Was Kunst-Interventionen der Schule geben könnten

Was Kunst-Interventionen der Schule geben könnten
Alexej Maltschuk © Goethe-Institut

Von Prof. Mona Jas

Aktuell werden in Deutschland an den verschiedenen Nahtstellen von Kultur, Bildung, Jugend und Sozialem im Kontext Kultureller Bildung zahlreiche Programme umgesetzt — und es werden mehr. Im Hinblick auf die Ausgangsfrage dieses Beitrages – was Kunst-Interventionen der Schule geben könnten – werden aus diesem Grund beispielhaft unterschiedliche Programme und Ansätze vorgestellt. Auf dieser Basis sollen die besonderen Gestaltungsmöglichkeiten eines Formats wie der künstlerischen Projektwoche und die mit ihr verbundenen Kunst-Interventionen, wie sie das Goethe-Institut St. Petersburg in Kollaboration mit dem Festival Kindertage in St. Petersburg seit 2016 kuratieren, genauer betrachtet werden.

Mit dem Begriff der Kunst-Intervention spricht der Text im Folgenden Interventionen an, die mit den Mitteln und Verfahren zeitgenössischer Kunst1 operieren. Basierend auf einem Selbstverständnis der Autonomie künstlerischer Arbeit verbinden die Protagonistinnen und Protagonisten mit Kunst-Interventionen die Absicht, in die „Bild- und Begriffsproduktion einer Gesellschaft“2 einzuschreiten. Die Intervention entfaltet sich dabei zu einem künstlerisch-politischem Prozess, der in die „neoliberale Weltordnung mit ihrer deregulierten globalen Ökonomie“3 eingreift. Initiiert werden konkrete Veränderungsprozesse in öffentlichen und privaten Räumen. Formate aktiver Partizipation und die damit verbundene Ingangsetzung dialogischer Prozesse sind der Kern der Kunst-Intervention. Daher geht es in der Regel häufiger um performative und temporäre Aktionen und weniger um bleibende Produkte und Objekte. Kunst-Interventionen im Rahmen von Schulprojektwochen bringen also diese Elemente mit sich und beziehen ihre Eingriffe auf das System „Schule“ als Spiegel der Gesellschaft. Hier Veränderungen zu initiieren – durch künstlerische Prozesse von und mit Jugendlichen – ist das Ziel. Wie sich dies im Einzelnen in den Projektwochen der Woche der Veränderungen und des ART-LABORs abspielte, soll an spätere Stelle dargelegt werden.

Zunächst erfolgt ein Blick auf zwei Programme in Deutschland: Kultur macht stark und Kulturagenten für kreative Schulen. Ersteres fördert bundesweit Angebote der Kulturellen Bildung für Kinder und Jugendliche im außerunterrichtlichen Bereich. Letzteres konzentriert sich auf die Entwicklung künstlerisch-kultureller Profile in einzelnen Schulen. Beispielhaft soll betrachtet werden, in welcher Weise Gestaltungsmöglichkeiten im Sinne von Kunst-Interventionen in Schulen im Rahmen dieser Programme vorstellbar sind und umgesetzt werden können.

Das bundesweite Programm Kultureller Bildung Kultur macht stark vom Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert seit 2013 künstlerische Angebote für Kinder und Jugendliche. Es ist hinsichtlich des Fördervolumens das bislang größte Programm in der Geschichte der Kulturellen Bildung. Es will Kindern und Jugendlichen, die in schwierigen sozialen Situationen aufwachsen – und diese machen in Deutschland immerhin ein Viertel aller Kinder und Jugendlichen aus – mit Kultureller Bildung fördern. Die Entwicklerinnen und Entwickler dieses Programms gehen davon aus, dass geringe Bildung und/oder ein niedriges Einkommen bzw. Erwerbslosigkeit der Eltern die Bildungschancen ihrer Kinder einschränken. Kulturelle Bildung soll Bildungsgerechtigkeit unterstützen. Gefördert werden „lokale Bündnisse“ auf lokaler Ebene mit mindestens drei Akteuren und folgenden Bedingungen: Die Maßnahmen richten sich an Kinder und Jugendliche zwischen drei und 18 Jahren – zeitweise wurden sie für geflüchtete junge Erwachsene bis 26 Jahre erweitert. Die Maßnahmen sind „niedrigschwellig“, um – so die Argumentation – vor allem bildungsbenachteiligte Kinder und Jugendliche erreichen zu können.

