Vladimir Malakhov
Dynamische Grenzen

© Alexey Kubasov

In der römischen Mythologie gab es für Grenzen einen eigenen Gott: Terminus. Man brachte ihm Opfer, rieb die Grenzsteine mit duftenden Gewürzen ein und schmückte sie mit Kränzen. Und wer einen solchen Grenzstein ausgrub, galt als verflucht.

Grenzen trennen von alters her menschliche Gesellschaften voneinander und verstärken die Unterschiede zwischen ihnen. Mehr noch: Grenzen formen Gesellschaften. Sobald sich zwischen zwei Personengruppen etwas befindet, das sie daran hindert, miteinander in Kontakt zu treten und zu interagieren, werden diese Gruppen einander fremd. Dabei ist es unerheblich, ob es sich um eine natürliche Grenze handelt – eine Felsschlucht, einen undurchdringlichen Wald, einen tiefen Sumpf o. ä. – oder um eine künstliche, von Menschenhand geschaffene Grenze, wie eine Staatsgrenze oder auch ein Gesetz, das den Zugang zu bestimmten gesellschaftlichen Gütern nach ethnischen, religiösen oder Rassenmerkmalen sanktioniert. Das betreffende Hindernis reduziert die Kontakte zwischen den Gruppen auf ein Minimum, was dazu führt, dass sich die Unterschiede der Gruppen zueinander vertiefen – selbst wenn sie anfangs kaum Bedeutung zu haben scheinen. In Russland denkt man in diesem Zusammenhang unwillkürlich an die Situation zwischen der Russischen Föderation und ihren slawischen Nachbarstaaten. Ein noch deutlicheres Beispiel bietet jedoch die Grenze zwischen der BRD und der DDR: Sie bestand nur 45 Jahre, doch obwohl sie von ausschließlich künstlicher Natur war, ließ sie sehr deutliche kulturelle Unterschiede zwischen „Ossis“ und „Wessis“ entstehen.

Die Erinnerung an eine Grenze kann nach dem Niedergang der Grenze selbst noch jahrhundertelang fortbestehen. Der Limes beispielsweise, der einst das Römische Reich von den Germanen im Norden trennte, wirkt bis in die heutige Zeit hinein. Laut dem deutschen Soziologen E. Stölting ist unschwer erkennbar, welche Gebiete der heutigen Bundesrepublik unter Römischem Recht standen und welche nicht. Ein weiteres Beispiel sind die juristischen Barrieren, die in Nordamerika zu Zeiten der Segregation zwischen Afroamerikanern und der „weißen“ Bevölkerung standen. Das Prinzip der Rassentrennung wurde in den 1960er Jahren aufgehoben, doch die sozialen und symbolischen Grenzen zwischen dunkel- und hellhäutigen US-Bürgern bestehen noch heute. Sie sind leiser geworden, seit beispielsweise ein Barack Obama in den politischen Olymp einzog, doch haben sie keinesfalls an Relevanz verloren.
 
Wohl das Erste, was dem normalen Menschen in den Sinn kommt, wenn er oder sie das Wort „Grenze“ hört, ist die Grenze zwischen zwei Staaten – eine politische Grenze. Wir haben uns daran gewöhnt, in politischen Grenzen lediglich die Bestätigung herrschender kultureller Unterschiede zu sehen. Wo sich Kulturen voneinander unterscheiden, scheinen Grenzen zu entstehen, die diese Unterschiede politisch und juristisch manifestieren. Doch ist dies bei Weitem nicht immer der Fall. Es mag sinnvoll sein, eine andere Logik zu wagen und den Weg gedanklich nicht von den Unterschieden zu den Grenzen zu gehen, sondern andersherum von den Grenzen zu den Unterschieden. Ziel ist dabei nicht, festzustellen, „was zuerst da war“: die Grenzen oder die Unterschiede – dieser Frage nachzugehen wäre vollkommen sinnlos. Doch Zweifel an der Stilisierung von politischen Grenzen zu kulturellen scheinen durchaus angebracht.

Dies gilt ganz besonders in Bezug auf Russland. Begeistert vom Konzept eines „Kampfes der Kulturen“ begannen viele russische Kommentatoren, die geopolitische Konfrontation aus den Zeiten des Kalten Krieges in kulturelle Begriffe zu kleiden. Die bipolare Weltordnung spiegelte demgemäß nicht den Gegensatz zweier wirtschaftspolitischer und ideologischer Systeme wider, sondern die Konfrontation zweier kultur-zivilisatorischer Einheiten. Und der sowjetische Pol dieser Konfrontation war nichts Anderes als die historische Manifestation der „russischen Zivilisation“. Daraus folgte bald der Schluss, dass in den (geo)politischen Grenzen jener Zeit lediglich eine Bestätigung der (geo)kulturellen Grenzen zu sehen sei.

