Andrei Iakimov
Von Grenzen und davon, sie zu überwinden
Sozialpolitische und wissenschaftliche Diskussionen um Migrationsprozesse machen uns zunehmend glauben, wir lebten in einer Epoche, die instabil und unbeständig ist wie keine zuvor. Wir sehen die Welt aufgeteilt in einen Globalen Norden und einen Globalen Süden – Begriffe, die Wissenschaftler und Politiker des 20. Jahrhunderts in damals neuen Thesen erschufen. Und so hält sich bei der breiten Masse die Vorstellung eines weltweiten Konfrontationsverhältnisses: Zitadellen des Wohlstands, geprägt von Ordnung, Hochkultur und niedrigen Geburtenraten, erwehren sich gleichsam nach dem Willen der Geschichte des Ansturms eines brodelnden demografischen Chaos aus der in Armut und Konflikten verhafteten Dritten Welt. In einem solchen Gedankensystem entstehen Begriffe wie „Festung Europa“, die anstürmenden Flüchtlingen trotzt; und unter diesem Eindruck sehen wir die Phänomene „Grenze“ und „Migration“ wie eh und je als einander gegenüberstehende Inkarnationen von Ordnung und Konfusion, Beständigkeit und Instabilität, Norm und Abweichung, Prosperität und Krise, Sorglosigkeit und Bedrohung, Ruhe und Bewegung.
Was aber, wenn wir uns irren? Was, wenn alles anders ist, als es scheint?
Erstaunlicherweise nimmt trotz aller Errungenschaften in Wissenschaft, Kultur und Technik die Zahl der uns umgebenden Grenzen stetig zu. In unserem Alltag begegnen wir immer neuen Schranken und damit Einschränkungen: angefangen von den allgegenwärtigen Drehkreuzen, Kontrollpunkten, Eisentüren und von Zäunen eingefassten Grundstücken bis hin zu neuen Rechtslagen, Posten, Ämtern und Affiliationen, die dazu führen, dass soziale Hierarchien an Zahl, Höhe und Komplexität zunehmen. Kaum entstehen neue unabhängige Staaten, erscheinen alsbald auch neue besondere Visabestimmungen, politische Restriktionen, Machthaber, die gegenseitige Anerkennung und Nicht-Anerkennung, sowie neue Ausweise und Pässe verschiedenster Farben und Formate. Je mehr Dokumente wir jedoch im Alltag benötigen, desto kürzer ist die Dauer ihrer Gültigkeit und desto schwieriger wird es, sie zu erlangen – und gleichzeitig schwinden Bedeutung und Geltungsbereich jedes einzelnen der von uns benötigten Papiere. Die Entwicklung der Weltwirtschaft hat das Entstehen einer wachsenden Zahl von Institutionen und Faktoren zur Folge, die sie im Interesse großer politischer Blöcke, Wirtschaftsverbände, Einzelstaaten oder auch großer oder kleiner nationaler oder internationaler Konzerne einschränken. Die Entwicklung von kulturellen Beziehungen geht einher mit Einschränkungen, die sie innerhalb der unterschiedlichen Werte- und Prioritätensysteme ordnen sollen, die von den jeweiligen Beschränkern errichtet wurden: Staaten, Institutionen, Gesellschaften, Schulen, Szenen und Verbänden. Öffentliche Meinung und Freiheit der Gedanken und des Gewissens sind heute nicht mehr vorstellbar ohne ein komplexes System formaler und nicht-formaler Beschränkungen – samt und sonders errichtet, um jemandes Interessen zu wahren oder um jemanden zu schützen. Die Notwendigkeit, mit vorgegebenen Grenzen zu rechnen, wird zur Gewohnheit und erwächst in jedem von uns zu einem vielschichtigen System von rationalen und irrationalen Selbstbeschränkungen. So gewöhnen wir uns an Grenzen und halten sie nicht nur für naturgegeben, sondern auch für notwendig, beständig, klar und unüberwindlich – und erziehen uns dabei selbst dazu, zu unterscheiden zwischen „wir“ und „die“, zwischen „unserem“ und „deren“.
