Stas Sharifullin
Mehr Grenzen: pessimistischer Leitfaden durch die Musik der Gegenwart
„Man mag arm sein, in einer alten Hütte hausen, seinen Job verloren haben - aber der eine Song, der macht einem Hoffnung“. Dieses Zitat von Nelson Mandela steht oben auf der Internetseite des Projekts „Musicians without Borders“, einer Non-Profit-Organisation mit Hauptsitz in Amsterdam, die verschiedene musikalische Trainings und Meisterklassen in politisch instabilen Regionen durchführt: Kosovo und Palästina, Uganda und Ruanda. Unten auf derselben Seite stellt die Organisation ihre Mission vor: „Die Wunden des Krieges mit der Kraft der Musik zu heilen“.
Die Vorstellung von Musik als Heilmittel, ist immer umgeben von einem Hauch Düsterkeit und Romantik. Ein Beispiel solch schauriger Schönheit ist die Entstehungsgeschichte der 40‑minütigen Improvisation „Starry Night“ des libanesischen Musikers Mazen Kerbaj: in der Nacht vom 16. auf den 17. Juli 2006, als seine Heimatstadt Beirut von israelischer Luftwaffe bombardiert wurde, spielte Kerbaj auf seinem Balkon Trompete, „begleitet“ vom Bombenhagel. „Ehrlich gesagt war es mir lieber, auf dem Balkon zu stehen, Trompete zu spielen und diese Bomben aufzuzeichnen, als im Wohnzimmer zu sitzen und den Verstand zu verlieren“, sagt er später im Interview, „beim Spielen schaltet das Gehirn um, und die Bomben sind dann nur noch Geräusch, nicht mehr Tötungsmaschinen.“1
Zehn Jahre später, im Januar 2016, spielt er seine Trompete dort, wo man schon seit über siebzig Jahren keinen Geschützlärm mehr kennt. Gemeinsam mit anderen Musikern steht Kerbaj auf der Bühne des Berliner Theaters „Hebbel am Ufer“ und bereitet sich auf die Aufführung des Stücks „For the Red Right Hand“ vor, komponiert von seinem Freund und Landsmann Rabih Beaini, der es eigens zur Eröffnung des CTM-Festivals schrieb, eines der wichtigsten Foren der modernen Avantgardemusik. Das Konzert ist bereits seit einer Woche ausverkauft, doch irgendwie gelingt es mir hineinzukommen. Ich lande in der Mitte des Zuschauerraums, rechts von mir sitzt eine ältere arabische Frau, die das gesamte Konzert mit ihrem Smartphone aufnimmt, offensichtlich begeistert vom Geschehen. Später erfahre ich, dass dies die Mutter von Beaini war, die den Libanon erstmals und eigens dafür verlassen hat, um das Debut der Komposition ihres Sohnes mitzuerleben. Als ich mir anschaue, welche Musiker hier spielen, schwindet mir jede Vorstellungen von geographischen Grenzen: von den zwei Vokalinterpreten kam einer mit dem Flugzeug von der indonesischen Insel Java, die andere wurde in Äthiopien geboren, wuchs jedoch in Schweden und in Vietnam auf und lebt nun zwischen Oslo und Stockholm; von den beiden Gitarristen wurde einer in Libyen geboren, arbeitete lange Zeit in Montreal und zog dann in seine historische Heimat nach Kairo, der andere stammt wie Kerbaj und Beaini aus Beirut, studierte jedoch in Paris; dann gibt es da noch einige italienische Percussionisten, von denen einer in New York Karriere machte; und am Pult steht mit dem Rücken zum Publikum der Komponist selbst: er verließ in jungen Jahren seine Heimat, lebte dann in Italien und hat sich nunmehr in Berlin niedergelassen. Offensichtlich ist ein „Musician without Borders“ heute vor allem eins: Weltbürger.
Nach dem Konzert kommt das Publikum in der Eingangshalle zusammen, tauscht sich über das Gehörte aus, macht Pläne für das Festival. Alle sind gutgelaunt. Hört man genauer in das Stimmengewirr hinein, kann man wohl ein Dutzend verschiedener Sprachen ausmachen, die Bandbreite reicht dabei von Russisch bis Farsi. Das Festival steht in diesem Jahr unter dem Motto „New Geographies“ – Neue Geographien, und die etwa einhundertfünfzig Künstler und Künstlerinnen, die es feiern, sind aus den verschiedensten Ländern Europas, Asiens, Nord- und Südamerikas, Afrikas und Ozeaniens angereist. Es scheint den Organisatoren exzellent gelungen zu sein, die nötige Balance zu wahren und alles auszuschließen, was auch nur im Entferntesten an Exotizismus oder Neokolonialismus erinnern könnte – die beiden Hauptkritikpunkte an Initiativen dieser Art, insbesondere wenn sie vom Westen ausgehen.
