Polina Barskowa
Jetzt ist der Zeitpunkt da, ins Zimmer der Blockade einzutreten
Die Beschäftigung mit der Blockade Leiningrads lag für die Dichterin, Sprachwissenschaftlerin und Übersetzerin Polina Barskowa nicht auf der Hand. Ihre Beziehung zu den Ereignissen und menschlichen Schicksalen rührt nicht aus der direkten Weitergabe von Erinnerungen, denn Barskowa hat keine Verwandten, die die Blockade miterlebten. Seit fast zwanzig Jahren lebt sie in den USA, wo sie an der University of California in Berkeley Vorlesungen zu russischer Literatur hält. Ihr Blick auf die Blockade ist der einer Schriftstellerin und Weltbürgerin, was ihr eine unvoreingenommene Sicht auf das Thema ermöglicht, frei von politisch instrumentalisierten Klischees.
Wie sind Sie auf das Thema der Blockade Leiningrads in Ihren Büchern gekommen? Womit und wann haben Sie Ihre Untersuchungen begonnen?
Ich war bereits Dozentin an einem amerikanischen College und nahm mit meinen Studenten Texte zur Blockade durch, da begann ich mich zu erinnern, was ich zu diesem Thema eigentlich als Kind wusste. Ich erinnere mich an einen Besuch des Mahnmals für die Verteidiger Leningrads auf dem Platz des Sieges in St. Petersburg, damals Leningrad. Ich erinnere mich an die unterirdische Gedenkhalle und daran, wie meine Mutter mir erklärte, dass dieses schreckliche und unförmige Ding da „Blockadebrot“ sei. Ich erinnere mich daran, wie ich Tränen in meinem Mund schmeckte, als sie mir das sagte, und wie seltsam ich fand, dass dieses schreckliche Stückchen Brot so winzig, alles andere aber so riesenhaft und ganz aus Marmor war.
Später haben mich die Arbeiten von Künstlern aus der Blockadezeit wieder auf das Thema gebracht, welche ich in der wunderbaren Ausstellung mit dem Titel „Blockadetagebuch“ im Museum für Geschichte der Stadt St. Petersburg sah. Mich bekümmerte es damals sehr, dass ich so gut wie nichts über die Geschichte und die Rezeption der Blockade wusste, und nach und nach begann ich, mich zu dem Thema zu belesen und Informationen zu sammeln.
Vielleicht mag es verwundern, dass ich mich dem Thema sowohl als Literaturwissenschaftlerin als auch als Schriftstellerin widme. Zuerst habe ich einfach gierig alles gelesen, was ich finden konnte. Diese neue Welt, die ich da entdeckte, erschien mir so schrecklich, so verletzlich und so wichtig. Ich las Veröffentlichungen und Archivmaterial und mit Hilfe anderer gelang es mir, Erinnerungsbücher aufzufinden, die dankbare Enkel in kleiner Auflage herausgebracht hatten. Diese Veröffentlichungen sind zu einem großen Teil gar nicht in die Bibliotheken gelangt. So begann ich langsam meine Wissenslücken zu füllen. Zum Holocaust sind in den USA Tausende Texte geschrieben worden: wissenschaftliche, künstlerische, dokumentarische ... Aber als Witali Puchanow sein wunderbares Gedicht über die Blockade geschrieben hatte („In Leningrad, bei Tagesanbruch ...“), ist man in Russland über ihn hergefallen: Wie er es wagen konnte ... über das Thema müsse man doch schweigen. Ich denke nicht, dass man über die Katastrophe schweigen muss. Und ich möchte der Tatsache auf den Grund gehen, dass es Menschen gab, die darüber eben nicht geschwiegen haben. Deshalb arbeite ich mit großartigen Fachleuten zusammen, welche sich um die Veröffentlichung von Texten zur Blockade kümmern. Ich schreibe über diese Texte und ihre Leser. Anfangs wollte ich zu diesem Thema gar nicht selbst schreiben, aber dann entstanden doch Gedichte und sogar ein Theaterstück mit dem Titel „Lebende Bilder“. Mich reizt das Projekt der Rekonstruktion, die Frage, in welche Form des Dialogs wir mit den Menschen treten können, die die Blockade miterlebt haben, eines Dialogs, bei dem wir uns nur auf – immer unvollständige – Dokumente stützen können.
Sie schreiben über die Schicksale von Vertretern der Intelligenzija während der Blockadejahre. Für mich erklärt sich diese Beziehung mit dem Wunsch, Schicksale von Leuten nachzuzeichnen, denen Sie sich persönlich verbunden fühlen: Schriftsteller, Dichter, Künstler, Wissenschaftler. Wer ist darunter, der für Sie eine Schlüsselrolle spielt?