Unsere Festungen werden damit zu kafkaesken Schlössern, während die Grenzen uns den Weg diktieren.
Die Geschichte zeigt deutlich, wie vergänglich und veränderlich Staatsgrenzen sind. Lassen Sie doch mal ein Video im Zeitraffer ablaufen, in dem die geschichtliche Entwicklung von Staaten auf der Weltkarte dargestellt ist – was Sie sehen werden, ist eine Art Brownsche Bewegung von erstaunlichen Dimensionen und chaotischem Verlauf. Der oft zitierte Satz „und das Land, in dem wir morgen erwachen, wird ein anderes sein“ verliert angesichts eines solchen Versuchs jegliche Ironie – in Russland und in Deutschland ist er übrigens für alle Generationen durchaus realistisch, und zwar ein ums andere Mal, ganz wie wenn morgens das Murmeltier grüßt, und der Morgen eine ganz andere Realität bietet, als der Abend sie noch erwarten ließ. So erging es beispielsweise den Bürgern der Sowjetunion eines schönen Tages im Jahre 1991, als sie über Nacht zu Bürgern von über einem Dutzend unterschiedlicher unabhängiger Staaten geworden waren. Ab jenem Augenblick wurde ein Besuch bei Verwandten, der Umzug in eine andere Stadt, der Antritt eines Universitätsstudiums oder der Wechsel des Arbeitsplatzes mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Migration über Staatsgrenzen hinweg – innerhalb der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, oder auch der Gemeinschaft der Mitgliedstaaten des Europarats. Für diese Menschen, nunmehr Migranten, entstanden mit den neuen Grenzen auch neue rechtliche Einschränkungen, wobei übrigens jeder Staat die Qualität seiner Souveränität daran misst, welche Möglichkeiten ihm zur Verfügung stehen, seine Bürger und Nicht-Bürger im eigenen Interesse zu unterscheiden. Tourist, Gastarbeiter, Flüchtling, Aussiedler, Volksgenosse, aus dem nahen oder fernen Ausland stammend, Subjekt von verbündeten oder nicht verbündeten Präsidenten – die Beschränkungen werden jedes Mal neu definiert, wenn du dich auf einen anderen Farbfleck der politischen Weltkarte begibst. Wer nicht den Vorgaben entspricht, wird für illegal erklärt und büßt dafür mit einer Geldstrafe, Inhaftierung oder der Ausweisung ins AUS-Land, so verlangen es die üblichen Vorschriften.
Die Bewegungseinschränkungen, die den Menschen durch juristische Grenzen auferlegt werden, haben nur eine einzige Konstante: sie verändern sich permanent und nicht vorhersehbar. Dasselbe geschieht übrigens auch mit der Kultur, der Sprache, der Identität und dem physischen Aussehen des Menschen als Individuum sowie als Gesamtheit. Wer sich mit Geschichte beschäftigt, weiß, dass an der Anzahl von erlassenen Reformen abzulesen ist, wie effektiv sie sind: je häufiger Gesetze verabschiedet werden, desto schlechter werden sie in der Regel befolgt. Im Laufe der vergangenen zehn Jahre gab es in Russland fünf große Reformen im Bereich der Einwanderungsgesetze; in Deutschland waren es die Integrationsgesetze, die ebenso häufig geändert wurden. Werden zuvor gezogene Grenzen verändert, weist das deutlich darauf hin, dass man auf eine bestehende Migrationslage zu reagieren versucht.
Die Migration als solche, also das Überwinden von Grenzen, ist jedoch ein stabiler und unveränderlicher Prozess.
