Politik und Tanz als eine Empowerment-Erfahrung
ART-LABOR sprach mit Katharina Iva Nagel, Tanzkünstlerin und Diplom-Politologin aus Berlin, über die Beziehung zwischen Tanz und Bildung und ihre Teilnahme am Projekt „Woche der Veränderungen“ in zwei Städten im Nordwesten Russlands.
Sie haben zuerst Politik und dann Tanz studiert, zwei an sich grundverschiedene Studiengänge. Wie verbinden Sie diese Gegensätze in Ihrer Arbeit?
Für mich liegen diese Bereiche nicht so weit voneinander entfernt. Viele politische Themen lassen sich im oder am Körper verorten, wie Themen um Identität und Diskriminierungserfahrungen. Und gleichzeitig können politische Themen durch den Körper künstlerischen Ausdruck finden. Auf der Bühne kommt beides perfekt zusammen - die Gefühle, der Körper und der künstlerische Ausdruck bilden eine Einheit. In der Praxis hat solch eine Arbeit mit dem Körper eine „empowernde“ Wirkung und ist damit auch wieder politisch. Das zeigte sich beispielsweise auch in der Arbeit im Uppsala Zirkus in St. Petersburg mit benachteiligten Kindern. Da kommt es zunächst auf ganz simple Sachen an, wie z.B. die Möglichkeit den eigenen Körper wild oder schnell zu bewegen und laut – und damit expressiv zu sein. Allein das ist schon revolutionär, weil sonst Laut-Sein ja oft verboten ist und die lauten Kinder in der Schule die „bösen“ oder gar die „Problemkinder“ sind. Auf der Bühne, sowie generell im Tanz und Theater, ist das hingegen eine wichtige Qualität. Mit der Energie Kinder wird gearbeitet und diese positiv konnotiert – das ist für mich schon sehr politisch.
Ähneln sich Ihrer Meinung nach die Methoden der Tanz- und der Theaterpädagogik? Man weiß, dass im Theater Menschen auch ohne Theater-Hintergrundwissen an einem Theaterstück mitwirken können. Im Tanz als Bewegungskunst gibt es hingegen eine Trennlinie zwischen denen, die tanzen können und denen, die es nicht können.
Das sehe ich anders. Ich beschäftige mich mit Tanzimprovisation, bei der es vor allem darum geht, eigene Ideen zu entwickeln und den eigenen Körper wahrzunehmen. Dort gibt es kein richtig oder falsch, wie das bei Schritten und Positionen im Ballett der Fall ist. Tanzimprovisation benutzt den Körper um sich selbst, Gefühlen und Unaussprechlichem Ausdruck zu verleihen. Da kann man dann auch hässliche Bewegungen machen – zentral ist ein Körperbewusstsein zu entwickeln. Das kann man lernen, das ist ein Training; den eigenen, den fremden Körper wahrzunehmen, in Austausch zu treten, nicht einfach nur eine Abfolge von Bewegungen wiederzugeben.
Ich sage immer, ich tanze, um Jenes auszudrücken, was man mit Sprache nicht erfassen kann. Tanz ist einerseits ein poetischer Raum – ein Raum um sich selbst auszudrücken, und andererseits ein Raum zum Geschichtenerzählen. Ähnlich wie bei Musik, die einen ansprechen kann, ohne dass man sie verstehen muss, aber wenn sie dich anspricht, berührt sie dich. Du stehst in Kommunikation mit der Musik, sie macht etwas mit dir; so ist es auch mit dem Tanz. Kinder verstehen vielleicht nicht das intellektuelle Konzept hinter dem Ganzen, aber solange sie sich selbst ausdrücken können und jemanden damit berühren, müssen sie das auch gar nicht, dann funktioniert das auch so.
Was genau verstehen Sie unter „Empowerment“?
Bei Empowerment handelt es sich um einen feststehenden Begriff, den ich allerdings etwas freier auslege. Ich benutze ihn in der Bedeutung, sich seiner Stärken und Kräfte bewusst zu werden. Der Begriff kommt aus der Antidiskriminierungsarbeit: das Erkennen eines Diskriminierungsgrundes hilft, sich von ihm zu distanzieren. Ganz vereinfacht, wenn sich z.B. eine Frau bewusst macht: „ich bin stark, obwohl ich ein Frau bin.“
Das Ziel ist eine Persönlichkeitsentwicklung in Richtung Anerkennung anzustoßen. So eine konnten man beispielsweise im Uppsala Zirkus gut beobachten: Ich mache verrückte Sachen auf der Bühne, obwohl ich einst ein Straßenkind war und das gibt mir Stolz, Kraft und Freiheit. Freiheit auch im Sinne mit gesellschaftlichen Erwartungen zu brechen und z.B. als Mädchen oder Frau krasse Bewegungen auf der Bühne zu machen und sich dabei cool zu fühlen und nicht gezwungenermaßen sexy zu tanzen.
