Berlinale-Blogger 2019
„М – Eine Stadt sucht einen Mörder” und „8 Tage”: eine österreichische und eine deutsche Serie über den Vorgeschmack vom Ende der Welt
Europäische Filmfestivals lassen Serien nur ungern in ihre Paläste. Das Berliner Filmfestival ist eine Ausnahme.
Von Egor Moskvitin
Europäische Filmfestivals lassen Serien nur ungern in ihre Paläste. Cannes machte in den letzten Jahren lediglich für Jane Campion und ihr „Top of the Lake“ sowie für David Lynchs „Twin Peaks“ eine Ausnahme. Und Venedig beschränkte sich im letzten Jahr auf das Zeigen von „My brilliant Friend“, welches von seinem Liebling Paolo Sorrentino produziert wurde. Das Berliner Filmfestival ist eine Ausnahme. In seinem Programm „Berlinale Series“ kann man sich immer vor den spitzfindigen Autorenfilmen des Hauptwettbewerbs zurückziehen und ein bisschen entspannen. Und gleichzeitig etwas Neues aus dem alltäglichen Lebe
In „8 Tage“ spielen die Himmelskörper mit Europa einen schlechten Scherz: ein Meteorit, der von amerikanischen Raketen nicht zerstört werden konnte, soll in Frankreich niedergehen, und nach den Prognosen von Wissenschaftler*innen wird nur die Alte Welt davon in Mitleidenschaft gezogen. Daher werden die Europäer*innen zu Flüchtenden. Diejenigen, die Geld und Beziehungen haben, fliegen in Chartermaschinen in die USA. Die übrigen vertrauen sich kriminellen Schleusern an, die ihnen Zuflucht in Belarus und Russland versprechen. In den Nachrichten wird berichtet, dass die russische Armee an der Grenze auf Zivilist*innen schießt – doch nach dem Konsum von Hollywood-Filmen können sich unsere Zuschauer*innen damit nicht abfinden. „8 Tage“ ist nicht nur eine dynamische Serienreihe, sondern auch eine Familiensaga. Würde sich nicht das Herannahen eines Meteoriten am Horizont abzeichnen, könnten ihre Protagonist*innen genauso gut ein Leben mit genau den gleichen Problemen führen wie die Besetzung eines beliebigen anderen „Santa Barbara“: Intrigen im Job, Seitensprünge, unerwiderte Verliebtheiten, Generationenkonflikte. Aber nun ist eben das Ende der Welt nahe, und darum eilen die Protagonist*innen in unterschiedliche Richtungen. Die einen in die Kirche, die anderen in einen belorussischen Wald, wieder andere aufs Polizeirevier oder auf eine grandiose Party.
„М – Eine Stadt sucht einen Mörder” ist die aktuelle Interpretation eines Krimis von Fritz Lang, der 1931 ein Blockbuster war, aber schon 1934 durch die neuen Machthaber verboten wurde. Die Serie setzt sich mit dem gleichen schwierigen Thema auseinander wie auch der Film: damit, in welcher Geschwindigkeit und mit welchem Enthusiasmus sich eine gutgestellte Gesellschaft, die in Angst vor einer äußeren Bedrohung lebt, von ihren Überzeugungen lossagt. In Wien herrscht ein unnormal schneeträchtiger Winter – und eine Saison des Mordens. Ein Unbekannter verschleppt erst ein Migrantenmädchen, später verschwindet ein Kind aus einer begüterten österreichischen Familie. Jeder verdächtigt jeden.
Es sei gleich vorweggenommen: Die Serie „M“ ist großes Kino und große Literatur – die Serie „8 Tage“ in erster Linie ein grandioser Spaß. Was also ist interessanter und sollte zuerst vorgestellt werden? Natürlich die Unterhaltung. Der hauptsächliche Reiz von „8 Tage“ liegt darin, dass die Serie nach dramaturgischen Gesetzen abgedreht wurde, die schon vor 15 Jahren bei „Lost“ Anwendung fanden. Sie ist kein langsames psychologisches Drama wie diejenigen, die heute den Ton angeben, sondern eben ein actionreicher Thriller. Irgendetwas Schockierendes, Angst machendes oder einfach nur Intrigantes passiert hier in jeder Minute. Und die großzügige Chronometrie und die Fülle an Protagonist*innen erlauben es der Serie, die unterschiedlichsten Lebensstrategien vor dem Hintergrund eines Endes der Welt schnell mal durchzuspielen. Manch einer verlebt seine letzten Tage wie die Hauptfiguren aus „Melancholia“ von Lars von Trier. Ein anderer macht sich zu einer Orgie auf, wie die Protagonist*innen des australischen Dramas „These Final Hours“. Und wieder ein anderer trägt einfach weiterhin seine Polizeiuniform und macht Jagd auf Diebe. In „8 Tage“ gibt es eine Menge interessanter sozialer und psychologischer Beobachtungen, doch in erster Linie ist die Serie ein ehrliches und schrilles Vergnügen. Das ist im gegenwärtigen Fernsehen eine große Seltenheit, die sich selbst auch sehr ernst nimmt. Kurz: eine ideale Serie, die man gut in Gesellschaft anschauen kann.
