Berlinale Blogger 2019
Fortschritt im Tal der Ahnungslosen
Der Beitrag des 29-jährigen Florian Kunert ist einer der originellsten, lustigsten und zugleich melancholischsten Filme der Berlinale 2019.
Von Andrea D’Addio
Für seine Auseinandersetzung mit der Geschichte Ostdeutschlands bedient sich der junge Regisseur eines besonderen Kniffs. Er wendet sich an eine Gruppe syrischer Flüchtlinge aus einem Integrationskurs, um durch sie und mit ihnen vom Fortschritt im Tal der Ahnungslosen zu erzählen. Der Titel verweist auf jene Region in Sachsen, östlich von Dresden, die zu Zeiten der DDR am weitesten von der BRD und Westberlin entfernt war. Hier konnte kein Fernseh- und kein Radiosignal aus dem Westen empfangen werden. Die einzigen Informationen, die es gab, hatten zuvor die Zensur des Regimes passiert. „Da wir nichts wussten, waren wir glücklicher als andere“, erzählt eine Frau. „Auch wenn es nicht so scheint, ist das heutige System viel brutaler“, bestätigt ein Mann bitter. „Wenn ich in Berlin oder Hamburg durch die Straßen gehe, sehe ich viele Obdachlose und viel Verzweiflung. Das gab es in der DDR so nicht“.
Von Honecker bis Pegida
Im Kontext dieser „Ostalgie“ spielt Kunerts Film. Er hat einige syrische Flüchtlinge eingeladen, sich auf ein spielerisches Experiment einzulassen. Die Gruppe absolviert gerade einen der für Asylwerber obligatorischen Integrationskurse, in denen deutsche Sprache und Kultur unterrichtet wird. Nun sollen die Syrer einige für den DDR-Alltag typische Situationen kennenlernen und selbst nachspielen, angefangen beim Fahren eines Trabants über den Gruß in der Klasse bis hin zum Salutieren. Schauplatz ist die verlassene Fabrik eines ehemaligen Kombinats im sächsischen Neustadt. „Das Leben war damals sicher nicht einfach. Das Konzept ‚Freiheit‘ gab es nicht“, meint ein junger Flüchtling aus Aleppo nach einem Vortrag über die Organisation der Stasi.Auf institutioneller Ebene klappt die Aufnahme der Gruppe in Deutschland reibungslos. Von Seiten einiger Bewohner der Region ist der Empfang weniger freundlich. Die Syrer finden Schweinefleisch in ihren Briefkästen und nachts werden ihre Fenster mit Laserlicht angestrahlt. Tatsächlich gilt Sachsen heute als das Bundesland der Anti-Migrations-Demos der Pegida und des Wahlerfolgs der Alternative für Deutschland. Vergessen ist das Jahr 1978, als dieselben Menschen jubelnd den Besuch von Hafiz al-Assad, dem Vater von Baššār al-Assad feierten, und Honecker die Freundschaft zwischen dem Staat Syrien und der DDR betonte. Diese Menschlichkeit, die das „Tal der Ahnungslosen“ damals kennzeichnete, hat sich in Wut gegen Ausländer verwandelt. Ob man vor diesem Hintergrund tatsächlich von „Fortschritt“ sprechen kann, ist fraglich.