Grenzen sind vergänglich, verletzlich, veränderlich und indefinibel; Migrationsbewegungen sind dagegen stetig, stark und äußerst wirkungsvoll. Migrationsprozesse mögen wohl ihre Richtung ändern, ebenso ihre qualitativen oder quantitativen Merkmale, doch ändert dies nichts an der Tatsache, dass Grenzen und Beschränkungen lediglich Formen der Anpassung von Staaten und Gesellschaften an Migrationsprozesse sind – und nicht umgekehrt.
Der Mensch ist von Natur aus ein Migrant. Von allen Affen ist der Homo sapiens die ausdauerndste und am besten für lange und weite Wanderungen angepasste Art. Der Migration verdankt der Mensch seinen beispiellosen biologischen Erfolg: indem er sich stetig und unkontrolliert fortbewegte, machte er die ganze Welt zu seinem Lebensraum. Migration ließ uns natürliche Grenzen überwinden und ermöglichte es uns, den Planeten zu erobern – von Pol zu Pol, von der Tiefe des Meeres bis hinauf in die Stratosphäre.
Migrationsprozessen verdankt der Mensch auch seine Existenz als einheitliche Gattung: die Unterschiede, die sich zwischen den einzelnen Rassen ausgebildet hatten, hätten in ein paar hunderttausend Jahren zur Entwicklung von mehreren unterschiedlichen Menschenarten führen können – hätten wir uns nicht immer wieder untereinander vermischt. Ehen zwischen verschiedenen Rassen und Ethnien, bedingt durch Migration, waren Voraussetzung dafür, dass der Planet heute von einer einheitlichen Spezies Mensch bevölkert wird. „Reine“ Rassen sind heute nicht mehr zu erkennen: auf jedem Fleck dieser Erde blickt die Menschheit zurück auf eine ununterbrochene Reihe von Vermischung und Verwandtschaft verschiedener Populationen.
Bis heute vermischen sich ethnische Gruppen durch Migration; dies führt zur Ausbildung neuer Völker und zur Spaltung alter Nationen. Besonders deutliche Beispiele hierfür sehen wir in der Neuen Welt und in den Ländern Lateinamerikas. Auch aktuell entstehen gewissermaßen vor unseren Augen neue Identitäten von Europäern, Deutschen und Russen durch Migration. Migration begünstigt die Entwicklung, Durchmischung und gegenseitige Bereicherung von Sprache und Kultur verschiedener Völker, es entsteht ein gemeinsamer, universeller Informationsraum.
Zwischenmenschliche Kommunikation ist nicht möglich ohne Migration von Sinninhalten, wobei die natürlichen Grenzen von Entfernung, Zeit und Unverständnis zu überwinden sind. In diesem Kontext sind Schrift, Mobilfunk und Internet nichts weiter als Transportmittel für die Migration von Sinninhalten. Fortwährende Migration von Sinninhalten lässt neue Ideen entstehen und ermöglicht die Entwicklung von Kunst, Wissenschaft und schöpferischem Wirken als Formen menschlicher Existenz.
Migration bedeutet immer Überwindung. Wer zur Migration gezwungen ist, überwindet Krieg, Hunger, Armut und Rechtlosigkeit, während er einem sicheren Ort zustrebt. Wirtschaftsmigranten überwinden die Schwierigkeiten von Umsiedlung und Legalisierung. Um Grenzen zu überwinden, benötigt der Mensch Unternehmungsgeist, Mut und Entschlossenheit, er muss seine inneren Ressourcen und Talente mobilisieren, seine sozialen Verbindungen stabilisieren und expandieren. Er ist gezwungen, Neues zu lernen und verändert seine kulturelle und soziale Identität. Migration fördert somit letztendlich die Selbstverwirklichung des Menschen.