Mit „M“ ist das alles etwas komplizierter. Der Originalfilm von Fritz Lang wird als der vielleicht erste Krimi angesehen, dessen Geschichte einen Antihelden – nämlich den Mörder kleiner Mädchen – zur zentralen Figur macht. Die Polizei und die kriminelle Welt suchen um die Wette nach dem Verbrecher. Alle Einwohner*innen werden zu wachsamen Informant*innen. In einer der bekanntesten Szenen des Films wird ein Verdächtiger geradezu „abgestempelt“, indem ihm unbemerkt auf die Schulter geklopft und der Buchstabe „M“ angeheftet wird. Die Regierung ist machtlos, weil die Funktion einer Schattenregierung bei Fritz Lang von Banditen aufrechterhalten wird. Nachdem sie den Irren gefangen haben, bestrafen sie ihn nicht einfach nur, sondern organisieren ein richtiges Gericht mit Anklägern und Anwälten. Erforscher*innen politischer Subtexte bei Fritz Lang sind der Meinung, dass sein „M“ das historische Portrait einer Gesellschaft kurz vor der Einrichtung einer Diktatur sei. Darum ist die Übertragung dieses Sujets in das Jahr 2019 schon für sich genommen eine scharfsinnige Provokation. Wollen die Autor*innen damit etwa sagen, dass wir heute das Jahr 1931 schreiben?
Doch wer die Psychologie der Filme von Fritz Lang interessanter findet, erinnert gerne daran, dass der Regisseur als Spross einer Familie österreichischer Intellektueller unter dem Einfluss der Wiener Gesellschaft für Psychoanalyse gearbeitet hat. Biograf*innen schreiben, dass Lang im Jahr 1919, als er seinen ersten Film drehte, die sich wiederholenden Plakate auf den Straßen der deutschen Hauptstadt faszinierten. Dort war zu lesen: „Berlin, dein Tänzer ist der Tod“. Der Film und die Serie „M“ befinden sich im Bann eines Aufeinanderprallens von Bürger*innen und dem Tod, und in einem gewissen Sinne ist auch dies eine Geschichte vom Ende der Welt. Und zwar eine mit einem sehr ungewöhnlichen Stammbaum. Als Vorläufer der Serie kann man beispielsweise den Roman „Die jungen Löwen“ von Irwing Shaw anführen, der den Zweiten Weltkrieg behandelt. Er beginnt mit dem weihnachtlichen Karneval in einem Alpendorf. Doch mit dem Herannähern der Geisterstunde verwandelt sich der fröhliche Festzug plötzlich in eine Parade von Dämonen, und die Bürger*innen verlieren ihre menschliche Gestalt. Höhepunkt dieses gruseligen Festivals wird um ein Haar die sexuelle Gewalt gegen eine amerikanische Touristin, welche bis dahin den Status einer Österreicherin innehatte.
In der Serie „M“ werden die Protagonist*innen von ähnlichen Ängsten heimgesucht. Die grausame Betreiberin eines Bordells zwingt eine Prostituierte, die sich etwas zuschulden hat kommen lassen, zum Oralverkehr mit einem Kaktus. Die schwangere Geliebte eines Protagonisten lacht darüber, dass dieser seine Tochter verloren hat, wegen derer er seine Familie ursprünglich nicht hatte verlassen wollen. Die schmucke Stadt wird in eine angstvolle Finsternis getaucht. Selbst wenn „M“ nicht mit Stars auf dem Niveau von Lars Eidinger, Udo Kier und Moritz Bleibtreu (aus „Knockin´ on Heaven´s Door“) besetzt wäre, wäre diese Serie ein internationales Ereignis – denn sie bemüht sich um die Ergründung eines nicht greifbaren, aber für alle sehr wichtigen Themas.