Die verfassungsmäßige Ordnung Deutschlands lässt keine Vermischung von Bundes- und Länderanliegen zu. Schule, als Aufgabe der Länder, darf daher nicht direkt gefördert werden. Die Maßnahmen im Rahmen von Kultur macht stark müssen also im außerschulischen oder im außerunterrichtlichen Bereich durchgeführt werden. Die Maßnahmen reichen von Lese- und Sprachförderung über Tanz-, Theater- und Zirkusprojekte bis hin zur Mediengestaltung und bildender Kunst – der zentrale Aspekt liegt in der Vielfalt kultureller Bildung. Folgende Wirkungen verspricht sich Kultur macht stark von der Kulturellen Bildung: sie steigert das Selbstbewusstsein, gibt Vertrauen in die eigene Fähigkeit und lässt Kinder und Jugendliche aktiv, neugierig und kreativ werden. Durch die gemeinsame Beschäftigung mit Kultur entwickeln sich Team- und Kritikfähigkeit. Kinder und Jugendliche erlernen dabei wichtige Fähigkeiten für ein erfolgreiches und selbstbestimmtes Leben.

Eingedenk der Ausgangsfrage, was Kunst-Interventionen Schulen geben könnten, bleibt anzumerken: Kultur macht stark fördert Projekte für Schulen im außerunterrichtlichen Bereich. Kunst-Interventionen können daher nicht im Rahmen von unterrichtlichen Projektwochen gefördert werden. Obgleich Kultur macht stark eine unvergleichlich große Menge an Kindern und Jugendlichen erreicht und sich dabei wesentliche Programmziele auf Teilhabe und Mitgestaltung beziehen, wird es durch den Rahmen des Außerunterrichtlichen schwierig, im System von Schule neue Perspektiven einzubringen. Ein anderer kritikwürdiger Aspekt ist die Funktionalisierung künstlerischer Prozesse. Diese werden im Rahmen von Kultur macht stark gefördert, um Bildungsungerechtigkeit entgegenzuwirken, eine Aufgabe, die nach Ansicht der Autorin anderen Stellen obliegt. Künstlerische Prozesse entfalten ihre Wirkung gerade durch die ihnen inhärente künstlerische Autonomie, jenseits einer Zielerfüllung und Programmlogiken.

Das bundesweite Modellprogramm Kulturagenten für kreative Schulen bezog sich hingegen a priori auf einzelne Schulen, insgesamt zunächst 138 an der Zahl. 2011-2015 setzten 46 Kulturagentinnen und Kulturagenten, unter anderem die Autorin selbst, künstlerische Angebote für Kinder und Jugendliche in enger Zusammenarbeit mit der jeweiligen Schule um. Das Programm Kulturagenten für kreative Schulen fand hinsichtlich seines neuen Berufsbildes der / des Kulturagentin bzw. Kulturagenten in England in den Creative Agents sein Vorbild. Innerhalb Deutschlands war und ist dieser Ansatz jedoch einzigartig. In den vier Jahren wurden im Rahmen des Modellvorhabens laut eigener Angaben über 1.200 künstlerische Projekte gefördert. Das Ziel des Programms war es, intensive und langfristige Zusammenarbeit zwischen Schulen, Kulturinstitutionen, außerschulischen Partnern sowie Kunstschaffenden aufzubauen. Die teilnehmenden Schulen benannten dafür Kulturbeauftragte in Partnerschaft mit den Kulturagentinnen und Kulturagenten.

