Stanislaw Mucha
Auf der Suche nach der Mitte Europas

Die Mitte Europas © © Alexey Kubasov Die Mitte Europas © Alexey Kubasov
Die Einwohner der Ukraine sind fest davon überzeugt, dass sich in ihrem Land das geographische Zentrum Europas befindet. Die Massenmedien erwähnen diesen Umstand immer wieder, und so steht es auch im Lehrbuch für Geographie. Dieselbe Überzeugung, dass das Zentrum Europas just in ihrem Lande liege, teilen auch die Einwohner verschiedener Städte in Polen, Litauen, Tschechien und sogar in Österreich und Deutschland. Die „Vielzahl“ dieser Zentren untersuchte Stanislaw Mucha, ein deutscher Regisseur mit polnischen Wurzeln, in seinem Dokumentarfilm „Die Mitte“. Mucha besuchte zwölf „Mittelpunkte“ Europas und legte dafür über 2000 Kilometer zurück. Er versuchte herauszufinden, was die verschiedenen Orte eint und worin sie sich unterscheiden. Zunächst schien die Aufgabe leicht, doch der Eindruck täuschte: als größte Gemeinsamkeit stellte sich heraus, dass all diese Zentren ihre eigene Definition von „Europa“ haben, die sich von denen der anderen unterscheidet – und genau darin liegt die Schwierigkeit.
 
Erstes Interesse für dieses Thema verspürte Mucha schon vor vielen Jahren, als er zufällig in der Presse las, dass allein in Deutschland dutzende „Mittelpunkte Europas“ existieren. Dem Künstler schien dies eine geeignete Metapher für die vielen unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten des Begriffs „Europa“ zu sein. Und so entstand der Film – eine Mischung aus wissenschaftlicher Studie und Roadmovie. Der Autor sagt, auf dem Weg nach Osten “tauchte“ die Film-Crew regelrecht „ins Zentrum Europas ein“. Welche Art von Zentrum konkret gesucht wurde – politisch, geographisch oder religiös – wollte der Regisseur nicht definieren, um sich selbst in seinem Schaffen nicht einzuschränken.
 
Mucha sagt, er habe die gesuchte Mitte für sich selbst zwar nicht gefunden, doch habe er in der ukrainischen Ortschaft Rachiw einen besonders tiefen emotionalen Kontakt zu den Bewohnern verspürt. Als typische Eigenschaft der Ukrainer nennt der Regisseur Aufrichtigkeit und nüchternen Realismus, sowie die Fähigkeit, die eigene Schwäche einzugestehen. Mucha sieht in dieser letzten Eigenschaft gar eine Quelle der Kraft. In Rachiw beeindruckte ihn zudem dadurch, dass man dort mehrere Sprachen spricht und ohne Schwierigkeiten miteinander vermischt und dass hier zwei verschiedene Zeitrechnungen nebeneinander existieren: die Kiewer Zeit und die europäische.
 
Auffällig war, dass einige humoristische Momente des Films bei einem Teil des Publikums eine gewisse Aggressivität hervorriefen, schienen sie doch negative Klischees in Bezug auf Nationen gewissermaßen zu untermauern. Der Regisseur erklärt hierzu, er habe es sich nicht gestattet, Szenen zu löschen, die bereits abgefilmt waren. Schließlich handele sich um einen Dokumentarfilm, und er habe die Realität, wie sie sich der Crew dargeboten hatte, nicht korrigieren wollen. Obwohl „Die Mitte“ schon im Jahr 2004 entstanden war und einige Teile daraus bereits überholt sind, ist der Film vor dem Hintergrund des weiteren Verlaufs der Geschichte der Ukraine keinesfalls obsolet. Ganz im Gegenteil: heute sehen wir ihn sogar mit geschärfter Aufmerksamkeit.

Die Schluss-Szene des Films ist wahrhaft symbolträchtig: der Autor trifft Schweizer Urlauber, die ein GPS-Gerät besitzen (2004 noch eine Rarität). Gemeinsam versuchen sie, den Mittelpunkt Europas anhand der Koordinaten auszumachen. Mit den letzten Bildern hören wir einen von ihnen sagen „Das ist hier irgendwo in der Nähe“.
 
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