Soweit moderne Gesellschaften ihrer Struktur nach Nationen und Staaten sind, sprechen wir in Bezug auf Grenzen zwischen Gesellschaften immer von nationalen Grenzen. Doch genau hier liegt epistemologisch betrachtet das Problem. Denn schon allein die Gewohnheit, die soziale Realität fragmentiert in Nationen zu betrachten, ist nicht als naturgegeben anzusehen. Diese Sichtweise – man nennt sie Nationalzentrismus, Staatszentrismus oder methodologischen Nationalismus – wird in der jüngeren wissenschaftlichen Literatur nachhaltig kritisiert. Tenor der Kritik ist die wissenschaftliche Fokussierung auf einzelne Gesellschaften (wobei stillschweigend von Nationalgesellschaften ausgegangen wird), die uns den Blick auf die gesamte Komplexität der gesellschaftlichen Realität versperrt. Perspektivisch empfehlen einige Kritiker des Nationalzentrismus, von der nationalen und staatlichen Ebene auf die weltumfassende Ebene überzugehen, andere empfehlen, den Schwerpunkt auf globale Topoi und Strömungen zu verlegen, welche nationale Grenzen überschreiten.

Insbesondere bei der Untersuchung globaler Migrationsbewegungen scheint es ratsam, die Grenzen nationalzentristischer Muster hinter sich zu lassen. Ist doch der Raum, in welchem Migranten leben und den sie gestalten, streng genommen ein transnationaler. Er ist ein besonderer Bereich, der weder dem Herkunftsland, noch dem Aufenthaltsland zuzuordnen ist.

Ihrer Definition nach trennt die Grenze das Innere vom Äußeren. Doch fällt die Unterscheidung zwischen Innerem und Äußerem nicht immer leicht. Was gestern noch „außen“ zu sein schien, kann sich heute schon „innen“ befinden – oder umgekehrt. In Russland ist beispielsweise bis heute nicht endgültig geklärt, welche Kriterien die Zugehörigkeit zum nationalen „Wir“ bestimmen, oder auch, wie dieses „Wir“ zu nennen wäre: existieren doch im Russischen nebeneinander die Begriffe „Rossijanin“ (abgeleitet von der Landesbezeichnung „Rossija“ – also „Russländer“) und „Russkij“ (abgeleitet vom Adjektiv für russische Sprache und Kultur „russkij“ – also „Russischer [Mensch]“). In Amerika wiederum stehen die Nachkommen von Migranten aus muslimischen Ländern vor einem anderen Problem: als Vertreter der sogenannten Creative Class – Programmierer, Designer, Künstler, Journalisten, Juristen, Universitätsprofessoren etc. – fühlten sie sich lange als vollwertige Staatsbürger (und wurden von den meisten ihrer Mitbürger ebenfalls als solche betrachtet), bis sie mit dem 11. September 2001 über Nacht zu Geächteten wurden.

Internationale Migrationsbewegungen und unter diesen vor allem Migrationsbewegungen aus nichteuropäischen Regionen nach Europa rücken die Thematik kultureller Grenzen nunmehr in den Vordergrund. Der Verstand gebietet uns, die heutigen europäischen Gesellschaften jeweils in zwei Gruppen einzuteilen: die Gruppe der Einheimischen einerseits und die der Migranten andererseits. Doch der Verstand erweist sich hier als unzuverlässig, denn stillschweigend gibt er die Prämisse vor, dass Unterschiede in der ethnischen Herkunft und der Religionszugehörigkeit unausweichlich zu kulturellen Unterschieden und folglich zu unüberwindbaren kulturellen Barrieren führen. Und doch geschieht es nicht selten, dass Menschen von gänzlich unterschiedlicher Herkunft und Religion sich bezüglich ihrer Wertvorstellungen im selben Lager wiederfinden, während ihre Landsleute und Glaubensgenossen sich für das entgegengesetzte Lager entschieden haben. So treten z. B. ehemalige Migranten in Parteien und Bewegungen mit fremdenfeindlichen Inhalten ein, während konservative Europäer ganz ohne „Migrationshintergrund“ sich im Kampf gegen Abtreibung und gleichgeschlechtliche Ehen mit Aktivisten aus muslimischen Organisationen verbinden. Gleichzeitig setzen sich deutsche Berufspolitiker mit türkischen Wurzeln für eine härtere Linie in den Beziehungen zwischen der EU und der Türkei ein. Französische Katholiken nehmen in ihren Privatschulen muslimische Mädchen auf, die sich weigern, ihr Kopftuch abzulegen, und britische Ex-Moslems (Menschen, die aus muslimischen Ländern stammen, aber mit dem Islam gebrochen haben) fordern gemeinsam mit atheistischen Organisationen mehr Entschlossenheit von den Politikern Europas im Kampf für die Werte des Säkularismus.

Bedeutet all dies, dass die kulturellen Grenzen verschwinden? Mitnichten. Vielmehr bedeutet es, dass wir Zeugen und Teil eines höchst spannenden Prozesses sind, in welchem unsere Kultur durch ganz neue Spannungslinien und Kontroversen bereichert wird.
 

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