larionow, Natascha Timofejewa und dem Maler Wladimir Potapow zu verdanken, wobei Potapow sich später wieder von den anderen trennte. Sie riefen diese Galerie ins Leben, um sich gemeinsam weiterzuentwickeln, einander zu unterstützen und Ausstellungen zu organisieren, die an anderen Orten nicht möglich waren. Zunächst firmierte die Galerie unter dem Namen „Kunstbühne Perimeter“. Die erste Aktion, die die Künstler dort unternahmen, war, dass sie sich entlang der Außenwände des Raums auf den kalten Betonfußboden legten, um die Grenzen der Gesellschaft zu markieren. So entstand der Name „Perimeter“ – Umfang. Sie arbeiteten auch später mit dem Raum von „Elektrosawod“ und blieben dabei ausgesprochen offen: praktisch jeder und jede konnte dort ausstellen. Dieser Typus einer Künstlergemeinschaft war für die damalige Zeit ausgesprochen charakteristisch: fluid und in ständig wechselnder Besetzung.
Die Galerie „Red Square“ von Maria Dudko und Nataliya Protassenia entstand zur gleichen Zeit ebenfalls auf dem Elektrosawod-Gelände. Nicht zu vergessen das Kuratorenatelier „Treugolnik“ („Triangle“) mit seiner interessanten Entstehungsgeschichte: Studenten aus dem ersten Studienjahr am Institut für Kulturgeschichte (UNIK) standen vor der Situation, dass ihr Studiengang kurz nach Studienbeginn wegen bürokratischer Probleme der Universität gestrichen wurde, und so stellten sie das Kuratorenatelier auf die Beine: gut ein Dutzend Studenten suchten sich einen Raum, um ihr „Studium“ selbständig fortzusetzen – sie luden Kuratoren ein, organisierten Diskussionsrunden und richteten erste Ausstellungen aus. Es ging ihnen einzig um die Möglichkeiten, die eigentlich die Universität hätte zur Verfügung stellen sollen. Im Übrigen sind aus diesem Projekt viele Kuratoren hervorgegangen, die immer noch aktiv am Kunstgeschehen beteiligt sind und Ausstellungen machen. Da wäre z. B. Sona Stepanyan, die letztes Jahr Hauptkuratorin im Jerewaner Zentrum für Gegenwartskunst war und davor bei „Garage“ gearbeitet hat, oder Ivan Isaev, der seinerzeit das Projekt „Start“ bei Winsawod kuratiert hat, oder Ayana Chigzhit, die Ausstellungen im Zentrum „Krasnyj“ organisiert hat.
Auch das Zentrum „Krasnyj“ ist solch eine Selbstorganisation, die 2014 im Zuge der allgemeinen Begeisterung in Moskau entstanden ist. „Elektrosawod“ wurde in erster Linie von Absolventen des IPSI (Institut für Probleme zeitgenössischer Kunst) organisiert, und das „Krasnyj“ von Absolventen des „Basa“, das ist Anatoli Osmolowskis Institut für moderne Kunst, an dem nach wie vor Lehrbetrieb stattfindet.
Es war ausgesprochen interessant, die Entwicklung von „Elektrosawod“ zu beobachten. Der Kreis der Besucher dort war zunächst noch sehr klein, doch dann wurde die Location immer beliebter. Ich erinnere mich, dass wir 2015 in einer Studie den Eindruck festhielten, dass man bei „Elektrosawod“ mehr Menschen antreffen konnte als etwa bei „Winsawod“. Und das obwohl „Elektrosawod“ weiter vom Zentrum entfernt lag, schwieriger zu erreichen war und außerdem Zugangskontrollen hatte. Es schien, als geschehe nur dort etwas Aufregendes, Experimentelles und Wichtiges für die Kunst und für alle Beteiligten. Galeristen und Sammler gingen dort ein und aus. Einmal war ich dort, als die Ausstellung „Heartburn“ lief, kuratiert damals von Natascha Timofejewa – und wir mussten Schlage stehen! Eine halbe Stunde standen wir an, bis wir überhaupt beim Einlass ankamen, das dürfte der Höhepunkt gewesen sein. Ich schrieb für Aroundart und meine Kollegen waren ebenfalls Journalisten, aber dass wir als Kritiker dort waren und über die Veranstaltung schreiben würden, hat niemanden interessiert – wir wurden einfach in den Prozess eingereiht.
