Schnelleinstieg:

Direkt zum Inhalt springen (Alt 1) Direkt zur Hauptnavigation springen (Alt 2)

Wie man die Verpflegungssicherheit in Städten garantiert
City Farming

Salat
© Phuc Long, Unsplash.com

Welche Gemüsearten lassen sich in einer Stadtwohnung ziehen, und wie macht man es richtig? Wie umweltfreundlich ist City Farming? Antworten auf diese und viele andere Fragen findet ihr in unserem neuen Artikel.

Von Vitalij Kondratjew

In der dritten Klasse wurde uns im Sachkundeunterricht gesagt, dass man im Winter Zwiebeln auf der heimischen Fensterbank ziehen kann. Dazu braucht es nur eine Schüssel Wasser und eine Zwiebel, die man hineinsetzt. Viele von uns zogen in diesem Winter zwischen Mamas Blumen Winterzwiebeln heran. Doch erst viel später wurde mir klar, dass man nicht nur Zwiebeln, sondern auch Tomaten, Gurken und selbst Kartoffeln das ganze Jahr über zuhause anbauen kann.

Heute beschäftige ich mich mit der Ausarbeitung moderner Agrotechnologien für die Aufzucht landwirtschaftlicher Kulturen in der vertikalen Landwirtschaft. Der Fachbegriff für diese Technologien lautet „City Farming“, also städtische Landwirtschaft. Große Industriebetriebe, die Gemüse in vertikaler Landwirtschaft anbauen, gibt es bislang nur wenige, aber wenn ich so durch die Stadt laufe, sehe ich immer häufiger „rosa Fenster“, was bedeutet, dass die Bewohner*innen dieser Wohnungen wollen, dass sich ihre Blumen, Grünpflanzen und Keimlinge auch an verhangenen Wintertagen wohlfühlen.

Die Quelle dieses rosafarbenen Lichts in den Fenstern von Stadtwohnungen sind Diodenlampen mit blauem und rotem Spektrum. Ich werde oft gefragt, ob dieses Licht für menschliche Augen nicht schädlich ist. Wenn ihr euch nur kurz mit der Pflanzenpflege beschäftigt, werden eure Augen keinen Schaden davontragen, doch bei längerer Einwirkung des Lichts auf die Augen können Erschöpfung und Unwohlsein auftreten, denn dieses Spektrum wurde auf Basis der Bedürfnisse von Pflanzen und nicht Menschen ausgewählt. Um selbst keinen Schaden zu nehmen und die Pflanzen dennoch zu unterstützen, sollte man sich besser für warmweißes Licht in ausreichender Wattstärke entscheiden.

Doch was lässt sich in einer Stadtwohnung unter diesen Lichtverhältnissen anbauen?

Im Herbst und im Winter, wenn man Vitaminmangel besonders stark wahrnimmt, kann man auf der Fensterbank Microgreens wie Kresse, Feldsalat, Ruccola, Senf, Radieschen und Erbsen ziehen. Schon sechs bis zehn Tagen nach dem Aussäen kann man diese Microgreens ernten. Und wenn man auf der Fensterbank Blattsalat, Dill, Petersilie oder Winterzwiebeln anbaut, kann man nach 35-45 Tagen den ersten Salat aus dem frischen Grün zubereiten. Die Kulturen sind frühreif und kälteresistent, darum wachsen sie im winterlichen Zuhause besonders gut.
 

Altifarm / HerbstationFoto (Detail): © Altifarm Enverde / Unsplash
Im frühen Frühjahr geht es dann schon los mit der Anzucht von Gemüse- und Blumenkeimlingen für die Datscha. Hebt euch einige Tomaten-, Paprika- und Kartoffelpflanzen für die Wohnung oder den Balkon auf, dann könnt ihr euch im Herbst über frisches Gemüse freuen – wenn ihr ein paar elementare Regeln der Pflanzenpflege in Wohnungen beachtet. Hier sind einige davon:

1. Die Hauptfaktoren, die eine gute Ernte bedingen, sind Licht, Wärme, Feuchtigkeit und Dünger.
2. Das meiste Licht fällt in die Fenster, die nach Süden, Südwesten und Südosten gehen. Hier sollte man lichtliebende Kulturen anbauen – Gurken, Tomaten, Paprika und so weiter. Im Herbst und Winter, wenn nicht genug Licht zur Verfügung steht, muss man zu einer zusätzlichen Beleuchtung mit Dioden greifen (zum Beispiel Warmweiß mit einer Stärke von 100-120 Watt). Je weiter entfernt vom Fenster, desto weniger Lichteinfall, und desto weniger wohl fühlen sich die Pflanzen.
3. Die Lufttemperatur in Wohnungen schwankt im Bereich zwischen 18 und 23 Grad Celsius. Das sind optimale Voraussetzungen für die Mehrheit aller Gemüsepflanzen, doch am Fenster kann die Temperatur um vier oder fünf Grad niedriger sein, und wenn man dann (insbesondere im Winter) auch noch über die oberen Fenster lüftet, können die Pflanzen unterkühlen, was zu Stress oder gar zu ihrem Absterben führt. Genauso wichtig ist es aber, die Pflanzen nicht zu überhitzen – besonders im Frühling. Um das zu verhindern, sollten sie mit Spinnvlies oder einem ähnlichen Material abgedeckt werden.
4. Die Luft in Wohnungen ist oft trocken, deshalb sollte man die Pflanzen zwei bis drei Mal am Tag mit Wasser aus einem Zerstäuber besprühen oder in ihrer Nähe Gefäße mit Wasser aufstellen.
5. Gießen sollte man Pflanzen mit abgestandenem Wasser in Zimmertemperatur unter Zugabe von 1-2 ml wasserlöslichem Dünger mit Mikroelementen.
6. Dünger und Präparate zum Schutz der Pflanzen sollte man streng nach Herstellerangaben verwenden.
7. Entscheidet euch für regionale, krankheits- und schädlingsresistente Gemüsesorten.
8. Man kann Gemüse sowohl in Erde ziehen als auch in Hydro- und Aerokultur. Wenn ihr euch entschieden habt, Erde zu verwenden, dann nehmt eine Mischung aus einem Teil Torf und zwei Teilen Agroperlit. Dann kann sich das Wasser nicht stauen und die Wurzeln werden immer belüftet.
9. Führt ein Tagebuch, in dem ihr die Lufttemperatur, den Zustand der Pflanzen sowie Pflegemaßnahmen und Gießdaten eintragt. Das hilft euch dabei, die Pflege eurer Pflanzen zu organisieren und stressige Situationen für die Pflanzen zu vermeiden.

Wenn eure Wohnungstomaten im Herbst nicht tragen, dann solltet ihr Lichtmenge, Temperatur, Dünger und die Besonderheiten der jeweiligen Sorte checken. In der Wohnung gedeihen frühreife, kleinbleibende Sorten sowie Hybridtomaten am besten.
Home garden tomatoesFoto (Detail): © Per Lööv / Unsplash

Große landwirtschaftliche  Produktionsbetriebe setzen chemische Mittel zum Schutz ihrer Pflanzen ein, die bei nicht sachgemäßer Anwendung Rückstände im Gemüse hinterlassen können. Das wird angesichts der Qualitätssicherung von Gemüse gesellschaftlich kritisch gesehen und hat zur Entstehung von Negativmythen über moderne Anbaumethoden geführt. Schauen wir uns die doch mal an.

„Keine Nitrate!“

Kann man Gemüse ohne Nitrate anbauen? Nein! Denn Nitrat ist als Stickstoff die Ernährungsgrundlage von Pflanzen und nicht schädlich für sie. Evolutionsbedingt speichern Pflanzen Nitrat in ihren Blättern und Stängeln, weswegen in Tomaten, Paprika und anderen Gemüsesorten immer ein Minimum an Nitrat vorhanden ist. Wenn ihr nach den Regeln ökologischen Ackerbaus Gemüse anbaut, euer „Häuschen im Grünen“ aber in Nähe einer belebten Straße liegt, dann solltet ihr euch keine Gedanken um Nitrate machen, sondern vielmehr um Schwermetalle im Gemüse! Es kann zu Nitratüberschüssen in Grünkulturen kommen, wenn die Mineraldüngerdosen zu hoch waren oder die Lichtverhältnisse zu schlecht.

„Hydroponik ist chemisch und böse!“

Biochemische Reaktionen in Lebewesen finden über Flüssigkeiten statt, und Pflanzen sind in der Lage, Nahrungsmittel aufzunehmen, die in Wasser gelöst wurden. Wenn ein Beet nach dem Regen nass ist oder wir unsere Erbsen gießen, findet eine Vermischung mit diesen Nahrungsmitteln statt und die Pflanze kann sie aufnehmen. Ende des 19. Jahrhunderts hat Kliment Timirjasew gezeigt, dass Pflanzen in der Lage sind, ohne Bodenkontakt zu wachsen und sich zu entwickeln, und 1929 hat William F. Gericke an einer kalifornischen Universität eine industrielle Methode ausgearbeitet, Gemüse ohne Untergrund heranzuziehen. Das heißt, die Entwicklung hydroponer Anbaumöglichkeiten war die Folge von Untersuchungen zur wirklichen Ernährung von Pflanzen und der Ausarbeitung industrieller Technologien für eine optimale Ernährungszufuhr von Gemüse – das wir mittlerweile das ganze Jahr über essen können. Sowohl aromatische als auch geschmacklose Tomaten werden auf der Basis hydroponer Nahrung gezogen, ihr Geschmack aber hängt von den Besonderheiten der Sorte und ihrer Bestimmung ab. Eine hydropone Ernährung senkt die Ausgaben für Dünger und stellt für die Umwelt eine geringere Belastung dar. Und auch unter häuslichen Bedingungen kann man Hydroponik für sich nutzen. Man kann entweder vorbereitete Pflanzen kaufen oder selbst ein System für hydropone und aeropone Ernährung entwerfen. Aeroponische Ernährungssysteme unterscheiden sich von der hydroponen Variante darin, dass ihnen eine Nährlösung zugesetzt wird – über Zerstäuberdüsen, was den Wasserverbrauch senkt und eine Art feinen Nebel in der Wurzelzone der Pflanzen herstellt.
 