Probleme gibt es jedoch am folgenden Tag. Während des Auftritts eines europäischen Elektromusikers nimmt das Geschehen auf der Bühne eine höchst eigenartige Wendung: gemeint vermutlich als Hommage an die traditionelle kongolesische Musik treten junge Frauen mit Trommeln und „afrikanischer“ Maske auf und imitieren „Eingeborenentänze“. Die Mienen einiger Zuschauer verdunkeln sich zusehends, manche streben dem Ausgang zu. Draußen unterhalten sich russische Musiker mit ihren Freunden über den letzten Facebook-Post von Ivan Zoloto von dem Duo Love Cult: er hatte angekündigt, welche Künstler seines Labels auf dem Festival auftreten werden, einen provokativen Screenshot aus irgendeinem Film dazu gepostet und mit der Überschrift versehen: „Wir verkaufen unsere osteuropäische Romantik an die besten Kunden: die Alten und die Reichen“.
Offensichtlich ist das westliche Modell der musikalischen Kartographie nur zu leicht zu kritisieren. So stellt sich z. B. jedes Mal, wenn ein „Musician without Borders“ auf Tour in afrikanische Länder geht, um gemeinsam mit dort lebenden Musiktalenten ein Album aufzunehmen, die logische Frage: dürfen wir eigentlich davon ausgehen, dass die westliche Art, Musik wahrzunehmen und zu konzeptualisieren, universell übertragbar ist? Deutlich dagegen sprechen die Ergebnisse von aktuellen Feldforschungen im Amazonasbecken, die in einer der letztjährigen Ausgaben des Wissenschaftsmagazins Nature veröffentlicht wurden2. Im Rahmen ihrer Studie untersuchten die Wissenschaftler, wie Vertreter des Indiovolkes der Tsimane – der Ureinwohner Boliviens, die praktisch vollkommen isoliert vom Einfluss westlicher Kultur leben – „angenehme“ und „unangenehme“ Klänge wahrnehmen, bzw. wie sie Konsonanzen und Dissonanzen erleben. Die überwältigende Mehrheit der Indios gab an, dass sie beide Tonintervalle als gleich „angenehm“ empfinden, woraus die Wissenschaftler den Schluss zogen, dass die bei uns traditionell übliche „unangenehme“ Empfindung bei Dissonanzen lediglich ein soziokulturelles Konstrukt ist. Was hätten wohl die Tsimane zu jener aufwühlenden atonalen Improvisation in Kerbajs „Starry Night“ gesagt, so ganz ohne den Kontext zu kennen, in dem sie entstanden ist? Für jeden Vertreter westlicher Zivilisationen ist sie eindeutig uneasy listening, und das Wissen um den Kontext macht sie zudem zum anschaulichen Beispiel für die These Theodor Adornos, nach der das „Wesen der Gesellschaft zum Wesen der Musik“ wird3.
Gleich neben dem Mandela-Zitat lesen wir im Webauftritt von Musicians without Borders eine weitere These, der ein veranschaulichendes Beispiel durchaus nicht schaden würde: „Music creates empathy“ – Musik erzeugt Empathie. Diese Aussage steht im imaginären Dialog mit den Anschauungen von Tia DeNora, einer amerikanischen Musiksoziologin, die die Lehre Adornos gewissermaßen weiterentwickelt, wobei sie allerdings eine spürbare dialektische Distanz wahrt. Ihrer Meinung nach setzt sich „in der westlichen Kultur gerade allgemein die Vorstellung durch, dass Musik soziale und emotionale Inhalte hat“4, wobei allein diese Tatsache einer empirischen Untersuchung dessen, welche Folgen die Wirkung von Musik auf die Gesellschaft hat, keinesfalls entgegensteht. Gerade diese Wirkung, oder „soziale Kraft“5, um in der Terminologie DeNoras zu bleiben, ist das Hauptanliegen von Festivals wie CTM. Wenn Sie so wollen ist es ein Versuch, Grenzen abzuschaffen – nicht nur geographische, sondern auch jene zwischen Genres, sozikulturelle und sogar biologische. Möglicherweise ist das wieder eine von diesen utopischen Ideen, die sich „gerade allgemein durchsetzen“, doch ist daran durchaus nichts Schlechtes – außer dass das Modell des Musician without Borders immer wieder neu angepasst werden müsste. Bei den „Neuen Geographien“ ist er noch Weltbürger, unterwegs in immer wieder wechselnden topographischen und akustischen Landschaften, doch schon frei von der zwanghaften Vorstellung, alles, was ihm begegnet, durch das Prisma der westlichen Kultur betrachten zu müssen.