Was passiert jetzt, Jahre später, mit diesen Selbstorganisationen? Wie stehen sie heute da?
Nach und nach begann alles auseinanderzubrechen. Die Galerie „Elektrosawod“ musste wegen eines Konflikts mit der Verwaltung ausziehen. Danach hatte sie ein paar Ausstellungen an verschiedenen Orten, z. B. im Ausstellungssaal auf dem Taganka-Platz oder in der Galerie XL. Das sollte wohl der Versuch einer Bilanz des Erreichten sein, machte aber den Eindruck einer Wiederholung von alten Methoden in neuen Räumen und unter neuen Bedingungen und war damit definitiv nicht mehr experimentell. Es folgte der Umzug in eine neue Räumlichkeit im Industrieareal „NIIDAR“. Per Crowdfunding sammelte die Galerie Gelder für die Renovierung und eröffnete schließlich wieder eine erste Ausstellung – doch es schien, als habe von den ursprünglichen Mitgliedern niemand mehr Lust darauf; der Enthusiasmus war verpufft, und dann spielt es keine Rolle mehr, wie viel Arbeit in dem Projekt steckt. „Elektrosawod“ existiert noch heute, wenn auch in einem seltsamen Format. Geht man hin, sieht man ungefähr das Gleiche wie bei Winsawod. Und dann gibt es dort noch geschlossene Events, zu denen ich gar keinen Zugang habe – vielleicht wegen des Umzugs weg von Moskau oder warum auch immer. Ich habe allerdings das sehr bestimmte Gefühl, dass auch das Gemeinschaftsgefühl verschwindet, das diesen Raum einmal ausgemacht hat. Viele von den ursprünglichen Mitgliedern sind weg: Natasha Timofeeva ist nicht mehr dabei, soweit ich weiß, und Leonid Larionow macht jetzt auch andere Dinge. Die Galerie hat ihren Charme einer eingeschworenen Gemeinschaft verloren, in der die Künstler genau an den Themen arbeiten, mit denen sie einmal angetreten sind.
Interessant finde ich da die Einstellung von Dima Filippow: er ist fast gänzlich von der Bildfläche verschwunden; seine letzte Ausstellung bei „Elektrosawod“ ist schon über ein Jahr her, und deshalb scheint es so, als tue er gar nichts mehr, was das Moskauer Publikum erreichen könnte. Aber soweit ich weiß, arbeitet er mit Gleichgesinnten an Projekten zu Psychogeographie und Metageographie seines Heimatortes im Altai. Gemeinsam mit anderen Künstlern aus dem Dunstkreis von „Elektrosawod“ (darunter z. B. Nikolai Onischenko und Sergei Prokofiev) hat er Expeditionen in den Altai unternommen und darüber eine Studienausstellung im Heimatmuseum von Gorno-Altaisk gemacht. Dort hat man sie problemlos eingelassen – wahrscheinlich ist zeitgenössische Kunst dort derartig unbekannt, dass es einfach keinen Widerstand geben konnte. Hier in Moskau war von dem Projekt fast gar nichts zu sehen, aber Dima ist – nach dem, was ich auf den Facebook-Fotos sehe – immer noch dort und arbeitet an irgendetwas, wenn auch das Ergebnis in Moskau weitestgehend unsichtbar bleibt.
Die eigenen Werke nicht mehr zu zeigen, obwohl man weiter daran arbeitet, finde ich außerordentlich interessant, stark und auch mutig. Mir selbst liegt das nicht – meine Arbeit ist ja eher das genaue Gegenteil davon –, doch habe ich das Gefühl, dass solch eine Reaktion auf die Veränderungen in der Gesellschaft unglaublich wichtig ist; schließlich ist nicht nur die Kunstwelt davon betroffen, sondern die gesamte Gesellschaft.
Die eigenen Werke nicht mehr zu zeigen, obwohl man weiter daran arbeitet, finde ich außerordentlich interessant, stark und auch mutig.