Während der Blockadejahre gab es in Leningrad ganz unterschiedliche Menschen. An sie alle müssen wir die Erinnerung wach halten und versuchen, sie zu verstehen. Aber es waren eben die Vertreter der künstlerischen Intelligenz, die viel über diese Zeit schrieben und somit eine riesige Zahl an Quellen zu diesem tragischen Zeitabschnitt in der Geschichte der Stadt hinterlassen haben. Es ist halt so, dass ich besser die Schicksale von Menschen nachvollziehen kann, welche sich aus dem Unglück heraus dem künstlerischen Schaffen zuwendeten, deshalb beschäftige ich mich mit ihnen. Wobei ich aber den Forschungsarbeiten meiner Kollegen, welche das Leben in der Blockade am Beispiel von einfachen Leuten, von Arbeitern oder Schülern untersuchen, mit Achtung und großem Respekt gegenüberstehe. Ich lese immer wieder Lidia Ginsburg: Ihre Wahrnehmung bildet für mich eine Art Kammerton, ich glaube, da stimmt alles. Eins der tiefgründigsten Gedichte über die Blockade hat, wie ich finde, Jelena Schwarz geschrieben: Sie arbeitete sicher nicht mit Dokumenten, sie wohnte und lebte einfach in dieser Stadt, hat der Stadt und ihren Bewohnern zugehört, hat alles gesehen und begriffen. Um darüber sprechen zu können, muss man es verstehen wollen.
Viele Personen, von denen Sie in Ihren Büchern zur Blockade erzählen, sind dem breiteren Publikum relativ unbekannt. Den Namen Olga Bergholz‘ mag man noch gehört haben, aber kaum jemand kennt das Schicksal des Künstlers Moisei Wakser und seiner Geliebten, der Kunstwissenschaftlerin Antonina Isergina. Und ihre Geschichte bildet ja die Grundlage Ihres Theaterstücks „Lebende Bilder“. Witali Bianki ist durch seine Tier- und Naturerzählungen bekannt und in Erinnerung geblieben. Wohl kaum einer aber nimmt in Biankis Büchern den Nachhall der Blockadeerfahrung des Autors wahr. Nur Sie schreiben darüber in Ihrem Essay „Listodjor“ („Nordostwind“). Wie können die Geschichten dieser Leute einem breiteren Publikum nahegebracht werden?
Ganz wichtig ist, dass die Leute von selbst über all das etwas erfahren oder lesen wollen. Das ist keine einfache Aufgabe, und sie muss gemeinsam von Historikern und Philologen, Museumsmitarbeitern, Lehrern und Hochschuldozenten bewältigt werden. Wir müssen zuerst alles selbst verstehen. Erst dann können wir einem Publikum erklären, warum man unbedingt darüber Bescheid wissen, lesen, sich daran erinnern, warum man das mit diesem Wissen verbundene Unbehagen auf sich nehmen soll. All das sind Fragen, die sich erst auf den zweiten Blick auftun.
Ich kann natürlich nur für mich sprechen. Wenn ich lese, wie mutig Menschen wie Ljubow Schaporina und Lidia Ginsburg, Pawel Salzman und Gennadi Gor, Olga Bergholz, Georgi Knjasew und viele andere über ihr Leiden geschrieben haben, wie scharfsichtig und mit welcher Liebe sie hinter den Schmerz schauen, der über ihre Stadt gekommen ist, dann erfahre ich beim Lesen etwas sehr Wichtiges über die menschliche Natur, darüber, wie zerbrechlich wir Menschen sind und wie stark.
Sie leben derzeit in den USA. Was weiß man dort im Allgemeinen über die Blockade Leiningrads, wenn man keine Verbindung zur Geschichtswissenschaft hat? Ich glaube, die breite Masse der US-Bürger ist nur sehr wenig informiert ...
Das stimmt, in Amerika weiß man über die Blockade nicht sehr viel. Aber mir fällt auf, dass sich viele darauf einlassen, wenn ich etwas zu diesem Thema erzähle, die Leute kommen hinterher zu mir oder schreiben mir und fragen mich nach weiterführender Lektüre. Meistens empfehle ich ihnen das Buch „900 Tage. Die Belagerung von Leningrad“ des US-amerikanischen Journalisten Harrison E. Salisbury. Salisbury kam 1944 in das gerade erst befreite Leningrad und hat viel verstanden. Er arbeitete dann noch einige Jahre in der Sowjetunion. Sein Buch erschien auf Russisch erstmals 1973 in New York. In Russland konnte es erst 20 Jahre später veröffentlicht werden, da sich die sowjetischen Geschichtswissenschaftler dagegen gestellt hatten, sie warfen Salisbury Verunglimpfung vor. Besonders die „Lüge“ vom Kannibalismus in den Blockadejahren sorgte für Empörung. Dabei stellte sich später heraus, dass alle Episoden in diesem Buch wahr sind. Aber eigentlich geht es nicht um den Kannibalismus. Wichtig ist, dass Salisbury die Schicksale einzelner Menschen über den Mythos der kollektiven, undenkbaren Heldentat stellte.
Finden Sie, dass es sich außerhalb Russlands leichter über die Blockade schreiben lässt? Wenn ja, warum? Sind Sie möglicherweise unbeschwerter, was die politische Instrumentalisierung bestimmter Ereignisse angeht? Oder gestaltet sich das Schreiben vielleicht sogar schwieriger, weil man weniger Informationen zur Verfügung hat und das Thema für die meisten Menschen um einen herum ziemlich fremd ist?