Wir und Die Anderen
Vor Beginn des 20. Jahrhunderts entsprach die Vorstellung von musikalischen Grenzen dem klassischen westeuropäischen Verständnis von „Grenzen“ im Allgemeinen. Gedanken über Grenzen und Begrenzungen finden sich erstmals bei den griechischen Naturphilosophen Anaximander und Heraklit in deren Aussagen über Endlichkeit und Unendlichkeit des Seins. Später werden sie umfassend artikuliert in der Metaphysik von Aristoteles. Bei letzterem ist der Akt der Grenzziehung zwischen einem Gegenstand und allem anderen vor allem ein Eingrenzen des Gegenstands „in sich“; die Grenze fixiert das Sein des Gegenstands und erscheint als Begrenzung (πέρας), verbunden sowohl mit Merkmalen der Integrität des Gegenstands („das Erste, innerhalb dessen alles was zum Gegenstande gehört gefunden wird“6), als auch mit seiner räumlichen Abgrenzung („das Erste, außerhalb dessen kein Teil des Gegenstandes gefunden werden kann“7). Diese Zweiteilung in Inneres und Äußeres spiegelt sich in gewissem Maße in der Kultur wider als Kette binärer Gegensätze: „niedrig“ und „hoch“, „wunderbar“ und „entsetzlich“, „elitär“ und „für die Massen“, „Kitsch“ und „Avantgarde“ etc.
Der traurige Beginn des 20. Jahrhunderts lässt erstmals Zweifel an dieser dichotomen Aufteilung aufkommen und führt zu Veränderungen (so verschiebt sich die Grenze der „elitären“ Kunst unter dem Druck der Massen von den Pforten der Oper auf die Außengrenze der Galerie). Doch die Musiker unterschiedlicher Richtungen stehen sich nach wie vor höchst unversöhnlich gegenüber. Ihre Haltung lässt sich meist reduzieren auf die biblische Formel „wer nicht für uns ist, ist gegen uns“. Sehr deutlich zeigt sich dies in der Geschichte der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik. Gegründet im Jahr 1922 in Salzburg wird diese Organisation zum Paradebeispiel dafür, wie die „Eintracht der unmittelbaren Nachkriegszeit“ nach den Worten des Musikkritikers Alex Ross „zu seltsamen Allianzen“ führte8. Statt in Zusammenschluss und gegenseitiger Unterstützung resultiert die Tätigkeit der Gesellschaft in ihren Anfangsjahren vor allem in offener Feindseligkeit zwischen den beiden führenden Komponisten jener Zeit: Igor Strawinsky und Arnold Schönberg, von denen wegen der offensichtlichen Differenz in Ansatz und Klangbild keiner bereit ist, das Schaffen seines Opponenten anzuerkennen. „Der alte deutsch-französische Sängerkrieg war neu entbrannt.“9
Im Übrigen stellt der weitere Verlauf der Geschichte Musikschaffende vor neue Anforderungen und zwingt sie dazu, ihre Ansichten zu überdenken. Während Adorno und sein Kollege Max Horkheimer in ihrer berühmten „Dialektik der Aufklärung“ scharfe Kritik an der Massenkunst üben und die neue Kulturindustrie als „betrügerisch“10 und „verderbt“11 und deren Werke als „sinnlos“12 bezeichnen, gewinnt die Popkultur weiter an Kraft und ändert die Spielregeln. Als die ersten internationalen Stars und Subkulturen entstehen, muss die Menschheit mit Erstaunen feststellen, dass „statt der hierarchischen Unterteilung zwischen hoher und niederer Kultur nun eine horizontale Schicht entstanden ist“13, so jedenfalls beschreibt es John Seabrook, amerikanischer Schriftsteller, der sich mit der „Nobrow“-Kultur auseinandersetzt14. Es eine logische Folge, dass die neue Epoche der Postmoderne nicht nur die Dichotomie „zivilisiert – wild“ aufbricht, sondern auch eine neue Betrachtung des Begriffs der Grenze verlangt. Hilfreich ist hier Jacques Derridas Konzept der „Differance“15 – der Differenz bzw. „Differänz“ –, die jedwede Möglichkeit der Existenz eines selbstidentischen Gegenstands ohne Rückverweis auf etwas anderes leugnet. Ziel der Existenz einer Grenze ist nun nicht mehr die Fixierung eines Gegenstands „in sich“, sondern die Berührung mit anderen Elementen. Mehr noch, erstmals erscheint das System Kultur selbst als beweglicher und veränderlicher Organismus, in dem Strukturbeziehungen aller Art in den Hintergrund treten und Genres und Subkulturen sich im ständigen Prozess des Aufeinandertreffens und Interagierens befinden.