Es existieren bereits Theaterprojekte, die Jugendlichen helfen zu erkennen, dass Theater auch für sie interessant sein kann, dass es nichts Fremdes oder Elitäres ist. Kennen Sie ähnliche Projekte aus dem Tanz?
Großartige Choreographen, wie z.B. Pina Bausch, arbeiten immer wieder mit Amateuren zusammen und zeigen, dass es keine Grenze zwischen dem sozialen Rang des Publikums und dem der Tänzer gibt. Mich ärgert manchmal diese Trennung, ich finde, die Produktion von Kunst gehört Allen. Erst vor kurzem habe ich ein großes „site-specific“,d.h. orts-spezifisches, Projekt zusammen mit der Berliner Staatsbibliothek organisiert. Mit Jugendlichen aus Reineckendorf, einer vom Berliner Zentrum eher weit entfernteren und sozial benachteiligten Wohngegend, sind wir in diesen sehr berühmten und durchaus auch elitären Ort der Staatsbibliothek gefahren und haben dort eine Tanztheater Performance entwickelt und auch vor Ort aufgeführt . Das war eine tolle Erfahrung, das Zusammentreffen von Jura- und Medizinstudierenden, die einen ganz anderen sozio-kulturellen Hintergrund haben, mit den Jugendlichen, die diesen Ort zum ersten Mal gesehen haben.
Anschließend haben wir mit den Jugendlichen noch ein zeitgenössisches Tanztheaterstück besucht. Das war für sie wichtig zu sehen, dass auch Andere diese Art Theater machen. Mehrere Teilnehmerinnen haben auch nach diesem Projekt noch weiterhin solche Theaterstücke angesehen und selbst darin mitgespielt. Das Projekt hat diese Hemmschwelle vor zeitgenössischen Produktionen abgebaut, also dass diese Theaterform bloß Quatsch ist, wo die Schauspieler sich schreiend auf den Boden werfen oder so ähnlich.
Kennen Sie vielleicht Beispiele ähnlicher Projekte?
In Berlin gibt es die Initiative „KulTür auf!“. Eine Kampagne, die dasselbe Ziel verfolgt hat: Jugendliche, aus Theaterprojekten wie dem unseren, sollen die großen Theater besuchen. Einmal jährlich wird bekannten Theaterhäusern wie dem Gorki Theater und dem HKW in Berlin ein Festival veranstaltet, bei dem viele solcher Jugendprojekte aufgeführt wurden. Dabei steht allerdings nicht der Charity-Gedanke im Vordergrund, sondern der Dialog. Ich habe für die Initiative auf dem FESTIWALLA 2011 ein Podium organisiert, zu dem bedeutende deutsche Regisseure und Intendanten gekommen sind und sich den Fragen der Jugendlichen gestellt haben. In Berlin ist das derzeit eine große Diskussion, wie das Theater sich ändern kann, um ein möglichst diverses Publikum in die Häuser zu locken.
Denken Sie, dass Tanzpädagogik als Nebenziel haben kann, Tanzen an sich näherzubringen?
Für mich gehen diese Dinge Hand in Hand. Tanzpädagogik ist Tanz und Mittel kultureller Bildung: Tanz kann der Selbstverwirklichung dienen und gleichzeitig ein Bestandteil des Alltags und ein künstlerisches Prozess sein. Natürlich nicht immer, aber vor allem bei größere Stücken ist es für Jugendliche toll beim dramaturgischen Prozess mitzuwirken. Weil dabei Fähigkeiten gefördert und Stärken nutzen werden, die sonst nicht gezeigt werden können.
In St. Petersburg als sehr historischen Stadt findet sich viel klassischer Tanz auf den Bühnen und eher wenig Angebot für kulturelle Bildung in dieser Sphäre. Wie ist das in Deutschland? Beziehen die großen Tanztheater und Tanzfestivals das Publikum in ihre Projekte ein?
Diese Frage ist schwierig zu beantworten. Einerseits ist es einfach Menschen mit Tanz zu erreichen, zumal es in Berlin, meiner Heimatstadt, eine große alternative Tanz- und Off-Szene mit vielen kleinen Projekten und Kollektiven gibt. Auch wenn – wie in vielen Bereichen in Berlin – wenig Geld da ist, ist viel los. Andererseits sind in dieser Szene Jugendliche oder Leuten aus dem Kiez wenig vertreten. Es gibt zwar viele Freiheiten, was schön ist, diese sind aber auch immer von Lobbyarbeit abhängig.