Migration ist eine Bewährungsprobe. Sie überwindet nicht nur alte Grenzen – seien es natürliche oder kulturelle – sondern errichtet auch neue. In diesem Sinne ist der Einfluss von Migrationsprozessen auf eine Gesellschaft vergleichbar mit dem Schleifen eines Edelsteins: wo alte Kanten verschwinden, werden neue geschaffen. Es besteht das Risiko des Aufkommens von Xenophobie, von Polarisierung und von einer Spaltung der Gesellschaft, gleichzeitig entstehen neue Identitäten und soziale Gruppen. Das Schicksal der aufnehmenden Gesellschaft hängt davon ab, wie effektiv sie die Interaktion dieser Identitäten und Gruppen zu regeln versteht.
Migration ist von unschätzbarem Wert für jede Gesellschaft. Die aufnehmenden Länder bekommen neue Einwohner und Bürger, die die Fähigkeit besitzen, sich zum Wohle der Gesellschaft selbst zu verwirklichen. Die Herkunftsländer müssen ihre Bürger nicht ganz aufgeben – wirtschaftliche, kulturelle und verwandtschaftliche Beziehungen ermöglichen es den Herkunftsgesellschaften, wirtschaftliche Ungleichheiten abzuschwächen, neue kulturelle Impulse zu empfangen und gleichzeitig die eigene ethnische Identität zu wahren. Nach und nach wird „Migrationshintergrund“ zu einem wichtigen Wettbewerbsvorteil für das Individuum.
Migration ist eine Herausforderung. Migrationsprozesse verstärken Probleme, die in dem aufnehmenden sozialen Umfeld bereits existieren, und schaffen neue Probleme in der Herkunftsgesellschaft. Migration ist für die aufnehmenden Länder eine harte Prüfung ihrer sozialen, wirtschaftlichen, rechtlichen und kulturellen Institutionen, und es besteht das Risiko, dass diese in den neuen Gegebenheiten nicht bestehen können. In ungünstigen Fällen kann Migration in den aufnehmenden Ländern Korruption, Ungerechtigkeit und wirtschaftliche Ineffizienz verstärken. Doch fördert sie auch die Lösung dieser Probleme: sind die betroffenen Gesellschaften doch gezwungen, dagegen anzugehen, und auch die Migranten selbst sind bestrebt, sie zu überwinden – ein Umstand, aus dem Solidarität mit der einheimischen Bevölkerung erwachsen kann.
Migration und Grenzen wirken sich auch in der Kunst aus, wo sie die Identität des Künstlers als Instrument der Selbstanalyse, Synthesis und Reflexion prägen. Der Künstler, der gleichzeitig Migrant ist, entwickelt seine eigene Persönlichkeit, wobei er einzelne Körnchen alter und neuer Einflüsse und Realitäten hervorhebt und daraus ein sehr intimes neues Ganzes erschafft, das im Prozess der nachfolgenden (Selbst-)Reflexion von instrumentaler Bedeutung ist. Es ist die Identität des Künstlers, des Migranten, die letztendlich sein sich selbst erschaffendes Kunstwerk ist. Und jede Arbeit, die Migration zum Thema hat, ist ein Werkzeug in diesem Prozess.
Betrachten wir „Migration“ und „Grenzen“ mit Hilfe der Kunst als Möglichkeit der Analyse von sozialer Realität, können wir erkennen, dass Kultur nicht etwas ist, das durch vielfältige Interaktionen und Einflüsse beschränkt wird; vielmehr sehen wir in der Kultur ein Phänomen mit vielen Facetten, offen für grundlegend neue Interpretationen.
Und dies ist eine neue Stufe der Freiheit, ein Überwinden weiterer Grenzen.
Andrei Iakimov ist Anthropologe und engagiert sich öffentlich für Migrationsrecht. Als Experte für die Problematik von Gastarbeitern und ethnischen Minderheiten ist er unverzichtbarer Projekt-Koordinator der gemeinnützigen Stiftung zur Unterstützung und Entwicklung von Bildungs- und Sozialprojekten „PSP-Fond“ in Sankt Petersburg, Russland.