Solch eine Interaktion, schafft jedoch den Gegensatz von „wir“ und „die Anderen“ beileibe nicht ab – er wird lediglich auf eine andere Ebene verlagert. So wird Musik zum Mittel der politischen Auseinandersetzung, und zwar auf beiden Seiten der Barrikaden. Im Iran nach der Islamischen Revolution wird westliche Rockmusik zum Protestsymbol und gleichzeitig zum Anlass für Repressionen, während traditionelle und militärpatriotische Lieder von der neuen Regierung als Propaganda für die „gerechten“ Werte eingesetzt werden: Glaube, edle Heimatliebe und Wahrung der Traditionen. Eine ähnliche Dynamik ist auch in der Sowjetunion zu beobachten, wo jenseits der sterilisierten, von der offiziellen Parteizensur anerkannten Bühne im Untergrund der Eigenverlag (Samisdat) seine Blütezeit erlebt. Unter Einsatz ihrer Freiheit kopieren Musikfans verbotene westliche Platten auf Röntgenaufnahmen – dieses Verfahren bekommt den höchst zweideutigen Namen „Musik auf Knochen“. Interessanterweise greift die Staatsmacht ihrerseits dieses Nekromantie-Spiel auf und beschuldigt Verbreiter von Samisdat-Produkten, sie „stehle den sowjetischen Jugendlichen die Seele“. Mit Aufkommen des Magnetbands, eines im Gegensatz zu Röntgenbildern auch der breiten Masse zugänglichen Mediums, haben die Beamten jedoch nichts mehr in der Hand und müssen hilflos zusehen, wie der verhasste „Westkult“ durch den zunehmend altersschwachen „Eisernen Vorhang“ sickert.
Das Thema kulturellen Eindringens und Mit-Eindringens ist das wichtigste Leitmotiv des Experimentalfilms „For My Crushed Right Eye“ von Toshio Matsumoto, der 1969 auf die Leinwand kommt – interessanterweise im selben Jahr wie die Neuauflage der „Dialektik der Aufklärung“ von Adorno und Horkheimer, die später just in dieser Fassung erst ins Englische und später auch in andere Sprachen übersetzt werden soll. Beide Arbeiten dokumentieren im Grunde ein und dasselbe Phänomen. Die Autoren vertreten zwar unterschiedliche Positionen und ziehen ihre Schlüsse aus verschiedenen Epochen, doch ist hier wie dort zu spüren, wie sie im Beobachten des Geschehens ein befremdliches gemischtes Gefühl zwischen Erstaunen und Konfusion beschleicht. Das visuelle Tohuwabohu Matsumotos zeigt dem Zuschauer Bilder von Studentenprotesten und Diskotheken, Sportrennen und künstlerischen Performances, Fragmente von Aufnahmen eines männlichen Transgenders, der Damenwäsche anzieht und Make-up auflegt – all das unterlegt mit Lärm, Rockmusik der späten 1960er Jahre und Aufnahmen von japanischer Propaganda. Später soll diese Video-Collage Rabih Beaini zu seinem Stück „For the Red Right Hand“ inspirieren. Bei Matsumoto ist der Bildschirm in zwei Hälften geteilt, die verschiedene Videofragmente zeigen. Bei Beaini ist es das Ensemble aus acht Musikern, das die Bühne in zwei symmetrische Quartette teilt – jedes mit einem Gitarristen, einem Trompeter, einem Vokalisten und einem Percussionisten. Der Charakter des Stücks des libanesischen Komponisten ist explosiv und chaotisch, genau wie der japanische Film Matsumotos hat er keine klare Struktur. „Es ist eine verzerrte Darstellung“, erklärt Beaini, „von dem Durcheinander, das Massen- und Informationsmedien in soziopolitische Kontexte bringen.“16