Auch in den Regionen ebbt der Enthusiasmus ab. Die Künstler sehen sich in der Situation, dass ihnen ganz sicher niemand jemals Geld geben wird, dass regionale Kunstmuseen gar kein Interesse an ihnen haben können, denn das Geld für die Organisation von Ausstellungen muss beim Kartenverkauf herausspringen, so fordert es der Staat. Als allgemeiner Aufschwung herrschte, organisierten Künstler mit Begeisterung Ausstellungen in der eigenen Wohnung oder in einer leerstehenden Fabrik, oder sie machen aus dem Rohbau für ein Business Center ein Kulturzentrum. Doch es ist unvermeidlich (und völlig normal), dass diese Begeisterung irgendwann nachlässt, und dann braucht man Mittel, um die Arbeit zu organisieren. Nun sind aber keine Mittel da, und alles bricht zusammen. Der Rückwärtstrend erklärt sich also dadurch, dass die Phase des Enthusiasmus vorbei ist und nur der Staat und große Unternehmen über die nunmehr nötigen Mittel verfügen – und die Geschäftswelt tut sich bislang noch schwer, ihre soziale Verantwortung zu begreifen, insbesondere im Bereich der Entwicklung von zeitgenössischer Kunst und Kultur.
Der Rückwärtstrend erklärt sich also dadurch, dass die Phase des Enthusiasmus vorbei ist und nur der Staat und große Unternehmen über die nunmehr nötigen Mittel verfügen.
Natürlich gibt es Ausnahmen. In Jekaterinburg gibt es z. B. die Sinara Foundation zur Förderung der dortigen Kunstszene. Die Stiftung hat eine hohe Summe dafür gezahlt hat, dass Jekaterinburger Künstler auf der letzten Ural-Biennale gut vertreten waren. In Perm gibt es das von Nadezhda Agisheva ins Leben gerufene Stadtkulturzentrum; Nadeshda unterstützt überhaupt viele Stadtprojekte für Gegenwartskunst. Die Prochorow-Stiftung kümmert sich um den Ural und einige sibirische Städte. Aber im Süden ist sich die Geschäftswelt dieser Verantwortung nicht wirklich bewusst. Ok, das Zentrum für zeitgenössische Kunst „Tipographia“ verdankt seine Existenz verschiedenen Sponsoren, aber das sind alles eher kleinere Unternehmen, keines davon taucht in der Forbes-Liste der reichsten Firmen auf; es sind z. B. Communication Agencies, Werbeagenturen oder einfach Menschen, die wollen, dass in ihrer Stadt etwas Interessantes passiert – und damit nicht nur die Eröffnung neuer Restaurants meinen.
Aber die Lage in den Regionen ist nochmal ein eigenes Thema – und kein leichtes –, genau wie die Frage, wie dort Föderationsgelder und lokale Haushaltsgelder verteilt werden.
Bleiben wir doch beim Thema Institutionalisierung. Ursprünglich entstanden künstlerische Selbstorganisationen als Gegengewicht zu großen Institutionen mit ihrer Hierarchie und ihrer Zensur. Doch in letzter Zeit, sagten Sie, verschwimmen die Unterschiede zwischen Institutionen und Selbstorganisationen. Was ist der Grund für diesen Prozess und welche Folgen hat das? Wie wirkt sich das unmittelbar auf die Künstler aus?
