Mit andCompany&Co., Pavel Arsenev, Keti Chukhrov, Olga Jitlina, Thomas Myrmel,
Boris Nikitin, Alexandra Pirici, Vokrug da Okolo, u.a.
Kuratiert von Florian Malzacher
T.I.N.A. "There is no Alternative" – dieses Credo hat vielerorts das Denken der letzten Jahre bestimmt und jeden Glauben an die Möglichkeit einer Veränderung oder gar Utopie im Keim erstickt. T.I.N.A. ist nicht nur das Gegenteil jedes revolutionären Denkens, es soll das Denken überhaupt einschläfern. Das anything goes der Postmoderne wurde durch das nothing goes des Post-Politischen abgelöst. Einerseits. Andererseits sind die letzten Jahre auch geprägt von Bewegungen und Manifestationen vor allem junger Menschen, die genau das Gegenteil beweisen wollen: Dass die Welt eben doch veränderbar ist.
Die Fähigkeit, daran zu glauben, dass Dinge völlig anders ausschauen könnten, hat der österreichische Schriftsteller Robert Musil – selber jeder Nähe zu Revolutionen unverdächtig – als Möglichkeitssinn bezeichnet. Denn wenn es einen Wirklichkeitssinn gibt, dann müsse es ja wohl auch einen Möglichkeitssinn geben: einen Sinn jenseits reiner Pragmatik oder gar Resignation, der uns erlaubt, Neues zu denken, der erlaubt, uns eine andere Welt auszumalen.
Der Blick auf die Revolution, die vor hundert Jahren in St. Petersburg ihren Ausgang nahm, ist zwiespältig. Zu brutal war die Geschichte, die folgte, zu desillusionierend das Vergessen der eigenen Ideale, zu wirkmächtig die vereinnahmenden Interpretationen des Geschehens von allen politischen Seiten, um naiv oder gar euphorisch auf die Ereignisse im Oktober 1917 zurück zu schauen. Und doch hallen die Versprechungen hundert Jahre später noch nach. Und noch immer fasziniert und inspiriert heute allein schon die Tatsache, dass es einmal möglich war zu glauben, den Verlauf der Geschichte fundamental verändern zu können.
Das Programm "Vom Möglichkeitssinn" im Rahmen des Festivals "Punkt der Erreichbarkeit" (Access Point) erinnert sich der historischen Revolution in vielfältiger Hinsicht: Mal konkret, mal über Umwege, mal nur noch mit losem Bezug. Immer aber geht es darum, den Möglichkeitssinn zu aktivieren und die historische Folie zu nutzen, um zu schauen, was unsere Gegenwart an utopischem Potential noch birgt.
Die Choreographin Alexandra Pirici untersucht in "Delicate Instruments of Engagement" vor den avantgardistischen Gemälden und Skulpturen des Russischen Museums mit performativen Aktionen das historische Verhältnis von Kunst und Politik, während die deutsche Theatergruppe andCompany&Co. – erstmals in Russland zu sehen – in "Mausoleum Buffo: Lennongrad revisited" die Geschichte mit Hilfe der Kunst einfach gleich ganz neu schreibt: Beatles treffen auf Bolschewiken... Der niederländische Komponist, Musiker und Performer Thomas Myrmel wiederum nutzt die Interpretation des deutschen Dramatikers Heiner Müller von John Reeds legendärem Revolutionstagebuch "Zehn Tage, die die Welt erschütterten". Doch seine Konzertperformance "Re-Fe-Re" setzt dabei einen deutlich anderen Fokus und rückt die Rolle von Frauen auf verschiedenen Seiten des Kampfes in den Mittelpunkt. Die St. Petersburger Künstlerin Olga Jitlina nutzt für "Apartment N44" die ehemalige Wohnung der Dichterin Anna Achmatowa und ihres Mannes, dem einflussreichen Kunstkritiker und Kurator Alexander Punin, als Resonanzraum: Was ist geblieben von den großen Würfen der Avantgarde? Das junge Künstlerkollektiv Wokrug da Okolo widmet seinen Audiowalk "Red Noise" einem Distrikt, der damals wie heute prekär ist: Zum zehnten Jahrestag der Revolution wurde der Bezirk Narvskaya Zastava in ein architektonisches Modellprojekt umgewandelt – und ist heute sowohl ein sozialer Brennpunkt wie ein eindrucksvolles konstruktivistisches Architekturprojekt. Andere Arbeiten, wie der raffiniert-vielschichtige Monolog "How to win friends & influence people" des Schweizer Theatermachers Boris Nikitin spielen ihre Bezüge zum historischen Jubiläum über Bande: Die Frage nach Glauben, Verneinung und der Selbstoptimierung des neuen Menschen sucht er in der biblischen Legende vom zweifelnden Thomas – während Keti Chukhrovs dramatisches Gedicht „Afghan-Kuzminki“, inszeniert von Pavel Arseniev, zeigt, wie aus den utopischen Beziehungskonzepten der 1920er-Jahre neoliberale Geschlechterkämpfe geworden sind.
"Vom Möglichkeitssinn" dockt an konkrete Orte St. Petersburger Geschichte an: Von den Bildern des Konstruktivismus und Suprematismus im Russischen Museum und der ehemaligen Wohnung der Dichterin Anna Achmatowa über eine Kirche, die konstruktivistisch zum Kulturzentrum für Post-Arbeiter umgebaut wurde, bis hin zum Stadtteil Narvskaya Zastava mit seiner beeindruckenden "Straße der Traktoren" oder dem Kleidermarkt Apraxin mit seinen undurchschaubaren Machtstrukturen, dessen Geschichte bis lang vor die Revolution reicht.
Als roter Faden zieht sich dabei die Frage nach der Rolle von Frauen in jenen Jahren durchs Programm, einer Zeit in der viele grundlegende Forderungen nicht nur gestellt, sondern (zumindest theoretisch) auch erfüllt wurden. "Vom Möglichkeitssinn" ermöglicht Begegnungen mit so gegensätzlichen Protagonistinnen wie der Avantgarde-Malerin Natalija Gontcharowa, der eher avantgarde-kritischen Poetin Anna Achmatowa oder der problematischen Figur von Maria Bochkareva, die mit ihrem Frauen-Bataillon den Zaren verteidigte. Daneben finden sich Frauen, wie die Näherin in Narvskaya Zastava, die sich in keinem Geschichtsbuch finden – oder die fiktive Aktivistin Angie O. im Theaterstück von andCompany&Co. findet. Die Forderung nach wahrer Gleichberechtigung, die in den frühen 1920er-Jahren des letzten Jahrhunderts in vielen Ländern greifbar nahe schien – sie ist noch immer eine Utopie.