Für mich ist das Schreiben in Amerika leichter, ja. Meiner Erfahrung nach fixiert man sich im Westen – in Europa und den USA – nicht so sehr wie in Russland auf die Sakralisierung eines Traumas. Man spricht viel eher vom Schmerz, der in einem historischen Kontext steht, vom „Schmerz der Geschichte“ oder vom „Schmerz der Politik“. Anders als in Russland hat man hier bereits einen Diskurs geschaffen, der es ermöglicht und verlangt, über diesen Schmerz zu sprechen.
Wenn ich in Russland bin und mit manchen russischen Kollegen über das Thema der Blockade spreche, dann schwingt da diese Einstellung mit: Es ist leichter darüber zu schweigen, darüber nicht nachzudenken. Eigentlich ist es doch aber überhaupt nicht leichter. Ich finde dieses Schweigen grässlich, und ich finde es wichtig, dass sich eine Stadt, in der mehr als eine Million Menschen verhungert sind, eine Sprache, einen Diskurs erschafft, um über diese Seiten der Geschichte erzählen und sich und anderen das Geschehene erklären zu können.
Finden Sie nicht auch, dass das Blockadethema nicht nur die Aufmerksamkeit der russischen Öffentlichkeit verdient hat? Oder muss dieses Thema zuerst in Russland und von der russischsprachigen Gemeinschaft weltweit neu wahrgenommen und erschlossen werden?
Ich bin sicher, dass wir zusammen arbeiten müssen und dass ein modernes Forschungszentrum gegründet werden sollte, wo Wissenschaftler aus verschiedenen Ländern zusammenarbeiten und miteinander agieren können.
An Heldengeschichten sind Sie nicht interessiert, man könnte sagen, Sie meiden sie sogar. Wie müssten denn Ihrer Meinung nach die Akzente bei der Diskussion des Themas in Russland gesetzt werden? Wer oder was darf vor allem nicht vergessen werden?
Da möchte ich als Beispiel den Dokumentarfilm „Leningrad im Kampf“ von Roman Karmen und seinem Team von 1942 hernehmen. Der Film wurde in einem langen und anstrengenden Prozess in die Form gebracht, in der man dann „die Blockade“ in der gesamten Sowjetunion vorführen konnte. Dies bewirkte erstaunliche Wunder im Kalender: Der Herbst, in dem die Schützengräben ausgehoben wurden, und der Frühling, während dem die Stadt gesäubert wurde, nehmen fast die Hälfte des Films ein. Dazwischen vergeht in Windeseile der Winter: Als einziges Ereignis während dieser Zeit wird Stalins Rede gezeigt, in der er zum Durchhalten aufruft. Solche Proportionen beunruhigen mich. Ja, in den Werken bauten Arbeiter Panzer und bekamen dafür Lebensmittelkarten, mit denen sie überleben konnten. Gleichzeitig starben aber in den Häusern die Alten, denen über die Karten Rationen zugeteilt wurden, die gerade zum Sterben reichten, Angehörigenkarten. Ich denke, beide „Kategorien Mensch“ haben unsere Gedenken und unser Mitgefühl verdient. Und für mich sind diese alten Leute ebenfalls Helden.
In Ihren Interviews sprechen Sie viel darüber, dass die Seiten der Blockade-Geschichte in Russland in Vergessenheit geraten, trotz der viel zitierten Worte Olga Bergholz‘, dass „niemand und nichts vergessen“ werde. Gab es da in letzter Zeit kleine Fortschritte? Oder geht es eher in die andere Richtung?
Es tut sich doch einiges. 2015 starb Sergei Jarow, ein bedeutender Fachmann für die Geschichte der Blockade. Aber andere Wissenschaftler setzen die Arbeit fort. Es ist jetzt wichtig, die Öffentlichkeit zu sensibilisieren, die Leute überhaupt dafür empfänglich zu machen. Das ist eine Aufgabe, die alle angeht.
Was empfehlen Sie jemand, der sich für die persönlichen Geschichten der Blockade Leiningrads interessiert, aber nicht weiß, wo er anfangen soll? Soll er die letzten Augenzeugen treffen oder in die Archive und Bibliotheken gehen?
Natürlich wäre es das Beste, in die Archive zu gehen und Augenzeugen zu befragen. Für den Anfang reicht es aber schon, das bereits veröffentlichte Material zu lesen. Ich möchte alle bitten, die Mühe auf sich zu nehmen und keine Angst davor zu haben, dieses schwierige Thema anzugehen. In Alexander Sokurows Film „Russian Ark – Die russische Arche“ verwandelt der Regisseur die Eremitage in ein Museum, das symbolisch für die russische Geschichte steht. In dem Film wird ein geheimes Zimmer gezeigt: das Zimmer der Blockade. Die Figuren meiden es. Ich denke, jetzt ist der Zeitpunkt da, in dieses Zimmer einzutreten.