Während Adorno, Horkheimer und Matsumoto nur die frühen Entstehungsprozesse der „horizontalen“ Gesellschaft beobachten, lebt Beaini bereits in jener neuen rhizomatisch strukturierten Realität. Mit Entwicklung des Internets wird Kultur endgültig zu einer chaotischen Collage aus unendlichen Alternativen, metaphorisch am ehesten zu erfassen mit dem Nachrichtenstrom auf Facebook: ohne Anfang und ohne Ende. In Zeiten von Fake News und nachträglichen Wahrheiten verliert die Einschätzung von Experten an Wert, und wir wundern uns schon gar nicht mehr darüber, dass wir den Algorithmen der Musik-Streaming-Dienste mehr vertrauen als „renommierten“ Kulturpublikationen. In Zeiten von ökologisch engagierten Black-Metal-Anhängern, Raves in Kunstmuseen und christlichen Rappern werden alle Genre-Grenzen zu beliebig gruppierbaren Tags – und diese wiederum werden zum Repressions-Instrument der neoliberalen Wirtschaft.
Die Revolution wird nicht online gestellt
Man mag sich erinnern, wie die Entwicklung des Internets noch vor wenigen Jahren Begeisterung unter den Theoretikern hervorgerufen hat und wie einer nach dem anderen die Kulturrevolution ankündigten, die doch nach dem Technologiesprung folgen sollte. „Billige Software und Produktionskosten, die Möglichkeit, sich über soziale Medien zu vernetzen und Musik und Videos online zu verbreiten, oder auch der digitale Zugang zu einer überwältigenden Fülle von Daten und Wissen – das sind nur einige der Motoren hinter dieser Kulturrevolution.“17 schreibt der Musikethnologe und Journalist Thomas Burkhalter im Juli 2015 in seinem Vorwort zum Almanach Seismographic Sounds: Visions Of A New World. Im Jahr darauf steht Burkhalters gleichnamiges Ausstellungsprojekt im Parallelprogramm der „Neuen Geographien“ des CTM, und betrachtet man dieses farbenfrohe, leuchtende und mannigfaltige Kaleidoskop von Medieninstallationen und Videobeiträgen von Künstlern aus der ganzen Welt, spürt man noch durchdringenden Optimismus. Nur ein Jahr später scheint dieser Optimismus jedoch unangebracht, das Internet und die neuen Technologien werden vor allem mit schwer fassbaren Kampagnen rechter Populisten und totalitärer Regime assoziiert. Die politische Realität in Zeiten von Trump, Putin und Brexit setzt einen eigenen Entwicklungsvektor, der dem Konzept der „Neuen Geographien“ diametral entgegensteht. Die Tagesordnung von heute beschäftigt sich vor allem mit der Rigidität von Grenzen, bis hin zu ihrer vollständigen Schließung. Dasselbe Berlin, in dem noch gestern die neue, vorurteilsfreie Gesellschaft bejubelt wurde, kollabiert heute angesichts des Wahlerfolgs der ultrarechten Partei „Alternative für Deutschland. 2018 lautet das Motto des CTM-Festivals „Turmoil“ – Unruhe. Dieses auf den ersten Blick harmlose Wort spiegelt das repressive Wesen dieser neuen Epoche in vollem Umfang wider und beschreibt sehr klar die emotionale Verfassung, in der sich die westliche Welt befindet, die sich nun Aug‘ in Aug‘ mit jenem „Anderen“ konfrontiert sieht.