In der zweiten Phase des Programms Kulturagenten für kreative Schulen geht es seit 2015 um einen Transfer sowie die Einbettung des Programms selbst in die Strukturen der entsprechenden Bundesländer. Dem Programm geht es um Schulentwicklung mit kulturellen Mitteln. Ästhetisch-kulturelle Praxis soll als Form der eigenen Welt- und Selbsterschließung für junge Menschen zugänglich gemacht und individuelle kulturelle Bildungsprozesse sollen ermöglicht werden.

Alleinstellungsmerkmal der Kulturagenten für kreative Schulen sind die Kulturagentinnen und Kulturagenten selbst. Die oben angerissene Zielvielfalt des Programms sowie auch die große Anzahl Beteiligter und Förderer und der damit einhergehenden vielstimmigen Agenda erschwert es, alle Ziele gleichzeitig zu erreichen. Die Kulturagentinnen und Kulturagenten bilden daher individuelle Schwerpunkte4. Die Autorin dieses Beitrags war – wie oben erwähnt – selbst als Kulturagentin tätig und hatte zuvor bereits als Künstlerin in Schulen gearbeitet. Hier war sie jedoch nicht in vergleichbarer Weise im Schulsystem integriert und konnte daher auch wenig in ihrem Sinne beeinflussen. Oft beobachtete sie Entwicklungen, zu denen sie vielfältige Ideen hatte, konnte diese jedoch nicht sinnvoll einbringen. Endete das Projekt, brachen oft auch die Kontakte zur Schule ab. In der Position als Kulturagentin konnte sich dies verändern. Sie hatte intensiven Kontakt und Austausch mit allen hierarchischen Ebenen der Schulen und auch der Kulturinstitutionen. Dies verschaffte ihr großen Freiraum als Künstlerin. Sie konnte künstlerische Strategien nutzen, um zu provozieren und Situationen zu gestalten, in denen bestehende Normalität plötzlich fragwürdig wurde. Auch das Arbeiten mit performativen Strategien in der Schule als öffentlichem Ort und das Kuratieren im Schulraum gelang. Gleichzeitig konnten dekonstruktive Verfahren genutzt werden, die die eigene Praxis hinterfragten und neue kreative Situationen schufen5.

Diese künstlerischen Ansätze und Kunst-Interventionen wurden durch die Struktur des Programms Kulturagenten für kreative Schulen ermöglicht. Gleichzeitig steht die geschilderte Konstellation nicht exemplarisch für alle Projekte des Programms, welches, wie erwähnt, zahlreiche weitere Ziele verfolgt.

Die künstlerischen Projektwochen im Rahmen der Woche der Veränderungen (2016-2017) und des ART-LABORs (2018), kuratiert von Daria Kononetc (GI St. Petersburg) und Julia Potselueva (Kindertage in St. Petersburg) knüpfen mit ihren Kunst-Interventionen hingegen an genau diese Aspekte künstlerischer Strategien an. Die im Folgenden geschilderten Gesichtspunkte entstammen Beobachtungen der Projekte sowie Befragungen ihrer Beteiligten. So wurden die in den Projektwochen aktiven Kunstschaffenden von den beiden Partnerorganisationen ausgewählt und eingeladen, welche auch den Dialog mit den respektiven Schulen in Gang gesetzt und diese aus einer großen Anzahl an Bewerbungen im Raum Nordwestrusslands ausgewählt hatten. Daraus resultierte folgender Rahmen:

Im Zeitraum von sechs Tagen führte ein Team von vier bis zehn Kunstschaffenden Projekte mit Gruppen der Oberstufenschülerschaft (9. - 10. Klasse) der ausgewählten Schulen durch. Die Anreise in die jeweilige Stadt erfolgte sonntags und bereits an diesem Tag fand das erste Treffen in der Schule mit der Leitungsebene und den aktiven Lehrkräften statt. Vergleichbar der Kulturbeauftragten war eine Lehrperson die Ansprechperson für alle Belange der Projekte. Die Jugendlichen konnten sich aus den zuvor vermittelten Projekten eines für ihre Teilnahme auswählen. Die gemeinsame Arbeit begann am Montag mit einer partizipativen Recherche und der Ermittlung der künstlerischen Interessen sowie den Wünschen nach Veränderung der Schule. Die folgenden Tage dienten dann der partizipativen Entwicklung und Umsetzung dieser Veränderungswünsche im Dialog mit den anderen Interessensgruppen der Schule. Der letzte Projekttag war zugleich auch der längste. Am Freitag wurden die künstlerischen Arbeiten beendet. Hier fanden oft noch intensive Arbeiten statt, die in einer Präsentation für alle Beteiligten am späten Abend mündeten, welche mit einer Party beschlossen wurde.

Die Kunst-Interventionen wirkten wie Sprengstoff und veränderten die gesamte Atmosphäre der Schule. Diese Intensität hatte die Autorin in keinem der Projekte aus den beiden zuvor beschriebenen Programmen erleben können. Ihr schien es, als hätten die Kuratorinnen die Elemente des Kulturagenten-Programms genutzt, um in das System Schule einzudringen und auf diese Weise Kunst-Interventionen umzusetzen. Die Kuratorinnen nahmen dabei die professionelle Vermittlungsfunktion zwischen den Systemen auf der Basis kontinuierlicher Reflexion und Moderation unterschiedlicher Interessen der beteiligten Akteure und Stakeholder wahr. Da sie keinem der Systeme direkt verpflichtet waren, konnten sie unabhängig handeln und unbequem sein. Mit den (mit denen des Kulturagentenprogramms vergleichbaren) Strategien des Kulturmanagements, der Kulturpädagogik und der Künste schufen sie in dieser Weise für alle Beteiligten Erfahrungen von großer künstlerischer Qualität.

Darüber hinaus wurde die Kuration der Woche der Veränderungen und des ART-LABORs der Komplexität und Differenziertheit der einzelnen Kunst-Interventionen durch den praxisbasierten Einbezug verschiedener Fragen gerecht. Gefragt wurde nicht nur danach, ob ein Ziel erreicht wurde, sondern auch, wie die Prozesse verliefen, unter welchen Umständen etwas glückte und wann nicht. Zugleich ging es nicht um Bewertungen, sondern um in die Zukunft gerichtete Vorschläge. Das implizite Expertenwissen der Künstlerinnen und Künstler hatte hohen Stellenwert und fand zentralen Einbezug in die Gesamtkuration aller Projektwochen. Die kontinuierliche Selbstevaluation und Selbstreflexion war ein fester Bestandteil der Projektwochen. Hiervon könnten künstlerisch-kulturelle Programme in Deutschland lernen.

1 Das Feld der zeitgenössischen Kunst erweitert sich ständig in Einbeziehung anderer Disziplinen und Künste, öffnet sich gegenüber Alltag und Erfahrung (vgl.: Foster H. Questionnaire on “The Contemporary” // October. 2009. Vol. 130. Pp 3–124; Rebentisch J. Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung. Hamburg, 2013. S. 25 ff.).
2 Geene S. Interventionismus und Aktivismus // Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst. Köln, 2006. S. 40.
3 Ebd. S. 41.
4 vgl.: Mandel B. Kulturagenten für kreative Kulturinstitutionen? Über Veränderungsprozesse in Kultureinrichtungen und die Rolle von Kulturagenten // Mission Kulturagenten — Onlinepublikation des Modellprogramms „Kulturagenten für kreative Schulen 2011–2015“. Berlin, 2015. S. 6.
5 vgl.: Jas M. Künstlerische Strategien in meiner Arbeit als Kulturagentin // Modellprogramm „Kulturagenten für kreative Schulen 2011–2015“. Essen, 2015.

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