Eine landesweite Aktion aus dem tanzpädagogischen Raum ist z.B. die Aktion „Tanz in Schulen“. Das ist eine vom Bundesverband aktiv geförderte Möglichkeit für Schulen ein halbes Jahr lang kostenlosen Tanzunterricht zu erhalten. In einem ähnlichen Rahmen habe ich vor kurzem in einer Schule eine Klasse mit Geflüchteten unterrichtet. Vier Tage lang habe ich mit ihnen von morgens bis abends getanzt. Es war nicht immer leicht, am Anfang standen die Kinder dem Konzept sehr skeptisch gegenüber. Aber schlussendlich haben wir zueinander gefunden, das war sehr schön.
Könnten Sie das methodische Vorgehen ihrer Workshops an den Schulen im Rahmen der Projektwoche kurz beschreiben?
Die Workshops vereinten verschiedene Ziele, die sich auch in der methodisch vielfältigen Umsetzung des Workshopprogramms wiederspiegelten. Wesentlich war der Ansatz der Prozessorientierung, der es ermöglichte auf die Interessen und Themen der Jugendlichen im Laufe des Workshops einzugehen.
Im Programm wechselten sich Elemente des Tanztrainings (Einführung in die Tanzimprovisation und die körperliche Selbstwahrnehmung) Performancetrainings (Übungen zur Gruppen- und Raumwahrnehmung) und inhaltliche Auseinandersetzung (kreative Schreibübungen und Diskussionen) ab. Die letzten beiden Tage waren der Realisation der Performance vorbehalten und bildeten einen offenen und partizipativen Rahmen, in dem neben der intensiven Probenarbeit auch das gemeinsame Entscheiden über den dramaturgischen Ablauf im Vordergrund stand.
Wie schätzen Sie die Realisation ihrer Workshops an den russischen Schulen in Archangelsk und Murmansk ein? Konnten Sie die Ziele der Workshops im Allgemeinen erreichen?
Die Workshops „Raum Umdenken – Tanzimprovisation und Site-Specific Performance“ konnten erfolgreich und wie geplant realisiert werden. Die Workshops hatten zum Ziel die körperliche Selbstwahrnehmung zu trainieren und eine Einführung in die Tanzimprovisation zu geben, mit deren Hilfe die Schüler*innen die Aspekte Raum, Zeit und Dynamik in der Bewegung erforschen sollten. Ein weiteres Ziel war die Erkundung des Raumes „Schule“ in seinen verschiedenen Facetten – Architektur, Funktion, soziale Nutzung, Atmosphäre. Hier ging es vor allem darum, die Jugendlichen zu einer Auseinandersetzung mit Themen wie Lernräume, Zukunftswünsche und Rollen innerhalb der Schule anzuregen und neue Perspektiven auf einen täglich genutzten Raum zu entwickeln. Anschließend wurde aus dem erarbeiteten Material eine site-specific, also ortsspezifische, Performance im ganzen Schulhaus entwickelt, die durch Verschiebung und Verfremdung der Raumnutzung mit Tanz, installativen Elementen, Text und Musik eine Art poetischer Kommentar der Forschungsergebnisse der Schüler darstellte.
In Archangelsk stand durch das große Interesse der Jugendlichen die Arbeit an der tänzerischen Improvisation im Vordergrund. Hierbei möchte ich besonders die Offenheit und Bereitschaft der Jungen, sich diese neue Ausdrucksform anzueignen, hervorheben – was in dem pubertären Alter von 15 und 16 Jahren keineswegs selbstverständlich ist! Ein zweiter Schwerpunkt bildete die dramaturgische Umsetzung der Ideen im Schulgebäude: dank der Offenheit des Lehrpersonal unserer Arbeit gegenüber konnten wir schließlich in einem Klassenzimmer tanzen, im Lehrerzimmer das Publikum empfangen und die Performance mit Tee und utopischen Gedanken gemeinsam beenden.
In Murmansk entwickelte sich der Fokus des Workshops auf den tänzerischen Ausdruck und die künstlerische Umsetzung der Themen der Schüler sowohl in den choreografischen Elementen als auch in den verschiedenen Räumen im Schulgebäude. Inhaltlich kreiste der Workshop und die Performance um die Themen Fließband/Routine, Gefangen-Sein/Frei-und-Neu in einer Situation-Sein. Dies bildete einen klaren Bezug zur gegenwärtigen Situation der Schüler: die Gruppe bestand zu zwei Drittel aus in diesem Schuljahr neuen Schülern und vereinte viele unterschiedliche Charaktere. Daher bildete der Aspekt der Gruppenfindung auch einen wichtigen Teil der Arbeit. Besonders ist der große Enthusiasmus und Einsatz der Jugendlichen für die Realisation der Performance hervorzuheben, die sich unter anderem in freiwilligen extra Proben und einer energiegeladenen Abschlusspräsentation mit starken emotionalen und tänzerischen Momenten zeigten.