Es wird immer einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen, während das Ende des Kapitalismus gleichzeitig immer unvorstellbarer wird… so könnte man heute die bekannte These der Marxisten Fredric Jameson und Slavoj Žižek umformulieren, mit der auch der britische Philosoph und Musikkritiker Mark Fisher seine Erzählung im Buch Kapitalistischer Realismus ohne Alternative?18 beginnt. Er analysiert darin den Film „Children of Men“ von Alfonso Cuarón und schreibt von dem Gefühl, dass heute „der Kapitalismus das einzig gültige politische und ökonomische System darstellt“. Anschließend trifft er eine erstaunlich präzise Prognose für die Zukunft anhand von Beispielen aus der im Film dargestellten Dystopie. Fisher ist der Meinung, dass wir in der Realität so weit gekommen sind, „dass es mittlerweile fast unmöglich geworden ist, sich eine kohärente Alternative dazu überhaupt vorzustellen“19, d. h. sogar unser Unterbewusstsein arbeitet mit Szenarien von gegenseitigem Eindringen der repressiven Macht und des freien Marktes und erschafft so erfundene Welten, in denen „Café-Ketten parallel zu Gefangenenlagern“ existieren20. Später merkt Fisher an, dass wir zu passiven „Zuschauer-Konsumenten“ geworden sind und „durch die Ruinen und Relikte“21 unserer früheren Glaubenssysteme wandern – Opfer im verlorenen Kampf gegen den Kapitalismus.
Solch radikal pessimistische Ansichten sind natürlich keine guten Begleiter für ein glückliches Leben, und daher entwickeln wir ununterbrochen Schutzmechanismen. Die Menschheit ist sich zwar dessen bewusst, dass das Kapital den Kampf unstrittig gewonnen hat, doch ist sie bemüht, den dramatischen Effekt ihrer Niederlage zu kaschieren, indem sie sich beispielsweise der Sprache des neoliberalen Diskurses bedient. Wir sprechen von unserer eigenen Effektivität, vom freien Wettbewerb als Motor für den Fortschritt und davon, dass der Kulturmarkt endlich umfassend durch Experten bewertet nun in zielgerichtete Segmente eingeteilt wurde, so dass jeder für sich das finden kann, wonach ihm der Sinn steht. In Erinnerung an Adorno und Horkheimer stellen wir fest, dass die Kulturindustrie tatsächlich „betrügt“, doch funktioniert dies nur deshalb, weil wir selbst so gerne betrogen werden.
Nischen und Segmente, das ist es, was der kapitalistische Realismus aus dem Leben des modernen Normalbürgers und „Kunstkonsumenten“ gemacht hat. Zur Ware verkommene Rockmusik bietet dem Käufer heute ein breites Sortiment verschiedener Arten von Protest: angefangen von der „leichten“ Jugendversion bis hin zum ernstzunehmendem Auflehnen gegen das System. Elektromusik, einst eine höchst egalitäre und radikale Form der Selbstdarstellung, erobert nun mit atemberaubender Geschwindigkeit die Budgets multinationaler Konzerne unter Wahrung einer starren Finanzhierarchie und der Ausbeutung des Prekariats. Die Clubkultur ist zum großen Geschäft geworden, das nach dem Prinzip von Seabrooks „Hitfabrik“22 funktioniert, basierend auf Ersatz-Stars, die von einer Armee namenloser Ghostwriter gestützt werden. Wir vertrauen nicht mehr auf die Meinung von Musikjournalisten – nicht etwa, weil sie alle plötzlich schlechte Artikel schreiben, sondern weil wir jenes Prinzip durchschaut haben, nach dem die Industrie arbeitet und wonach mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit genau diejenigen Künstler in den Nachrichten oder Rezensionen genannt werden, die rechtzeitig die Kosten einer PR-Kampagne in ihrem Budget berücksichtigt haben. Während die Populisten also Fake News zu ihren Waffen gemacht haben, rüsten sich Marktforscher mit Fake Reviews. In der Welt des kapitalistischen Realismus, in der jeder Mensch nurmehr Ware ist, werden Grenzen deutlich, beinahe körperlich spürbar: sie velaufen direkt vor unserer Nase und trennen die Gewinner im Kampf um einen Platz an der Sonne von jenen, die diesen Kampf verloren haben. Im Jahr 2017 bedeutet die Zugehörigkeit von Künstlern zur „Indie-Szene“ lediglich, dass ihre Agenten und Manager einfach mit Nischen-Publikum arbeiten, einkalkulierten Fans „alternativer“ Filme und Literatur, deren „Alternativsein“ natürlich ein weiteres Simulacrum ist, das die Marktmaschinerie zur Welt gebracht hat.