„Man kann in einer Stadtwohnung keine ökologisch unbelastete Produkte anbauen“

Wenn eure Fenster, euer Balkon oder die Loggia nicht in unmittelbarer Nähe eines Bergbaugebiets, Metallkombinats oder einer viel befahrenen Straße liegen, wird euer Gemüse kaum Schwermetalle aufnehmen. Unter häuslichen Bedingungen ist es also nicht erforderlich, chemische Schutzmittel für Pflanzen einzusetzen, und deshalb ist die Ernte ökologisch unbelastet.

Wenn ihr im 22. Stock eines Hochhauses wohnt, habt ihr sogar noch mehr Glück, weil die Luft in einer solchen Höhe sauberer ist. Allerdings muss man bei böigen Winden aufpassen, durch die eure Pflanzen Schaden nehmen könnten.
Pflanzen auf dem BalkonFoto (Detail) © Artur Aleksanian / Unsplash
Es ist gerade sehr in, Wände mit Moos zu dekorieren. Kann man dieses selber anbauen? Ja, aber es braucht Geduld und Zeit. Die erste Möglichkeit, Moos zu kultivieren, ist, sich nicht mehr um den Balkon oder das Häuschen im Grünen zu kümmern – so entsteht es mit der Zeit ganz von allein (war ein Witz). Die zweite Möglichkeit ist, Moos aus dem Wald mitzubringen, es auf Kies oder Torf zu setzen und feucht zu halten, indem man es mit Wasser und darin gelösten Düngern besprüht. Im Ergebnis entsteht ein Wandteppich aus Moos. Und dieses nimmt, wie alle Fotosynthese betreibenden Organismen, sehr gut Kohlendioxid auf und setzt Sauerstoff frei. Daher – wenn euch der Zustand der Umwelt am Herzen liegt, ihr euch aber nicht um Pflanzen kümmern wollt, ist Moos ökologisch gesehen für euch vielleicht keine schlechte Wahl.

City Farming – die nahe Zukunft städtischer Landwirtschaft

Die Geschichte unseres Landes zeigt, dass es gut ist, einen kleinen Garten zu haben – ob auf der Fensterbank oder in einem Dorf. Um aber Stadtbewohner*innen das ganze Jahr über mit qualitativ hochwertigem und nahrhaftem Gemüse zu versorgen, braucht es einen ganzen agroindustriellen Komplex. Frisches Gemüse für Bürger*innen mit traditionellen Mitteln anzubauen, wird mit jedem Jahr schwieriger, denn klimatische, politische und logistische Veränderungen und die geringe Beliebtheit der Landwirtschaft unter Jugendlichen schränken dahingehende Bestrebungen ein. Eine Lösung für dieses Problem sind städtische Landwirtschaftsbetriebe und Pflanzenfabriken. Sie bestehen aus riesigen Komplexen, in denen die Mehrzahl der monotonen Eingriffe automatisiert ist und die Ausführung von Spezialist*innen-Teams im Bereich Landwirtschaft, Technik und digitalen Technologien kontrolliert wird. Um eine große Millionenstadt vollständig mit frischem Gemüse und Beeren zu versorgen, braucht es ein ganzes Netz an Unternehmen – und dafür wiederum größere Investitionen in Infrastruktur, Energiewesen und personelle Weiterbildung.

Noch vor wenigen Jahren lag das Ziehen von Gemüse und Kräutern innerhalb von Gebäuden in der Hand einzelner Enthusiast*innen, doch heute werden Großprojekte zum ganzjährigen Anbau auf Tausenden von Quadratmetern finanziert und realisiert. So gibt es in Russland beispielsweise die Pflanzenfabriken „RusÖko GmbH“ (Investition: fünf Milliarden Rubel, Anbaufläche 6,7 Hektar) und „Salat-Fabrik Nr. 1“ in Moskau, die „Pflanzenfabrik“ in Sankt Petersburg, die „iFarm“ in Nowosibirsk, die GmbH „Agrartechnologien der Zukunft“ in Chabarowsk sowie eine Vielzahl privater Betriebe für den Anbau von Microgreens. Weltweit gibt es Pflanzenfabriken in Japan, Singapur, den Vereinigten Arabischen Emiraten und den USA. Ich bin mir sicher, dass die Technologien des City Farmings in Zukunft Menschen mit Gemüse versorgen können, wohin auch immer sie reisen: in der Arktis oder Antarktis, in den Weltmeeren, der Wüste und im Kosmos. Damit das aber Wirklichkeit wird, müssen wir weiter forschen, viel Arbeit in dieses Projekt stecken und es muss uns gelingen, gut miteinander zu kommunizieren.

Top