Berlinale-Blogger 2019
Interview: Egor Moskwitin über die Berlinale

Egor Moskvitin
Egor Moskvitin | Egor Moskvitin

Berlinale-Blogger aus Russland Egor Moskwitin reflektiert, was bei der nächsten Berlinale anders sein sollte, worin der Unterschied zwischen der männlichen und weiblichen Dramaturgie besteht und inwiefern soll die Kunst politisch sein.

Was sollte 2020 anders werden?

Wechselzeit bei der Berlinale! 2020 folgt auf den langjährigen Festivaldirektor Dieter Kosslick ein neues Team: Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek. Was sollte bei der nächsten Berlinale anders werden?

Ich möchte, dass das Festival so bleibt, wie es ist – maximal unvorhersehbar. Wenn die Kritikerinnen und Kritiker nach Venedig und Toronto fahren, wissen sie, dass sie sich auf eine Parade intellektueller Publikumsfilme gefasst machen müssen, auf eine Art Wiederholung der „Oscars“. Beim „Sundance“ wissen sie, dass sie einfache, mit Humanismus gespickte Geschichten erwarten. Und wenn sie dann schlussendlich nach Cannes aufbrechen, sind sie darauf vorbereitet, dass irgendjemand für sie den Film des Jahres erschaffen hat. Nur Berlin bleibt eine Überraschung. Hier ist jede Zuschauerin und jeder Zuschauer selbst Programmdirektorin und Programmdirektor. 
 

Sollten Filme Position beziehen?

Vielerorts ist die gesellschaftliche und politische Lage unruhig. Das Verhältnis zwischen Politik und Kunst wird stark diskutiert. Sollten sich Filmschaffende noch stärker politisch positionieren?
 
Die Kunst ist suggestiv: Sie kann Zuschauern ein Muster an Gedanken und Handlungen vorgeben. Deshalb sind Kritikerinnen und Kritiker so begeistert von Filmen, die die politische Position der Autorinnen und Autoren widerspiegeln. Es ist mir wichtig, dass die professionelle Community den Regisseurinnen und Regisseure auch Freiheiten lässt – darunter die Freiheit, sich an aktuellen Debatten zu beteiligen oder nicht und das Recht, in der Zukunft zu leben, nicht in der Gegenwart. Die politisch aufgeladenen Filme, die mich in diesem Jahr begeistert haben, sind Official Secrets und The Report (Sundance Film Festival) sowie Vice und Grâce à dieu (Berlinale). 

Mir gefällt, dass jeder von ihnen sich nicht in eine erhitzte Publizistik hineingesteigert, sondern sich seine kinematographische Integrität und Wertigkeit erhalten hat. Der Film von François Ozon ist wahrhaft große französische Literatur. Der Film von Adam McKay ist das Beispiel einer Stilentscheidung, die es ermöglicht, in verständlicher und doch faszinierender Sprache schwierige Themen zu behandeln.
 

Starke Frauen – eine „andere“ Berlinale?

In der Presse war zu lesen, die diesjährige Berlinale sei ein „Festival der Frauen“. Hat die starke weibliche Perspektive in diesem Jahr schon zu Änderungen vor oder hinter den Kulissen geführt? 
 
Ich glaube nicht an die Existenz von Männerfilmen und Frauenfilmen – zum Glück leben wir in einer Welt, in der Kathryn Bigelow Zero Dark Thirty drehen konnte, und Pedro Almodóvar Alles über meine Mutter. Mir gefällt, was kürzlich bei der Abschlusszeremonie des Sundance Film Festivals zu hören war: „Die männliche Dramaturgie ist so ähnlich wie der männliche Orgasmus: Sie besteht aus Eröffnung, Entwicklung und Kulmination. In einer Dramaturgie, die von einer Frau gestaltet wurde, gibt es eine climax (das Wort climax steht im Englischen für den weiblichen Orgasmus und auch den dramaturgischen Höhepunkt einer Geschichte) nach der anderen – und das bis in die Unendlichkeit.“ Übrigens: Im neuen russischen Filmwesen sind weibliche Regisseurinnen viel aktiver als ihre männlichen Kollegen. So sind schon im Jahr 2014 etwa 70 % der Filme auf unserem großen Independent-Filmfestival von Frauen gedreht worden. Doch die Vorauswahl-Jury der internationalen Festivals zieht es vor, Männer aus Russland einzuladen – mit seltenen Ausnahmen wie den Regisseurinnen Natalja Merkulowa (The Man Who Surprised Everyone) und Natalja Meschtschaninowa (Core of the World). Ich hoffe, dass eines Tages auch diese Ungerechtigkeit ausgeglichen wird.

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