Wer sich immer in solchen Bedingungen bewegt, bekommt den Eindruck, dass es gar nicht möglich ist, die Interaktion mit dieser Maschinerie zu vermeiden. Selbst eines der schillerndsten und wohl politisch am weitesten links einzuordnenden Phänomene, das die Musik in den letzten Jahren hervorgebracht hat – die experimentelle Club-Szene oder „Club Deconstruction“ – erlebt heute wahrlich nicht ihre besten Zeiten. Der originäre Stil der Pioniere wurde längst in Einzelteile zerlegt, in Schemata übertragen, in Kopiergeräte gefüttert und aufs Band geschickt. Dasselbe passierte auch mit ihrem sozialen Kernelement: der utopischen Idee, eine Plattform für Vertreter von Gender-, Rassen- und ethnischen Minderheiten zu erschaffen, zur Unterstützung derjenigen, deren Stimme im modernen Clubdiskurs nicht mehr enthalten ist. Mark Fisher schreibt, der Kapitalismus sei fähig, jede Unzufriedenheit in ein handelbares Produkt umzuwandeln. Heute nennt sich das Cause-Related Marketing — eine neumodische Richtung, entwickelt von Spezialisten für den Aufbau von Personal Brands. Personal Coaches von Stars aus Film, Fernsehen, Musik oder Sport raten ihren Klienten, sich häufiger zu aktuellen sozialen Themen zu äußern, sich um die Probleme von Minderheiten zu kümmern und jede sich bietende Gelegenheit zu nutzen, Bedürftigen zu helfen. „Altruismus und die Ausnutzung von Ungleichheit sind Ihr Weg zum Erfolg“ prophezeit ein Online-Trainer für persönliche Effizienz auf seiner Website.
„Ihr seid alle hier, weil ihr Demokratie wollt!“ ruft Chino Amobi auf seinem Konzert in Moskau laut ins Mikrophon. Das Publikum antwortet mit Schweigen. Einige streben – wie schon bei der „kongolesischen“ Performance – dem Ausgang zu. Zuweilen finden sich Lücken in unseren Schutzmechanismen.
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Wer eine Grenze überschreiten will, muss zunächst wissen, wo sie verläuft. In Russlands Kulturindustrie gibt es eine universell wirksame Möglichkeit, den Marktpreis eines einheimischen Kulturprodukts zu erhöhen: der Hinweis, es finde „Beachtung im Westen“. Jede Aktivität eines russischen Musikers in Europa oder Nordamerika wird hier automatisch als großer Erfolg betrachtet – selbst dann, wenn es sich nur um eine kurze Nennung in der Presse oder einen Auftritt in einer abgewrackten kleinen Bar handelt. Ein hiesiger Künstler mag sich noch so sehr bemühen, mit seiner eigenen Identität zu arbeiten – sobald er sich auf das Regelwerk dieses neoliberalen Industriespiels einlässt, geht er gewissermaßen neokolonialistische Beziehungen ein. Ausnahmen sind ausgeschlossen. Innerhalb dieser Formel wird auch die Ehrfurcht russischer Manager und Promoter vor westlichen Künstlern in Ansätzen erklärbar. Jedes internationale Kulturprojekt, das in der Russischen Föderation stattfindet, beweist ohne Weiteres, dass der Durchschnittsmusiker aus Europa bei uns von Haus aus eine Reihe von Privilegien genießt. Er wird am Flughafen abgeholt und ins Hotel gebracht, er bekommt ein Einzelzimmer und ein Abendessen, man zeigt ihm die Stadt, versorgt ihn backstage und bezahlt sein Honorar pünktlich – wobei die Summe die Honorare der russischen Kollegen und Kolleginnen dabei mit großer Wahrscheinlichkeit um ein Vielfaches übersteigen wird, während russische Künstler oft schon froh sind, wenn der Promoter ihnen ihre Fahrtkosten erstattet.