Tatsächlich ist vieles von dem, was Selbstorganisationen machen, inzwischen von Institutionen übernommen worden. Und ich finde das gar nicht mal schlecht, sondern bin im Gegenteil sogar begeistert darüber. Die Galerien „Elektrosawod“ und „Red Square“ oder auch das Zentrum „Krasnyj“ haben mit ihrer mutigen Art die Prozesse in großen Galerien und Museen stark beeinflusst, vor allem in Moskau. Die Institutionen sind dadurch offener geworden. Dieser Mut von Selbstorganisationen war in der Szene damals ausgesprochen gefragt: auch Galeristen haben sich zu ihnen hinbemüht. Sergey Popov von der Galerie pop/off/art war ständig bei Elektrosawod oder im Zentrum „Krasnyj“ und hat schließlich angefangen mit Ivan Novikov und Alexander Plusnin zu arbeiten, die genau dort ihre ersten Ausstellungen hatten. Interessant ist auch die Tatsache, dass die kommerzielle Galerie XL bereit war, Künstlern von Elektrosawod Raum für ihre eigenen Ausstellungen zu geben; wobei diese Galerie natürlich insofern selbst experimentell arbeitet, als sie ihren Künstlern experimentelle Projekte zugesteht. Schließlich haben die Institutionen angefangen, innerhalb der eigenen Strukturen Raum zu schaffen für Eigeninitiativen und für Experimente. So hat „Garage“ z. B. den Garage Project Space für experimentelle Ausstellungen eingerichtet. Ich erinnere mich, dass Ilya Budraitskis, Maria Chehonadskih und Olga Shirokostup genau dort ihre Ausstellung zum Thema Verschwörungstheorien gemacht haben. Das war wirklich eine Ausstellung, die sonst einfach in irgendeiner Selbstorganisation stattgefunden hätte – allerdings gab es hier ein Budget, Prospekte und sogar Audioguides.
Tatsächlich ist vieles von dem, was Selbstorganisationen machen, inzwischen von Institutionen übernommen worden. Und ich finde das gar nicht mal schlecht.
Umgekehrt haben aber auch Künstler von Institutionen gelernt. Ein ganz deutliches Beispiel für eine solche gegenseitige Appropriation gibt es in Petersburg. Die Gruppe „North-7“ gibt es seit 2014. Alle Mitglieder waren miteinander befreundet, in gemeinsamen Projekten wollten sie Kollektivität, Interaktion, sowie Möglichkeiten und Sinn oder Unsinn von Zusammenarbeit untersuchen. Sie haben dann in wechselnden Ateliers gearbeitet und jedes davon als Ausstellungsraum genutzt. Im ersten Atelier machten sie das Projekt „Tower“: ein Künstler fing an einen Turm zu bauen, dann machte ein anderer weiter mit seinem eigenen Turm, arbeitete dabei aber mit dem, was schon da war, und so weiter. Als ich mir das Projekt zum ersten Mal anschaute, hatte Ilya Grishaev gerade erst mit seinem Turm begonnen, und als die Ausstellung nach drei Monaten zu Ende ging, war von seinem Turm überhaupt nichts mehr übrig! Auch das ist Interaktion: hier ginge es darum, die Grenzen von Kollektivität und Individualität auszuloten. In ihren eigenen Ateliers ließen sie einen gespielten Jahrmarkt stattfinden, auf dem der Holzkünstler Nestor Engelke einfach auf einem Bett lag und schlief und dabei tat, als sei sein eines Bein ein Holzblock. Anna Andrzhievskaya trug einen Kokoschnik und ein Snegurotschka-Kostüm und schoss mit dem Holzgewehr. Das war völlig irrwitzig und unglaublicher Trash, doch gleichzeitig waren die Materialien hier ganz klar Symbole für die russische Mentalität: feuchte Erde und Holz. In einem der Ateliers richtete „North-7“ übrigens sogar eine Bar ein, um das Geld für die Miete zusammenzubringen.
Nach und nach begannen dann kommerzielle Petersburger Galerien, die Aktionen der Gruppe auch bei sich zu auszustellen. Kürzlich war sie bei Vladimir Ovcharenko – das ist einer der wichtigsten von den Galeristen, die junge und wilde Kunst nehmen. Die Petersburger NAMEGALLERY hat dann sehr viele verrückte Experimente von „North-7“ komplett für sich übernommen und arbeitet inzwischen mit einzelnen Künstlern der Gruppe: erst mit Leonid Tskhe, dann mit Alexander Tsikarishvili.
Natürlich benutzt die Galerie die Künstler in gewissem Maße – viele tun das. Malt jemand in einem Stil, der den Kunden gefällt, so wird dieser Stil reproduziert. Auch mit den Künstlern von „North-7“ ist das teilweise passiert. Das ist die Kehrseite von Appropriation. Selbstorganisationen werden dabei zu Projekten, die von Institutionen parasitieren, von Mitteln, über die sie selbst nicht verfügen. Gleichzeitig wird ihre Arbeit kommerzialisiert. Bei der Interaktion, die dabei entsteht, muss der Künstler immer die Balance halten zwischen den Mitteln, die er braucht, und dem Abrutschen in den absoluten Kommerz.