Wir sitzen in einer Bar mit Ildar Zaynetdinov, dem Leiter von GOST ZVUK, einem russischen Independent-Label, das wirklich große „Beachtung im Westen“ findet. Ildar erzählt von seiner Unterhaltung mit einem Journalisten eines großen europäischen Verlags, den er auf einem russischen Festival getroffen hat. Auf die Frage, warum der Verlag nicht über russische Musiker schreibe, gab der Journalist die ernüchternde Antwort: „Jungs, wenn ihr wollt, dass wir über eure Künstler schreiben, dann helft ihnen sich zu präsentieren und lasst sie mehr sein als nur eine Nummer im Line-Up. Der Typ, den ich gestern hören wollte, spielte um sechs Uhr abends vor einem leeren Saal.“
„Wir müssen die lange, dunkle Nacht am Ende der Geschichte als große Chance begreifen“, schreibt Mark Fisher am Ende seines Buchs. Radikaler Pessimismus gibt uns wenigstens die Hoffnung, dass trotz aller Aggressionen des Kapitalismus und trotz allen Drucks, den der Staat ausübt „in einer Situation, in der nichts passieren kann, plötzlich alles möglich wird“23. Hat man die Regeln verstanden und bemerkt, dass jede Strategie sowieso zur Niederlage führt, kann man sich dem Spiel verweigern und versuchen, den Gegner zu übertölpeln – besonders wenn dieser so selbstsicher ist und sich nicht einmal hypothetisch vorstellen kann, dass er die Partie verliert. Wo die einen sich vor einer unüberwindbaren Mauer mit Wache und Stacheldraht sehen, sehen andere einen Haufen Steine, der nur darauf wartet, abgebaut zu werden.
Stas Sharifullin, Krasnojarsk, ist Musiker, multidisziplinärer Künstler, Kurator und Doktor der Philologie.
Quellenangaben
- Burkhalter, Thomas (2016), “Outrage, Sorrow, Bitterness” in Seismographic Sounds: Visions Of A New World (Bern: Norient), S. 193.
- McDermott, Josh H., Schultz, Alan F., Undurraga, Eduardo A. & Godoy, Ricardo A. (2016), “Indifference to dissonance in native Amazonians reveals cultural variation in music perception” in Nature, Band 535 (London: Macmillan), S. 547-550.
- Adorno, Theodor (1962), Einleitung in die Musiksoziologie (Frankfurt am Main: Suhrkamp). (Englisch: Adorno T. Introduction To The Sociology Of Music. New York: The Seabury Press, 1976. S. 209.)
- DeNora, Tia (2004), Music In Everyday Life (Cambridge University Press), S. 21.
- Ibid.
- Aristoteles, Metaphysik (Englisch: Aristotle, Metaphysics, Sioux Falls: NuVision, 2009. S. 178.)
- Ibid.
- Ross, Alex (2007), The Rest Is Noise: Listening to the Twentieth Century (New York: Farrar, Straus and Giroux), S. 91. (Deutsch: The rest is noise: das 20. Jahrhundert hören)
- Ibid.
- Adorno, Theodor & Horkheimer, Max (1969), Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (Frankfurt am Main: S. Fischer), S. 146 (Englisch: Adorno T. & Horkheimer M. Dialectic of Enlightenment. Philosophical Fragments. Stanford University Press, S. 94.)
- Ibid., S. 174 (Englisch: S. 114)
- Ibid.
- Vzyatysheva, Viktoria (2017), „Ran'še èlitarnaâ kul'tura davala status. Sejčas ego daût rvanye džinsy“ („Früher gab elitäre Kultur einen Status. Heute genügen zerrissene Jeans“). Interview mit John Seabrook, Autor des Buchs „The Culture of Marketing, the Marketing of Culture“ in der russischen Internet-Zeitung „Bumaga“ (URL: http://paperpaper.ru/photos/john-seabrook)
- Seabrook, John (2001), Nobrow: The Culture of Marketing, the Marketing of Culture (New York: Vintage).
- Derrida, Jacques (1963), “Cogito et histoire de la folie” in Revue de Métaphysique et de Morale, 68e Année, No. 4 (Paris: Presses Universitaires de France), S. 460-494.
- Scharifullin, Stas (2017), „Razvitie svoego zvuka — èto interesno“ („Den eigenen Klang entwickeln, das ist interessant“) im Mixmag Russia (URL: http://mixmag.io/article/102537)
- Burkhalter, Seismographic Sounds: Visions Of A New World, S. 10.
- Fisher, Mark (2009), Capitalist Realism: Is There No Alternative? (Winchester: Zero Books), S. 1. (Deutsch: Fisher, Mark, Kapitalistischer Realismus ohne Alternative?).
- Ibid., S. 2.
- Ibid., S. 3.
- Ibid., S. 8.
- Seabrook, John (2016), The Song Machine: Inside the Hit Factory (New York: Norton).
- Fisher, Capitalist Realism: Is There No Alternative?, S. 80. (Deutsch: Fisher, Kapitalistischer Realismus ohne Alternative?)