Selbstorganisationen werden zu Projekten, die von Institutionen parasitieren, von Mitteln, über die sie selbst nicht verfügen.
Glauben Sie, das Schließen von Selbstorganisationen, das wir aktuell in Russland beobachten, hat ausschließlich externe Gründe? Oder gibt es da ein Problem im Prozess der Selbstorganisation als solches? Können Künstler die Kulturlandschaft einfach dadurch verändern, dass sie sich selbst organisieren?
Das Hauptproblem jeder künstlerischen Selbstorganisation ist es, über die eigenen Grenzen hinauszugehen. Selbstorganisation bedeutet normalerweise die Ausrichtung nach innen, auf die Entwicklung innerhalb der Gemeinschaft. Institutionen dagegen werden zurzeit immer offener, wagen Experimente und bekommen mehr Flow. Auf dem Telegram-Kanal „Lopata“ von Sergej Babkin und Dmitri Chworostow gab es dazu einen Beitrag: die V‑A‑C-Stiftung hatte zu einem Runden Tisch zur Rolle von modernen Institutionen geladen, an dem die Frage formuliert wurde: „Welche Eigenschaften müssen moderne Institutionen denn haben?“, und Sergej meinte zum Scherz: „Mal gucken, wie lange es dauert, bis sie sagen ‚sie müssen sich ständig verändern‘!“ Es dauerte etwa drei Minuten. Aber tatsächlich geht es darum, dass auch Selbstorganisationen sich irgendwie verändern müssen. Sich einfach nur selbst zu organisieren reicht heute nicht mehr – jedenfalls nicht im Sine von „sich mit Freunden zusammentun und Ausstellungen organisieren“. Ausstellungen gibt es ohnehin mehr als genug. Es gibt sie im Internet, man kann sie überall und jederzeit anschauen. Wichtig ist es, offener zu sein und die Menschen mit einzubeziehen.
Das Hauptproblem jeder künstlerischen Selbstorganisation ist es, über die eigenen Grenzen hinauszugehen.
Selbstorganisationen arbeiten heute mehr auf den Punkt und losgelöst von anderen Zusammenhängen. Heute sind das eher lose Zusammenschlüsse von Menschen, die Kunst-Veranstaltungen organisieren, dabei aber nicht an einen bestimmten Ort gebunden sind. Nehmen wir zum Beispiel „Imposture Lab“ von Vik Laschenov und einigen anderen. Sie machen Performances, Tanz und moderne Choreographie. Bei ihnen kommen immer neue Mitglieder dazu, und sie machen neue Inszenierungen auf verschiedenen Bühnen. Oder ein anderes Beispiel: Dungeons’n’Stuff: das ist ein ortsunabhängiges Stunden-Projekt von jungen Künstlern, darunter Sergej Babkin, Rita Sokolovskaya, Irina Gorbatschowa und Nikita Netschajew. Sie benennen einen Ort, kommen dorthin, machen etwas und gehen dann wieder – Veranstaltung, Veranstaltungsende, fertig. Das ist gar nicht so leicht, die Aktionen sind schneller, die Gemeinschaft geschlossener. Auch „North-7“ hat sich an die Situation angepasst und nutzt nun bereits bestehende Räume, um dort de facto dasselbe zu tun wie vorher in eigenen Räumen. Das T-Shirt, das ich trage, ist von „Lost Leisure“, einer Gruppe, die in Krasnodar entstanden ist, als wir an dem Projekt „Working Group“ arbeiteten; dabei ging es um die Identität von Krasnodar und dem Kuban. Wir trafen uns ungefähr einmal im Monat und sprachen über Identität und setzten und kritisch mit dem Thema auseinander. Dann wurde uns klar, dass wir rausgehen mussten aus „Tipographia“, irgendwohin. Es war Anfang April, und in Krasnodar ist es dann schon warm, also entschieden wir uns für typische Krasnodarer Freizeitgestaltung: wir gingen auf eine Techno-Party und grillten dann am Ufer des Kuban. So entstand diese Gruppe. Die verschiedensten Menschen können mitmachen und ihre Projekte an den verschiedensten Orten präsentieren. Wichtig ist das Thema: „Freizeit“ (Leisure). Wieder geht es um Kollektivität und um die Frage, was Gegenwartskunst eigentlich ist und wie wir den Begriff erweitern können; mit welchen Themen hat sie zu tun und worauf zielt sie ab.
Deshalb ist es vermutlich nicht ganz richtig zu sagen: sich einfach nur selbst zu organisieren reicht nicht mehr; richtiger wäre es zu sagen: es reicht nicht mehr, sich an einen Ort zu binden. Oder: das ist einfach nicht mehr nötig. Orte gibt es genug, wir müssen sie nur nutzen. Warum sollen wir ständig über Alltagsdinge nachdenken, wenn wir uns mit Kunst beschäftigen können, mit Interaktion oder Kollektivität, oder über neue Möglichkeiten nachdenken können, Kunst zu produzieren, und darüber, welche Kunst in welchen Räumen steckt?
Dann soll man einerseits nicht davor zurückschrecken, etablierte Institutionen zu benutzen, und andererseits gleichzeitig noch experimenteller sein?
Genau das ist das Rezept, denke ich. Oder besser: das ist die Formel, die heute für Selbstorganisationen gilt. Und genau vor diesem Hintergrund kann man wieder sagen, dass die Zukunft trotz allem selbstorganisiert ist. Im Prinzip bedient sich die Kunstszene keiner anderen Methoden als der Rest der Welt. Boykotts führen gerade in keinem Bereich zum Erfolg. Diese Art des Protests ist einfach nicht mehr zeitgemäß. Genauso ist es nicht möglich, die Zusammenarbeit mit Institutionen abzulehnen, denn nur sie verfügen über die Mittel, die eingesetzt werden müssten. Es ist das Moment der Interaktion, das so wichtig ist. Und das Moment der Appropriation von Mitteln bzw. Ressourcen. Im Übrigen betrifft dieses Prinzip heute die gesamte Gesellschaft, nicht nur die Gegenwartskunst.
Boykotts führen gerade in keinem Bereich zum Erfolg. Diese Art des Protests ist einfach nicht mehr zeitgemäß.
Dann geht es für Sie beim Thema Selbstorganisation gar nicht mehr so sehr um die Form, sondern um den Inhalt? Demnach bedeutet selbstorganisierte Kunst heute experimentell zu sein und den Fokus nicht auf das Publikum zu legen, sondern vielmehr dem künstlerischen Streben zu folgen, und zwar gemeinsam mit Gleichgesinnten?
Was hier so verwirrend ist, ist die Tatsache, dass es einerseits die organisatorische Definition gibt: selbstorganisiert sind Künstler und Kuratoren dann, wenn sie sich auf eigene Faust zusammenfinden und etwas produzieren; andererseits gibt es aber auch das vereinbarte Ziel, das für uns integraler Bestandteil einer Selbstorganisation ist. Und ich bin natürlich der Meinung, dass es für Selbstorganisationen kein wichtigeres Ziel gibt als die Experimentalität. Anders: die Produktionsmethode ist untrennbar mit dem Produktionsziel verbunden. Wenn wir experimentell sein wollen, dann müssen wir unsere Gruppe experimentell strukturieren. Wir brauchen keine politischen Ausstellungen, sondern Ausstellungen, die auf politische Art und Weise gemacht werden. Wir brauchen auch keine experimentellen Exponate, aber unsere Exponate müssen experimentell entstehen. Deshalb denke ich, dass Selbstorganisation als Form immer wieder anders ist. Genau wie unsere ganze Gegenwartskunst muss sie sich immer wieder neu erfinden. Wann immer eine Institution, ein Museum oder ein Kunstzentrum Formen von Selbstorganisationen übernimmt, zieht die Selbstorganisation schon wieder weiter und sucht neue Formen.